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Restaurantkritik 22.Dezember 2018

Ein Flöckchen mehr Pep

Jeder Fressverrückte kennt sie, diese Sehnsuchtsorte, die man einmal im Leben besucht haben möchte. Oft sind das Klassiker und Institutionen, aber auch moderne Restaurants, bei denen Hype und Qualität Hand in Hand gehen. Manchmal aber kann man sich gar nicht genau erklären, warum es einen zu einem bestimmten Restaurant ganz besonders hinzieht.

Bei uns war das Flocons de Sel schon lange so ein Lokal. Es hat drei Sterne und 19,5 Punkte, okay. Aber auch davon gibt es einige. Die Meinungen geschätzter Kollegen und Freunde über die Küche von Emmanuel Renaut gehen ebenfalls deutlich auseinander. Am Ende war es wohl die ebenso märchenhaft wie unerreichbar anmutende Lage: Das Flocons de Sel befindet sich in den französischen Alpen, knapp über 1.200 Metern, auf einer Anhöhe vor den Toren des schicken Skiorts Megève. Entsprechend entzückend sind die Bilder des Hauses, das eher wie einige große Skihütte aussieht. Mitten im Schnee, direkt am Wald, mit herrlichem Weitblick. Auch der Name "Flocons de Sel" hat in seiner Assoziation von Salz- und Schneeflocke etwas Magisches. Irgendwie hat uns das alles verzaubert, da mussten wir hin.

Unsere Ankunft in Megève ist denn auch tatsächlich märchenhaft. Es hat satt geschneit, die Gegend gleicht einem Winter-Wunderland. Da wir früh dran sind, haben wir für den Mittag einen Tisch im Zweitrestaurant reserviert, dem "Flocons Village" in einer Seitengasse von Megève. Der Laden ist rappelvoll, leger und lebhaft, einige Gäste scheinen direkt von der Piste zu kommen; die Preise sind fair, aber den Verlust des Bib Gourmand können wir nachvollziehen, denn das Essen ist solide, mehr nicht. So bleibt Luft für den Abend ...

Wir wohnen im Ort, und bevor es ins Restaurant geht, folgen wir der Empfehlung, uns am frühen Abend die feierlich-traditionelle Erleuchtung des riesigen Christbaums auf dem Marktplatz von Megève anzuschauen – die Idee hatten allerdings auch andere. Aber gut, in der wartenden Menschenmasse wird uns wenigstens nicht so schnell kalt. Leider verzögert sich der Beginn der Prozedur erheblich, sodass unser Hunger über die Dorftradition siegt. Ab zum Shuttle und rauf ins Restaurant. Mit kalten Füßen und knurrendem Magen kommen wir im Flocons de Sel an, wo uns Kristine Renaut mit überaus warmer Herzlichkeit empfängt. Wir spüren die Freude der aus Deutschland stammenden Hausherrin, Gäste aus der Heimat zu begrüßen.

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Beim kurzen, sehr angenehmen Plausch während des Aperitifs erzählt uns Madame ein wenig zur Historie des Hauses. Ihr Mann (Jahrgang '68) kann auf Stationen unter anderem im Pariser Hôtel de Crillon bei Christian Constant und als Souschef von Marc Veyrat zurückblicken. Klassik und naturnahe Avantgarde, das klingt spannend. 1998 zog das Paar in die Haute-Savoie, woher Renauts Großeltern stammen. 2001 gab es den ersten Stern, 2006 den zweiten, 2012 den dritten. Das wussten wir natürlich. Dann soll er mal schicken ...

Als Aperos und Amuses gibt es (in einer Art Lounge oberhalb des Gastraums) einige Kleinigkeiten. Am besten gefallen uns ein schön heißer, würziger Krapfen und das sehr delikate, aufs Produkt fokussierte Tartelette von Champignons de Motte-Servolex mit Petersiliencoulis. Alle Produkte der Aperos sind deutlich der Region verbunden, ohne dass dies hätte eigens annonciert oder auf ein Schild geschrieben werden müssen. Sehr angenehm.

Dann sitzen wir eine ganze Weile vor leeren Aperitif-Gläsern und wissen nicht recht, ob wir vergessen wurden, oder ob uns jemand zum Gastraum bitten wird. Irgendwann fassen wir uns ein Herz und spazieren ins Restaurant, was prompt zu einer gewissen Hektik beim Service führt. Ein irritierender Start, aber irgendwie auch amüsant.

Das Menü beginnt mit Gnocchi von Pastinaken und Rotkohl in Gemüseconsommé mit Rettich und altem Beaufort (die Scheiben). Diese blutrot leuchtende Kreation ist delikat, leicht und viel milder, als die Zutaten erwarten ließen. Tatsächlich sind die Aromen von Bete und Kohl hier eher flüchtig, schmecken dabei aber fein austariert zwischen Süße und Würze. Die Gnocchi (ohne Mehl zubereitet) schmelzen förmlich am Gaumen. Ein Problem ist die Temperatur: Die Consommé, die der eigentliche Star sein müsste, ist nicht heiß, sondern kaum lauwarm. Das bringt sie um einen Gutteil ihrer aromatischen Wirkung. Schade. Insgesamt ist das alles geschmacklich gut, aber bei weitem kein solches Ausrufezeichen, wie die Signalfarbe vermuten lässt.

Deutlich kraftvoller kommt die Polenta mit Steinpilzen und Haselnüssen daher. Unter einer festeren, beinahe nudelteigigen Polentahaube befindet sich ein Pilz-Duxelles mit gehackten Nüssen. Polenta-Pilze-Nüsse, dieser Dreiklang funktioniert natürlich prächtig, und wie bei den Gnocchi gelingt es Renaut, ein potenziell schweres Gericht überraschend leicht zuzubereiten. Wir löffeln das weg wie nix. Bei aller Güte erschließt sich die Kreation aber sehr schnell, und das Geschmacksbild bleibt recht rustikal. Trotzdem recht gut.

Gespannt sind wir auf die Schwarzwurzel-Spaghetti mit mild geräuchertem Lardo und fein gehacktem Périgord-Trüffel (kein Foto) – ein Klassiker des Hauses und eine außergewöhnlich klingende Kreation. Wir sind große Fans von Schwarzwurzel, einem viel zu selten verwendeten Gemüse. Allerdings finden wir die "Spaghetti" hier deutlich zu "al dente", stellenweise erscheinen sie uns nahezu roh. Auch ist dieses Gericht eher auf der lauwarmen Seite. Zwar erweist sich die Kombination von feinherber, leicht säuerlicher Schwarzwurzel und erdiger Trüffel als geschmacklich ziemlich großartig, aber durch die an Rohkost erinnernde Zubereitung ohne nennenswerte Sauce (und mit wenig Hitze) schmeckt es etwas trocken und eher interessant als köstlich. Oder anders gesagt: Die Kreation bleibt unter ihrem Potenzial. Dieses Fazit trifft im Grunde auf alle bisherigen Gänge zu, was uns doch etwas, sagen wir: nachdenklich macht.

Etwas überrascht sind wir vom nächsten Gang, einem Tatar von Kaisergranat mit Caviar sélection - denn das Meer ist ja doch ziemlich weit weg, und die Küche gibt sich eigentlich regionalistisch (das Menü heißt "Spaziergang durch Leutaz"). Nun denn, wir betrachten die Luxusprodukte als Zugeständnis an den Michelin, ähnlich der Auster im La Bouitte. Renaut würzt Tatar und Kaviar mit Gel von Pampelmuse und Enzian, Zitruszesten und Petersiliensaft. Was können wir sagen ... Es schmeckt schlimm. Vor allem die Pampelmuse und der Enzian bringen medizinische, bitter-saure Noten ein, die mit ihrer adstringierenden Wucht alles andere überlagern. Nicht nur das: Zusammen mit der salzigen Jodigkeit des Kaviars schmeckt es regelrecht unangenehm. Das recht neutrale Tatar spielt da höchstens noch eine texturelle Rolle. Es muss aber Fans dieser Kreation geben, denn sie steht seit Jahren auf der Karte. Wir hingegen verweisen zum Vergleich auf Christoph Rüffer im Haerlin, der sich für ein Rindertatar scheinbar von Renauts Gericht inspirieren ließ. Nur schmeckt uns seine Version um ein Vielfaches besser.

Nach diesem Tiefpunkt geht es glücklicherweise steil bergauf. Mit der gerösteten Kardone serviert Renaut uns ein Produkt, das wir noch nie auf dem Teller hatten. Kardone (auch: Cardy) ist ein Blattstielgemüse aus der Familie der Artischocken. Es kommt aus der Genfer Gegend und wurde als bisher einziges Gemüse der Schweiz ins AOC-Register (Appellation d'Origine Contrôlée) eingetragen. Renaut serviert es ganz simpel geröstet, nur mit etwas eigenem Bratsaft. Und wie ungemein köstlich das schmeckt! Die Kardone ist weich und hat trotzdem etwas Biss. Sie schmeckt würzig, leicht herb, leicht bitter, ein bisschen nach einer Mischung aus Artischocke und Bleichsellerie. Einen radikaleren Produktpurismus haben wir selten erlebt. Und nur weil hier wirklich nicht viel Kochkunst im Spiel ist, rufen wir keine Götterspeise aus. Eine Offenbarung ist es auf seine Weise trotzdem.

Deutlich aufwändiger wird es beim Seehecht-Biskuit mit Sauce von gerösteten Zwiebeln, Tapioka und Knusperbällchen von Weizenmehl und Buchweizenmehl. Der Hecht wird hierfür mit Quappe (ein Süßwasserfisch), Butter, Sahne, Eiern und Flusskrebs-Bisque zu einer Art Teig verarbeitet und gedämpft. Die Tranchen der gestockten Masse werden mit einer krossen Biskuitscheibe belegt, drumherum die heiße Röstzwiebelsauce, in der sich etwas Zwiebeltapioka versteckt; obenauf die Mehlperlen. Auch diese Kreation ist ein Klassiker des Hauses – zu Recht, denn sie schmeckt exzellent. Der Fischflan leistet am Gaumen den idealen Widerstand, bevor er weich und buttrig zergeht; der Schmelz ist so herrlich wie der volle Geschmack. Durch die Röstzwiebelsauce tanzt das Umami am Gaumen, Knusprigkeit gibt es als Bonus obenauf. "Süffig" ist hier das Adjektiv der Wahl. Im Grunde ist dieser Teller eine Drei-Sterne-Variation des Lyoner Klassikers Hechtklößchen. Große Klasse. Endlich!

Als Hauptgang gibt es Rehrücken mit rotem Pfeffer, Heidelbeer-Schalottenpüree, Trüffel-Tartelette, Kartoffeln und Sauce Grand Veneur. Das Fleisch ist ein Hochgenuss, keine Frage. Man sieht den rosigen Tranchen ihre Qualität bereits an – und welch eine Wohltat, ein ganz klassisch gebratenes Stück Fleisch zu essen, mit ordentlich Röstaromen, ohne die fiese, zwischen Weichgummi und Leber changierende Sousvide-Textur. Der rote Pfeffer kitzelt die Zunge fruchtig-scharf, das Püree balanciert zwischen dezenter Beerensüße und der ätherischen Schärfe von Schalotten. Die Tartelette sind gut, wirken aber ein wenig wie Satelliten aus einem anderen Universum. Auch die leicht röschen Kartoffeln fügen sich nicht recht ins Bild und dienen uns in erster Linie zum Saucentransport (die Sauce wurde nach dem Foto angegossen). In Summe ist das ein schöner, klassischer Hauptgang, der ein wenig in seine Einzelteile zerfällt, aber mit bemerkenswert hervorragendem Fleisch punktet. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.

Den Käsewagen mit einigen regionalen Sorten lassen wir nicht unangetastet vorüberziehen. Eine kleine Selektion geht schon noch rein, jede Sorte ein Genuss, das müssen wir eigentlich nicht groß betonen, oder?

Bei den Desserts fahren wir zweigleisig: Für einen von uns gibt es ein Soufflé von Enzianwurzel und Zitronen aus Menton, mit Crème Anglaise mit Enzian. Das Teil ist riesig! Und es ist gut, richtig gut. Fluffig in der Konsistenz, angenehm säuerlich und frisch im Geschmack – im Kern zwar auch eher schaumig als fest, aber hier funktioniert das gut. Ein Soufflé wie es sein soll. Nur eben viel zu groß, die Hälfte bleibt leider stehen.

Das alternative Dessert besteht aus Meringue, Faiselle und Chicorée. Was zunächst wie ausgestochner Bauschaum anmutet, entpuppt sich als eine der zartesten Meringue-Hülle aller Zeiten. Darin verbirgt sich eine wolkengleiche Mousse auf Basis von Faiselle, einer französischen Frischkäsespezialität, leicht aromatisiert mit Süßholz. Das ist alles so fein und leicht und frisch – als würde man an einem verschneiten Wintertag die eiskalt dampfende Morgenluft inhalieren. Man will den Effekt bewahren, den Geschmack am Gaumen festhalten, aber gerade wenn es am schönsten ist, hat sich das Aroma schon wieder verflüchtigt. Wie ein Traum.
Aber Moment, dazu gibt es ja noch einen Salat aus Chicoree und Kräutern, leicht süß angemacht - eine kongeniale Idee, denn die Bitteraromen verlängern auf wundersame Weise auch den Geschmack der Mousse. Zusammen ist das ein außergewöhnliches und ganz hervorragendes Dessert – und dabei immer noch bemerkenswert simpel. Hier macht sich bemerkbar, dass Renaut auch eine Weiterbildung zum Pâtissier absolvierte.

Vielleicht hat der Service unsere Begeisterung in die Küche weitergegeben, denn überraschend wird uns einige Minuten später noch ein Dessert serviert: lauwarme Tarte von geräucherter Schokolade mit geeister Crème von Holz und geräucherter Milch. Aber manchmal ist mehr leider weniger ... Denn dieses Dessert hat das Zeug, den tollen Eindruck der beiden vorherigen Süßspeisen komplett hinwegzufegen. Der Grund dafür lässt sich auf einen einzigen Begriff herunterbrechen: geräuchert. Es schmeckt alles einfach nur geräuchert. Als hätte man einen Schwarzwälder Schinken in ein Schokodessert verwandelt. Der Räucher-Allergiker am Tisch kapituliert bereits nach dem zweiten Löffel. Aber auch der weniger empfindliche Sternefresser hat nicht wirklich Freude. Das ist sehr schade, aber auch für diese Rauchbombe scheint es Fans zu geben, denn sie ist (einmal mehr) ein Klassiker des Hauses.

Die sehr guten Mignardises zum Kaffee versöhnen uns dann wieder mit der Pâtisserie des Hauses.

Um sprachbildlich in der Landschaft zu bleiben: Das war eine Berg- und Talfahrt. Wobei es erst zum Schluss zu den schönsten Gipfeln ging. Oder um es direkter zu sagen: Wir haben deutlich mehr erwartet. Damit meinen wir gar nicht komplexere oder aufwändigere Speisen, und schon gar nicht eine verspieltere Anrichte – das alles hat uns im nahen La Bouitte und im Clos des Sens auch nicht gefehlt. Es hat uns vieles einfach nicht so gut geschmeckt, wie wir es bei einem Restaurant dieser Güte erwarten. Einige Gerichte, gerade auch Klassiker wie die Polenta und die Spaghetti, wirkten wie nicht ganz zu Ende gedacht. Bei anderen Tellern war es schlichtweg ein sehr unangenehmer Missgeschmack (Kaviar mit Enzian, Schokodessert).

Am besten gefielen uns die süffigeren Speisen, der Hecht in Zwiebeljus und die gaumenschmeichelnde Kardone – schlüssige, runde Kreationen, mal originell, mal einfach. Und natürlich das Meringe-Chicroree-Dessert, an dem so mancher "Kreativ"-Pâtissier sich ein Beispiel nehmen sollte. Das waren Momente, in denen ganz lässig jene Genialität aufblitzte, die uns bei den anderen Kreationen zu gewollt erschien.

Dazu passt dann auf eigentümliche Weise auch das Ambiente des Lokals: Trotz des sehr vielen Holzes und einer durchaus geschmackvollen Gestaltung empfanden wir die Atmosphäre als nicht recht gemütlich. Mit den sehr hohen Räumen, der hellen Ausleuchtung und einer Kuckucksuhr-Sammlung an der Wand, die einer Rauminstallation gleicht, fühlten wir uns fast wie in einer modernistischen Galerie. Man merkt, dass im Flocons de Sel auf jeder Ebene viel Mühe, Liebe und Geschmack investiert wurde, aber so richtig rund ist es für uns nicht. Ausgesprochen schön finden wir allerdings die Idee, in der Herrentoilette ein großes Fenster zu installieren, mit Blick in den beeindruckenden Chartreuse-Keller. Das ist lustig und originell. (Notabene: Ein Glas des 1903ers gibt's für lockere 750,- €)

So marschieren wir spätabends durchs verschneite Megève und sind noch immer etwas ratlos, wie wir das Erlebte einordnen sollen. In den Gassen ist keine Menschenseele mehr unterwegs. Der riesige Christbaum auf dem Dorfplatz wurde auch schon wieder ausgeschaltet. Unsere Ferienwohnung liegt gleich ums Eck, also ab nach Hause. Aber Moment, da hinten leuchtet das Schild einer Kellerbar. Ganz gedämpft ist Live-Musik zu hören. Wir zögern kurz. Da fängt es wieder an zu schneien ...

Fazit

Eher genialisch als genial: Die Küche im Flocons de Sel zeigt in einigen Details das Potenzial zu wahrer Größe, lässt für uns aber schiere Köstlichkeit vermissen.

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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