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Restaurantkritik 15.August 2018

Blickwinkelkonzentration

Seit nunmehr 16 Jahren ist der Essener Christoph Rüffer das kulinarische Aushängeschild des Restaurants Haerlin im Fairmont Vier Jahreszeiten in Hamburg. Nach Wanderjahren, die ihn unter anderem zu Claus-Peter Lumpp ins Bareiss sowie in die Schwarzwaldstube zu Harald Wohlfahrt führten, erkochte er 1999 im Fährhaus Munkmarsch auf Sylt seinen ersten Stern, bevor er 2002 nach Hamburg übersiedelte, um Küchenchef des Haerlin zu werden. Seit Rüffer das Küchenzepter des nach dem Gründer des Hotels Vier Jahreszeiten Friedrich Haerlin benannten Restaurants übernommen hat, hat er zusammen mit seinem Souschef Tobias Günther das Restaurant an die nationale Spitze gekocht. Zwei Michelin Sterne und 19 Gault Millau Punkte leuchten mittlerweile über dem Vorzeigebetrieb am Neuen Jungfernstieg.

Unser letzter Bericht liegt fast drei Jahre zurück. Die größte Veränderung in dieser Zeit war natürlich der Abgang von Pâtissier extraordinaire Christian Hümbs, den es nach München zu seinem Buddy Jan Hartwig zog, wo sich die beiden im Atelier mittlerweile drei Sterne ans Revers heften durften. Ansonsten ist im Haerlin erfreulicherweise so ziemlich alles beim Alten. Bei unserer Ankunft ist das Restaurant bereits in schummriges Licht getaucht, die hellen Crème- und Grüntöne des durchaus pompösen, dabei aber geschmackvollen Interieurs lassen sich nur noch erahnen. Von unserem Tisch aus können wir das rege Treiben im Lokal beobachten, nur das Menü, das direkt vor uns liegt, können wir kaum entziffern. Kurz die Stehlampe neben den vier Nymphenburger Porzellanputten rangerückt, damit wir zunächst lesen und später sehen können, was uns serviert wird – dann kann es losgehen...

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Als erstes erreicht uns eine bunte Krabbentarte. Ein knuspriger Filoteig ist bestückt mit marinierten Büsumer Krabben, einer Krabbencrème, knuspriger Krabbenschale, bunten Blüten sowie eingelegten Zwiebeln und Apfel. Das kleine Gebilde ist eigentlich zu groß, um es in einem Bissen zu verschlingen, doch wir wollen nicht riskieren, den Tisch (oder uns selbst) vollzusauen. Darum Mund auf und ab dafür. Was folgt, lässt sich am besten als sensorischer Orgasmus beschreiben. Die fantastischen Produkte verströmen ein unglaublich delikates Konglomerat von Aromen. Perfekt temperiert und optimal proportioniert lässt uns dieser Happen mit geschlossenen Augen in andächtiger Ruhe schwelgen. Das sind drei Sterne. Punkt.

Der Ostseeaal mit Anisbaiser folgt auf dem Fuße und setzt die Großartigkeit nahtlos fort. Dieser typisch fleischige, leicht fettige Aalgeschmack funktioniert in Kombination mit dem von vielen verschmähten, betörend ätherischen Anisduft prächtig. Sojasauce betont die Salzigkeit, während der Meerrettich für belebende Schärfe sorgt. Gleich das nächste Ausrufezeichen.

Da kann die Gurke mit Seeigel und Joghurt nicht mithalten. Die Kombination von frisch-grüner Gurke mit den süßlich-jodigen Uni von den Färöer-Inseln und der leichten Säure und Cremigkeit des Joghurts wäre an und für sich stimmig, jedoch passen die Proportionen hier überhaupt nicht. Nachdem wir einen Löffel mit allen Seeigelzungen gebastelt haben, bleibt mehr als die Hälfte des Tässchens noch voll mit den Resten. Hier kann man mit etwas Optimierung mehr rausholen.

Hochelegant ist das Rindertatar auf "Russische Art", dessen Anrichteweise (Tatar, Kaviar, Gel) uns in letzter Zeit häufiger mal begegnet, u.a. im Flocons de Sel. Doch im direkten Vergleich zum französischen Äquivalent passt hier alles. Das nicht zu klein geschnittene Fleisch ist optimal temperiert, der Kaviar darauf üppig portioniert. Doch der Clou ist das Zusammenspiel der kühlen Sour-Cream-Perlen und der am Tisch angegossenen, warmen Rote-Bete-Sauce mit den beiden Hauptprotagonisten. Die Verbindung vom angenehm kräftig abgeschmecktem Rind mit der Salzigkeit des Kaviars, der kalten Säure der Crème und des Zitrusgels sowie der warmen, erdigen Süße der Bete ist nichts weniger als phänomenal. Wenn eine Küche aus einem derart ausgelutschten Klassiker ein solch großartiges Gericht zaubern kann, begeistert uns das!

Da unser Besuch genau auf den Saisonwechsel fällt, schicken Rüffer und sein Souschef Tobias Günther noch einen Ausläufer des Wintermenüs. Jakobsmuschel, Foie gras und Trüffel kommen beim hübsch in Fischschuppenoptik angerichteten Teller zum Einsatz – eine bewährte Kombination, die auch in diesem Fall bestens funktioniert. Dünn aufgeschnittene, roh marinierte St. Jacques, rohe Leber und dicke Trüffelscheiben werden mit einer warmen Trüffelvinaigrette vollendet. Da brauchen wir die Selleriecrème eigentlich gar nicht mehr. Auch weil dazu ganz klassisch noch eine Brioche gereicht wird. Geschmacklich kann natürlich wenig bis gar nichts schiefgehen, wenn sowohl die Produkte von höchster Qualität sind als auch tadelloses Handwerk gezeigt wird. Das ist sicherlich kein unvergessliches Gericht, aber ein grundsolider Luxus-Wohlfühlteller.

Weiter geht's mit einer pochierten Gillardeau-Auster, grünen Erbsen und geröstetem Zwiebelsaft im Teller sowie daneben im Schälchen etwas roher Auster mit einem Erbsengranité. Schon nach der ersten Gabel ist klar: Das ist ein absoluter Knaller! Die wunderbar saftige, nur leicht jodige, nach einer kühlenden Gischt an einem heißen Sommertag schmeckende Molluske wird von den knackigen, süßen Erbsen (roh und als Schaum) und von der ebenfalls dezent lieblichen, kräftigen, dabei hocheleganten Zwiebeljus kongenial umspielt. Dazu kommt eine herzhafte Nocke von Kaviar, die mehr Meer und Salzigkeit beisteuert und diesen Teller so perfekt abrundet. Und obwohl der Hauptteller so gut ist, funktioniert sogar die à part gereichte Petitesse wunderbar in diesem Kontext, da sie auf ein komplett anderes, kühles und erfrischendes Geschmacksbild setzt. Ein umwerfend guter Gang.

Der Island-Kabeljau mit Safran und Meeraromen ist aromatisch zwar zurückhaltender als sein Vorgänger, steht ihm aber qualitativ in nichts nach. Das Zauberwort hier ist "subtil". Dieser Teller buhlt nicht mit plakativen Aromen um die Gunst unserer Gaumen, sondern will regelrecht erkundet werden. Angefangen beim erstaunlich charaktervollen Fisch, der von dezenten Röstaromen profitiert und flankiert wird von allerlei Muscheln, Algen und Meerfenchel, die gemeinsam sofort das Kopfkino anwerfen und uns kurz aus dem Haerlin an die See entschwinden lassen. Zurückgeholt werden wir vom ultra-leichten Safran-Muschel-Sud, der so zurückhaltend mit den getrockneten Griffeln des Krokusses gewürzt ist, dass der Duft fast schon flüchtig ist. Das könnte man negativ auslegen, doch da Safran gerne mal eine etwas penetrante Note über den Gaumen legt, wenn zu viel davon verwendet wird, attestieren wir der Küche: Alles richtig gemacht.

Als Antipode zum genauem Hinschmecken von eben erweist sich nun das Angler Sattelschwein mit Parmesan-Trüffel-Schaum und Artischockensalat. Erkunden muss man hier nichts, sondern – salopp ausgedrückt – einfach reinhauen. Klar, bei dem saftigen, soufflierten Nackenstück des Schweinchens, dem umami-geladenen Schaum mit reichlich erdigen Trüffeln mit Parmesan und dem bitteren, alles lebendig auflockernden Salat. Ein Crowdpleaser erster Güteklasse, der gerade wegen seines scheinbar simplen Geschmacksbildes komplett zu überzeugen weiß. Man kann schließlich nicht jeden Gang für den Kopf konzipieren. Zwischendurch muss auch mal etwas auf dem Tisch landen, das man mit breitem Grinsen verschlingen kann.

In ähnlichem Fahrwasser bewegt sich der Hauptgang – obwohl hier das innere Auge zusätzlich auch wieder aktiviert wird. Beim ersten Bissen des Limousine-Lamms mit Bärlauch und gratinierter Zwiebeltarte fühlen wir uns nämlich augenblicklich in die Provence versetzt. Eine kleine Cabane zwischen den Olivenhainen, die Zuflucht bietet vor der brütenden Hitze und ein alter Steingutgrill, auf dem wir in aller Ruhe unser Lamm grillen. Für solche Momente und Bilder, die einen alles um sich herum vergessen lassen, gehen wir fressen! Hier noch weitere Worte über Gargrad oder Würzung zu verlieren, ist eigentlich unnötig – auch wenn wir die doch grenzwertig labberige Zwiebeltarte nicht unterschlagen wollen. Wir lassen sie einfach weg und schon stimmt das Gericht wieder.

Sesam mit geeister Litschi und Passionsfrucht verschafft unseren Papillen einen sanften Übergang von salzig zu süß. Zwar ist die Litschi naturgemäß sehr zuckerig, doch die prägnante Säure der Maracuja und die nussigen Toastnoten des Sesams halten dagegen. Schön.

Das Hauptdessert, Schokoladen-Kaffeeganache mit Haselnuss, Blaubeeren und Lavendel, besticht zuerst mal durch seine hübsche und einladende Optik, die in uns das Bedürfnis weckt, gleich richtig einzutauchen. Schon beim ersten Bissen sind wir beeindruckt von der fantastischen Balance des Tellers. Die Cru-Virunga-Schokolade aus dem Kongo, die Nuss und die Beeren sind ein natürliches Triumvirat, das fast garantiert gut schmeckt. Doch uns hat es vor allem der Lavendel angetan, den wir bei falschem bzw. übermäßigem Einsatz nicht wirklich mögen, da sein penetranter Badezimmer-Potpourri-Duft schnell alles überlagern kann. Hier ist er wirklich wunderbar eingebunden. Nicht nur das, er macht aus einem aromatisch guten, aber nicht sehr spannenden Dessert einen richtig tollen Menüabschluss. Obwohl Pâtissière Steffi Schmeichel nie mit Christian Hümbs zusammengerarbeitet hat, spüren wir hier den Geist des Meisters.

Diverse gelungene Petits Fours blasen die kulinarischen Kerzen des Abends nun endgültig aus: "Sweets for my Sweet" – Kokos-Zitronengras-Praline, Yuzu-Schaumkuss, Banane-Kardamom-Praline, Matchatee-Macaron, Salzkaramell-Lakritz-Praline, Profiterol mit Waldmeister, Tonkabohnen-Passionsfrucht-Praline und Earl-Grey-Macaron.

Was für ein starkes Menü! Bei unserem letzten (privaten) Besuch ließ uns die Mannschaft um Christoph Rüffer teilweise etwas ratlos zurück. Es ging auf und ab, einige Gerichte wirkten überladen und nicht zu Ende gedacht. Ganz anders heute. Angefangen beim ersten Snack bis zu den Petits Fours war nahezu alles schlüssig durchkomponiert. Nichts lenkte vom Genuss ab oder störte auf den Tellern. Neben Kassenschlagern wie der bunten Krabbentarte und dem Kabeljau überzeugten selbst vermeintlich "langweilige" Gerichte wie das Lamm im Hauptgang. Und zwar aus drei ganz simplen Gründen: tolle Produkte, akkurates Handwerk, Fokus aufs Wesentliche. Neben den überraschenden, unerwarteten Highlights sind das die schönsten Momente unserer Fresskarriere – wenn wir von etwas scheinbar Banalem und schon Tausend Mal Gegessenem aus den Stühlen geblasen werden. Das ist heute Abend mehrere Male passiert, und das Team hat gezeigt, dass bei fokussiertem Werkeln durchaus höhere Weihen denkbar sind.

Man sieht es Sommelier Marcel Ribis (links) und Maître Thomas Andrew an: So ganz einverstanden sind die beiden mit unserer Motivwahl inmitten etlicher Weinflasche nicht. In professionellen Kreisen nennt sich so etwas anscheinend "Nachverkostung" – wir nennen es "Feierabendbesäufnis" ;) 

Während des Services lieferte das Team um die beiden eine souveräne und makelose Vorstellung ab. Die beiden Protagonisten sind hervorragend aufeinander eingeschossen, frotzeln sich gerne auch mal, die Mitarbeiter sind kompetent und stets mit einer Prise Humor unterwegs. Für uns definitiv die Service-Spitze in Hamburg und eine der besten Weinbegleitungen der letzen Monate.

FAZIT

Das Haerlin-Team zeigt eindrucksvoll, dass es zu den besten der Republik zählt, wenn es sich auf seine Stärken besinnt. Schlüssige und reduzierte(re) Kompositionen, getragen von tollen Produkten und exzellentem Handwerk.

Nachtrag: Noch immer existiert die Legende, dass bei korrekter und gleichzeitiger Drehung der Nymphenburger Porzellanputten in der hinteren linken Ecke des Restaurants die Binnenalster abgelassen wird und das Bernsteinzimmer zutage tritt. Aufgrund der regen Service-Aktivitäten neben unserem Tisch konnten wir dies leider nicht überprüfen.

Fragen an den Suffmeister (a.k.a. Sommelier) Marcel Ribis

1. Anzahl der Positionen?
Ca. 950 Positionen

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Dem 'Vier Jahreszeiten' entsprechend eine große Auswahl an Burgund und Bordeaux.

3. Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
Preiswerteste: Unsere 'Hotel Vier Jahreszeiten'-Cuvèe von Wittmann aus Rheinhessen für 33€.
Der Teuerste: 1936 Château d‘Yquem für 6900€.

4. Die ungewöhnlichste Rarität?
Wir haben einen 1897 Château Cos d‘ Estournel mit einem Vier Jahreszeiten-Logo aus der Zeit, als das Hotel noch als Weinhändler tätig war.

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Das ist der Alvarinho von Quinta de Soalheiro aus Portugal

6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Die Weine von Milan Nestarec aus Tschechien.

7. Ihr Lieblingswein? Weshalb? 
Das ändert sich häufig. Zur Zeit trinke ich aber sehr gerne Alain Voge. 

8. Der ungewöhnlichste vinophile Wunsch eines Gastes?
Neulich wünschte sich jemand einen Wein, der nach so wenig wie möglich schmecken sollte.

Weine

Die Weinbegleitung im Hamburger Haerlin von Marcel Ribis

Krug 2002 Vintage, Champagne 

Domaine La Tour Vieille Banyuls Reserve, Collioure

1996 Weingüter Wegeler Riesling Auslese Geisenheimer Rothenberg, Rheingau

2016 Enviante Táganan Blanco Cuveé, Teneriffa

2013 Domaine de L'Arlot Nuits Saint Georges Blanc 1er Cru Clos de L'Arlot, Burgund 

1997 Clos L'Eglise, Pomerol 

2002 Domaine Sigalas Vinsanto, Santorini Griechenland

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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