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Restaurantkritik 13.Februar 2019

Starke Stücke!

Im Jahr 2003 veröffentlichte Lothar Eiermann gemeinsam mit dem begnadeten Satiriker Gerhart Polt ein außergewöhnliches Kochbuch: "Starke Stücke. Oder: Der ganze Geschmack". Wie der Titel andeutet, handelte es sich um eine Hommage an die Zubereitung großer Fleischteile und ganzer Tiere, vom Zander über den Ochsenrücken bis zum Landschwein am Spieß. Seither ließ uns diese bisweilen archaisch anmutende Idee der Am-Stück-Zubereitung nicht mehr los – gerade auch, weil es sich um eine immer seltener zelebrierte Kunst handelt.

Sehr vereinzelt konnten wir diese Obsession ausleben, etwa bei einer köstlichen Kalbshaxe im Frankfurter Restaurant Français oder bei der Bresse-Poularde im Pariser Epicure. Den bisherigen Höhepunkt bildete ein Besuch im Königshof 2017, wo Martin Fauster uns auf Vorbestellung ein ganzes Menü mit "starken Stücken" zubereitete. Das war so unvergesslich, dass es nach Wiederholung schrie – aber wo? Eine rein rhetorische Frage, denn die Antwort bildet ja der vorliegende Bericht: bei Torsten Michel in der Schwarzwaldstube.

Ein Wort zur Genese des folgenden Menüs: Torsten Michel (5.v.l.) erklärte sich freundlicherweise bereit, einige "Großgerichte" für uns zusammenzustellen, teils mit Klassikern seiner Karte, teils mit neuen Kreationen, die vielleicht noch ihren Weg aufs Menü finden würden. Beim Lesen des opulenten Speisenreigens wurde uns zunächst etwas bange – wer soll das alles essen? Aber unsere Sorgen waren schnell zerstreut. Michel versicherte uns, dass die Reste einer sinnvollen Verwertung zugeführt würden ... Also dann los!

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Ein paar Apéro-Happen müssen natürlich sein: Es gibt Krabbenbrotchip mit Tatar von wilden Garnelen, Krustentiergelee und Passionsfrucht, ein Leinsamenknusper mit Schwarzwälder Lammschinken, milder Currycrème und Radieschen und ein Carpaccio und Tatar vom schottischen Lachs mit eingelegter Gartengurke und Dill. Das ist alles sehr fein gearbeitet und gut durchdacht. Beim Lachs ist der Chip vielleicht etwas zu präsent, doch besonders der Lammschinken mit Leinsamen gefällt uns sehr gut durch die Balance aus Deftigkeit und Finesse.

Als Amuse bekommen wir eine Variation von getrockneten Tomaten mit angemachtem Couscous und Staudensellerie mit Estragon. Das schmeckt schlichtweg grandios: leicht und frisch, aber trotzdem mit einem reichen Geschmack vom Tomaten-Umami und einer gaumenschmeichelnden Dichte vom exzellent gewürzten Couscous. Die Mischung aus süditalienischen und nordafrikanischen Aromen erinnert uns an die Küche im sizilianischen Trapani, wo der Einfluss des nahen Marokko sich nicht zuletzt in der Kunst der Couscous-Zubereitung niederschlägt. Wunderbar.

Nun beginnt das Menü, mit einer Annäherung ans Tagesthema: Salat von Kalbskopf, -zunge und -bries mit knusprigen Kalbsfüßen und -ohren, pikanter Senfcrème und Trüffelvinaigrette. Dieser Teller gehört zu den besten Nose-to-Tail-Kreationen, die wir je verkosten durften. Das Kalb ist knusprig und schmelzend, weich und fest, saftig-fleischig und gelatinös. Oder anders gesagt: Die aromatischen und texturellen Eigenheiten der diversen Stücke werden meisterhaft herausgearbeitet. Dazu die elegante Erdigkeit des Trüffels und die schärfende Würze des Senfs als umschmeichelnd-verbindende Elemente. Das ist ein Teller, in den wir uns mit Lust hineinarbeiten, weil mit jedem Bissen eine andere Geschmackswelt aufgeht. Wow.

Danach wird uns die im Salzteig gebackene Entenleber präsentiert. Was für ein Prachtstück! (Diesen Ausdruck werden wir an diesem Tag noch öfter gebrauchen ...)

Auf unsere Teller kommen aber nur zwei Scheiben der Entenleber mit Thymian und konfierter Zitrone, jungen Navetten, Palmherzcoulis und Geflügeljus mit Passionsfrucht. Das klingt erstmal sehr fruchtsüß. Ist es jedoch nicht. Vielmehr fächert Michel hier ein komplexes Aromenspektrum auf, zwischen fruchtiger Bitterkeit, Umami-Power vom Geflügeljus und dem wohligen Geschmack der nach Thymian duftenden Leber – die durch das Backen im Salzteig eine perfekte, ganz leicht knackige Textur bekommen hat. Dazwischen sorgen die mit Vanille glasierten Navetten für Biss und feine Exotik. Alles greift hier bestens ineinander, und es schmeckt so köstlich, dass wir fast einen Nachschlag ordern wollen. Wir sind dann aber doch, nun ja, vernünftig ...

Auch der kleine Steinbutt wird vor dem Servieren präsentiert.

Die Tranche vom Steinbutt mit Kaviar, gefüllt mit kurz pochierten Gillardeau-Austern, erinnert uns an ein konzeptionell fast identisches Gericht bei Guy Savoy. Nur dass dort (in der Menü-Version) der Kaviar fehlte und vor allem das Gericht (bewusst) kalt serviert wurde. Besonders gut geschmeckt hat es uns deshalb leider nicht. Insofern ist Michels Variante das genaue Gegenteil, denn sie mundet wundervoll. Saftiger, heißer Fisch, leicht bissfeste Austernstücke (perfekt dosiert!) und vor allem die salzig-jodige Meeresbrise vom Kaviar machen aus diesem Teller ein fürwahr königliches Vergnügen. Nicht zu vergessen die leichte Austernnage mit Champagneressig, die das Ganze mit einem eleganten Säurespiel untermalt und die wir natürlich nachordern. Ein perfekter klassischer Fischgang.

Am Tisch wird der gebratene Wolfsbarsch mit Ricard flambiert, filetiert...

... und mit glasierter Gartengurke sowie Rotweinsauce mit Senfsaat und Dill angerichtet. Die krachend-krosse Fischhaut spricht für sich. Das Fleisch des Wolfsbarschs ist saftig und geschmacksstark - passt also bestens zur Sauce, deren Intensität durchaus an die Grenzen geht. Senf und Dill machen sie zu einer eher rustikalen Kreation, was dem süffigen Wohlgeschmack durchaus nicht abträglich ist. In Summe ist dieser Gang nicht so stark und spannend wie alles vorhergegangene, jedoch immer noch sehr gut.

Als kleinen Einschub von der normalen Menükarte gibt es nun Rotbarbe mit geschwenkten Artischocken und krossen Artischockenchips in leichtem Sud von geschmortem Gemüse. Wir sind große Fans der Rotbarbe, mit ihrem ganz eigenen, elegant-intensiven Geschmack und ihrem zarten Fleisch. Michel (bzw. sein Poissonnier) brät die Filets kross an und setzt sie in einen Sud, den als "leicht" zu bezeichnen gleichwohl eine Frivolität ist: Er ist ungemein duftig, schmeckt intensiv und dicht, ein komplexes Gemisch aus bestem Fond und Schmorgemüse (nicht zuletzt Paprika). Obenauf knusprige, überraschend milde Artischockenchips. Die leicht gerösteten Artischockenherzen von allerbester Güte komplettieren diesen Gaumentrip an die Côte d'Azur.

Wobei – das Wichtigste hätten wir fast vergessen: Im separaten Schälchen (oben rechts) verbirgt sich eine Crème von Rotbarbenleber mit Basilikumschaum. Sieht unauffällig (und unwichtig) aus, bildet aber den Clou dieser Kreation. Die Crème ist von einer atemberaubenden Intensität. Auch bei uns dauert es einen Moment, bis die Papillen justiert sind. Dann geht hinter der zunächst brachial wirkenden Jodigkeit eine ungeheuer vielschichtige Geschmackswelt auf, gerade auch durch die zähmende Wirkung des Basilikumschaums. Kleine Mengen dieses Gemischs zur Rotbarbe ergeben ein Geschmackserlebnis, das wir so noch nicht kannten. Das ist der Stoff, aus dem die Götterspeisen sind.

Als Hauptgang lässt Michel einen Klassiker der Schwarzwaldstube auffahren: Poularde aus der Dombes, im Römertopf gegart und in zwei Gängen serviert.

Gang Eins präsentiert die glasierte Brust mit grünen Spargelspitzen und Geflügeljus mit gehackten Trüffeln. Sieht prächtig aus ... doch schon der erste Bissen zeigt: Dieser Vogel war zu lange im Ofen. Die trockene Festigkeit wird an den dickeren Stellen etwas besser, aber nirgends perfekt. Mit reichlich Jus – der ist à-la-bonheur – geht es, richtige Freude stellt sich jedoch nicht ein. Wir merken unsere Kritik natürlich an, und hoffen auf Teil 2 ...

... der die Sache leider nicht rausreißt. Das hat vor allem einen Grund: Die gezupfte Keule auf Geflügelleberflan und leicht gelierter Waldpilzpilzbouillon ist kalt. Und zwar nicht kalt, weil sie zu lange am Pass stand, sondern kalt als Konzept. Das funktioniert leider überhaupt nicht. Kaltes Hühnchenfleisch auf kaltem Pilzbouillon-Gelee ist einfach kein Genuss. Der hilft auch der Trüffel nix, er verstärkt eher noch den strengen Grundgeschmack. Zum Glück kommt ja noch was, ...

... nämlich die Ballotine vom jungen Milchzicklein aus den Pyrenäen.

Serviert wird das gerollte Zicklein mit Sommersteinpilzen und Basilikumsauce. Eine klassische, durchaus aufwändige Bratenart als Abschluss – das passt. Das Fleisch vom Zicklein hat durchaus Biss, aber eben nicht von der zähen Sorte, sondern von jenem angenehmen Widerstand, dessen Reiz man bei all der zahnlosen Wagyu-Zartheit fast vergessen hat. Dazu einmal mehr eine exzellente Sauce und ein paar geröstete Steinpilze bester Qualität, fertig. Wir sagen es immer wieder gerne: Solche Gerichte haben ihren Platz in den besten Häusern, wenn sie denn auch bestens gemacht sind.

Etwas Käse vom Wagen gefällig? Für uns heute nicht – schweren Herzens ob dieser grandiosen Auswahl von Maître David Breuer, der durchaus erstaunt wieder wegfährt.

Auch das erste Dessert (bei unserem Besuch noch unter Pierre Lingelser gefertigt) folgt dem Motto des Tages: eine riesige Île Flottante, flankiert von den vorbereiteten Tellern, denn das gute Stück wird am Tisch tranchiert.

Angerichtet sieht das so aus: Île Flottante mit weißem Pfirsich, Himbeeren, Heidelbeeren, Lavendelhonig-Sud und Himbeersorbet. Die gestockte Eischnee-Masse ist unglaublich leicht und fluffig –doch auch unglaublich süß. Der Honigsud verstärkt diesen Eindruck und auch das Sorbet ist auf der sehr süßen Seite. Die Himbeeren steuern zwar mit Säure entgegen, und die Blaubeeren neutralisieren ein wenig, aber wirklich ausgleichen können sie Süße nicht. So bleibt das Fazit: Sieht wesentlich besser aus, als es auf Dauer schmeckt. Mit (deutlich) weniger Zucker würde diese Kreation unserer Meinung nach (deutlich) besser funktionieren.

Das zweite Dessert reißt es mehr als raus: Feines von Kopi-Luwak-Kaffee, Baba Muscovado und Tonkabohnenaromen. Hier ist zunächst ein wenig Produktkunde interessant. Kopi-Luwak-Kaffee, auch "Katzenkaffee" genannt, kommt aus Indonesien und entsteht auf höchst ungewöhnliche Weise: Schleichkatzen werden mit Kaffeekirschen gefüttert; im Darm der Tiere sind die Kerne einer Nassfermentation durch Enzyme ausgesetzt. Dadurch bekommen sie ein besonderes Aroma, das der britische Schauspieler und Feinschmecker John Cleese als Mischung aus "Dschungel und Schokolade" beschrieb. Geröstet werden die Darm-Böhnchen natürlich auch. Das Ergebnis ist der mit weitem Abstand teuerste (rund 300 Euro pro Kilogramm) und zugleich umstrittenste Kaffee der Welt, da die Schleichkatzen oftmals unter schlimmsten Bedingungen gehalten werden. Wir können nur hoffen, dass in der Schwarzwaldstube jene "Bio"-Qualität zum Einsatz kam, bei der die Ausscheidungen wild lebender Tiere aufgesammelt werden.

Ob es nicht auch bester konventioneller Kaffee täte, darüber ließe sich trefflich diskutieren. Unstrittig ist, dass Pierre Lingelser aus den Bohnen, ein großartiges Dessert zaubert. Er fächert eine Aromenwelt zwischen Bitterkeit, Süße und Herbheit auf, zwischen Schokoschmelz, Kaffee-Herbheit und dem vanillig-karamelligen Aroma der Tonkabohne. Auch die fruchtigen Noten von süßsaurer Kapstachelbeere und buttrig-süßer Mango fügen sich ganz wunderbar in dieses Bild. Jedes Detail ist meisterhaft gearbeitet. Ein nachgerade perfektes Dessert der klassisch-modernen Schule.

Ein paar Petits Fours zum Kaffee gehen immer – aufgrund unseres Sättigungsgrades bleinen es wenige. Bemerkenswert ist die Qualität der Cannoli, denn der sizilianische Klassiker ist bekanntlich eine Kunst für sich.

Foto: Das Serviceteam der Schwarzwaldstube unter Maître David Breuer und Sommelier Stéphane Gass gehört zur absoluten Spitze Deutschlands.

Das war ein Mahl von seltener Opulenz, keine Frage. Und – wie schon 2017 im Königshof – eine Offenbarung. Denn jenseits der Erfüllung einer Sehnsucht zeigten uns diese Gerichte von Torsten Michel, wie wunderbar und wichtig solches Kochen für die Spitzenküche ist. Und wir würden uns wünschen, dass einerseits mehr Köche sich dieser Kunst annehmen, und andererseits die Gäste sich darauf einlassen. Warum nicht anstatt eines großen Menüs mal ein ganzes Huhn in zwei Gängen, flankiert lediglich von einer leichten Vorspeise und einem Dessert? Am Tisch zerlegte Vögel und filetierte Fische eignen sich vielleicht nicht für ziselierte Tellergemälde mit Tupfern und Blüten obendrauf. Aber wir wissen nach diesem Essen endgültig, dass wir in der Hand eines Chefs lieber ein Tranchiermesser sehen als eine Pinzette.

Natürlich ist dieser Bericht keine Rezension im herkömmlichen Sinne, denn wir verkosteten einige Kreationen, die zumindest zum Zeitpunkt unseres Besuchs noch nicht auf der regulären Karte standen. Und nicht jeder Gang funktionierte, wie zu lesen war. Wir wollen unseren Text eher als eine Art kulinarisches Aphrodisiakum verstanden wissen, einen Lustmacher auf die richtig großen Teile. Denn eines ist klar: Starke Stücke gehören zur Grande Cuisine, wie die Brez'n zum Weißbier. Bon Appetit!

Fazit

So geht groß! Ihr als Gäste müsst es nur verlangen – tut es!

Text: Kai Mihm

Wein

Unsere Weinauswahl im Restaurant Schwarzwaldstube in Baiersbronn

Fragen an den Suffmeister (a.k.a. Sommelier) Stéphane Gass

1. Anzahl der Positionen
Die Weinkarte der Schwarzwaldstube umfasst ca. 700 Positionen.

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Der Fokus liegt auf der Region Burgund.

3. Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
Der 2016 Weissburgunder Kabinett vom Weingut Laible für 32 Euro. Die teuerste Flasche (2005 Romanée-Conti von der Domaine de la Romanée-Conti) liegt bei 8800 Euro.

4. Die ungewöhnlichste Rarität? 
2010 Coteaux Champenois "Haut revers du Chutat" von Jacques Lassaigne.

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
2010 Champagne Vazart Coquart Grand Bouquet Blanc de blancs von Chouilly.

6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Zu meinen letzten Entdeckungen zählt der 2015er Sancerre Rouge Les Garennes von Vincent Gaudry.

7. Ihr Lieblingswein?
Momentan würde ich 2015 Pouilly Vinzelles Climat les Quarts "La Soufrandrière" nennen.

8. Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden? 
Wir haben einen Gast in der Schwarzwaldstube, der ausschließlich Beerenauslesen und Eisweine trinkt. Für das große Degustationsmenü von Torsten Michel eine Weinbegleitung ausschließlich mit diesen Weinen zu machen, war ganz sicher außergewöhnlich.

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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