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Restaurantkritik 26.Dezember 2016

TIMS NEUER STREICH

Beim Namen "Tim Raue" scheiden sich die Geister: Für die einen ist er der pöbelnde Maulheld aus dem Fernsehen, der sich regelmäßig mit "dem Mälzer" anlegt, für die anderen ein großartiger Koch mit erfrischend direkten Ansagen und einer bewundernswerten Cleverness. Wir bekennen uns zur zweitgenannter Fraktion, nicht zuletzt wegen Raues ausgeprägtem Geschäftssinn – das Imperium an Raue-Exporten wächst stetig. Nach der raumbedingten Schließung des 'Studio Tim Raue' gibt es neben dem Kreuzberger Stammhaus allein in Berlin noch das 'La Soupe Populaire' das 'Sra Bua' im Hotel Adlon Kempinski und den VIP-Bereich bei Hertha BSC im Olympiastadion. Auf dem massenkompatiblen Kreuzfahrt-Dampfer "Mein Schiff 5" steht sein Name für das Bordrestaurant 'Hamami' und vor kurzem eröffnete er das 'Dragonfly' in Dubai. Man muss das nicht alles mögen, aber die unermüdliche Umtriebigkeit nötigt schon Respekt ab.

Raues vorerst letzter Streich in Deutschland ist die französische 'Brasserie Colette'-Kette, die in Zusammenarbeit mit der Edel-Seniorenresidenz Tertianium in München, Konstanz und in Berlin Quartier bezogen hat. Wir reisten in die Hauptstadt, um der dortigen und ersten Dependance einen Besuch abzustatten...

Raue fungiert bei den Brasserien eher als Berater denn als Koch – das darf in der Berliner Dependance Dominik Obermaier übernehmen, ehemaliger Mitarbeiter des 'Restaurant Tim Raue'. Benannt ist die Kette nach einer Madame Colette aus dem Bordeaux, die den jungen Tim Raue mit Bananen-Crêpes offensichtlich nachhaltig beeindruckte. So versucht er sich nun erstmals an klassisch-französischer Küche, oder besser: einer Art "Systemküche", denn alle Filialen bieten dieselbe Speisekarte. Die Berliner Lage für das gehobene Restaurant scheint ideal, befindet es sich doch direkt gegenüber dem Nobelkaufhaus KaDeWe und neben einem russischen Feinkosthandel.

An die Kantinen-Tristesse eines Altenheims erinnert hier (zum Glück) nichts, überhaupt ist das Lokal gänzlich unabhängig von der Seniorenresidenz. Das zeigt sich am hübschen wie rustikalen Interieur: Holziges Mobiliar, alte Bahn-Sitze, Weinflaschen als Deko und ein wenig historischer Kitsch bilden die Brasserie-Atmosphäre Frankreichs gelungen nach. Mal sehen, ob den Speisen ähnliches gelingt...

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Zum Apéro bekommen wir, typisch für nahezu alle Raue-Restaurants, sauer eingelegtes Rübengemüse mit Himbeeressig. Dazu gesellt sich in Vorbereitung unserer ersten Vorspeise eine beachtliche Auswahl an Jahrgangssardinen, aus der wir uns für die 2011er "La perle de dieux"-Konserve entscheiden, die anschließend ...

... geöffnet und mit etwas Schwarzbrot gereicht wird. Intensiv und schmelzig, wenngleich wir feststellen, dass ältere Sardinen an Saftigkeit verlieren. Zum Glück sorgt der Champagner für einen flüssigen Abgang. Dennoch: Ein originelles Gericht mit dem wohl einzigen Konserven-Produkt, dass in der Spitzenküche Verwendung findet.

Mit einem typischen Raue-Twist wird uns Rote Bete mit Himbeere, Johannisbeere und Jalapeño serviert. Typisch für die üblicherweise ostasiatisch angehauchte Küche des Berliners umgibt die dünnen Scheiben eine vordergründige, flüchtige Schärfe. Das passt gut zum eher erdigen Geschmack der Rübe, wenngleich uns die Jalapeño-Stückchen dann doch etwas zu viel des Rachenbrands sind.

Ein Salat Nizza, besser bekannt als "Salade Niçoise", wird im Colette mit Thunfisch-Sashimi, grünen Bohnen und Sardellen-Mayonnaise zubereitet. Dem zarten Fisch wird, ebenfalls im Tim-Raue-Stil, ein bissiges Ingwer-Dressing entgegengestellt, die Bohnen und Kartoffelchips sorgen für den Crunch. Ein ausbalancierter, frischer Teller, der hervorragend zu den spätsommerlichen Temperaturen bei unserem Besuch passt.

Herzhafter und lauwarm geht es mit Kalbskopf „Ravigote“ mit Kapern, Ei, Estragon und Kerbel weiter. Die Fleischstücke sind, je nach Löffel, cremig bis bissfest, werden dabei stets umspielt von der Sauce Ravigote, bei der vor allem der Estragon dominiert. Rustikal und deftig klingt dieser Teller noch einige Minuten nach. Sehr gut!

Mit der gebratenen Blutwurst mit Zwiebeljus, Apfel und Kartoffelpüree lassen wir die Entrées hinter uns und probieren uns an den Hauptspeisen. Als Berliner sind wir große Freunde der „toten Oma“, die hier, wie bei der „Boudin noir“ in Frankreich üblich, in Scheiben geschnitten wird und mit der Frische des Apfelgelees hervorragend harmoniert. Ein klassischer Teller, der genau das macht, was er soll: unkompliziert lecker schmecken.

Beim Huhn unter der Teighaube mit Trüffel, Haselnüssen und Topinambur werden die Stücke von der Brust mit einer Hühnerfarce bestrichen und in einen Blätterteig eingeschlagen. Heraus kommt ein knuspriges, hauchzartes Hühnchen-Croissant, das im Zusammenspiel mit dem intensiven, leicht gebundenen Trüffel-Jus erst so richtig Umami-Fahrt aufnimmt. Top!

Nach so viel französischer Deftigkeit gehen wir zu den Desserts über: Die „Crêpe Colette“, Raues Interpretation seiner süßen Kindheitserinnerung, wird mit Salz-Karamell, Banane und Vanille kombiniert. Hinzu kommen Noten von Zitronengras und Ingwer, und so wird daraus ein Hybrid aus französischer und  asiatischer Süßspeise. Nach all dem Vorangegangenem ein eher ungewöhnliches, dennoch passendes  Aromen-Gemisch.

Die Salzkaramell-Sauce finden wir auch bei der Tarte au Citron mit Zitronensorbet und Zitronenblatt. Das süße Baiser ist uns etwas zu viel und  zu hart, weshalb wir davon nur wenige Stückchen vertilgen können. Das Darunterliegende allerdings schmeckt köstlich: Die Balance aus Süße und Säure, aus luftiger Crème und knusprigem Teigboden ist zielsicher getroffen. Ziehen wir den Deckel ab, ist das ein hervorragendes Dessert.

Tim Raues Konzept geht hier voll auf: Eine klare französische Linie mit einem stets wahrnehmbaren "Raue-Twist" durch asiatische Zutaten, den wir vor allen Dingen bei den Vorspeisen spürten, ergeben einen angenehm unkomplizierten Wohlgeschmack. Die Gerichte waren durchweg mindestens stimmig, bisweilen hervorragend, wobei uns besonders die Balance von dominanten Aromen und Texturen (Thunfisch / Ingwer, Kalbskopf / Kräutersauce) gefallen hat. Wir sind erstaunt, wie es Raue trotz seiner unternehmerischen Mehrgleisigkeit schafft, die Qualität seiner Restaurants auf so konstant hohem Niveau zu halten. Die gut ausgebildeten und geprägten Mitarbeiter wie Küchenchef Dominik Obermaier (2.v.l.) sind hier sicherlich als erheblicher Faktor zu nennen.

Das gilt nicht zuletzt für den Service: Ein Paradebeispiel dafür, wie ein gelungener Service jeden Restaurantbesuch aufwerten kann, ist Bianca Zedler (ganz links): fachlich über jeden Zweifel erhaben, herzlich und souverän, mit dem richtigen Level an Nonchalance. À la prochaine!

Fazit

Lockere Brasserie-Atmosphäre: Das Colette bereichert Berlin, Konstanz und München um herzhafte und ausbalancierte französische Küche mit dem unverkennbaren Raue-Touch. Perfekt für den Alltag abseits der Sterne.

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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