
Steirereck - Wien Gott in Österreich
Von Chris Lippert
Ein sehr guter, jedoch für Spitzengastronomie wenig zu begeisternder Freund erzählte mir einst von einem Geschäftstermin mit einem Künstler in dessen Lieblingsrestaurant, dem Steirereck. Mit Blick auf ein langes Degustationsmenü rutschte es ihm zu Tisch heraus, dass er jetzt „viel lieber ein Schnitzel und eine Cola light“ hätte. Das erlauschte die Bedienung, und prompt standen ein heißes Schnitzel und braune Brause auf dem Tisch. Mein Freund: überaus glücklich – und ein bisschen verliebt in ebenjene Servicekraft.
Ein paar Jahre vergingen, erneut stand ein Business-Lunch bei den Reitbauers an. Bereits mit mäßiger Appetitlaune nahm mein Freund Platz, als – aus heiterem Himmel – der erste Satz des Service ihm galt: „… und für Sie haben wir wieder ein Schnitzel und eine Cola light vorbereitet – ist’s recht?“. Nun war er kurz davor, für einen Heiratsantrag auf die Knie zu fallen.

Für mich ist diese Geschichte nicht nur die prosagegossene Form von „exzellentem Service“ und „Nonchalance“, sondern steht, nach allem was man so hört, exemplarisch für dieses Lokal, das sich seit diesem Jahr mit dem dritten Michelin-Stern schmücken darf – darüber spekuliert wurde schon lange, und beim letzten Besuch der Fresserkollegen kratzte die Küche zumindest stellenweise an den höchsten Weihen. Umstritten war die Auszeichnung dennoch, manche Beobachter sahen darin eine „politische“ Entscheidung, und auch in den sozialen Medien wurde der dritte Stern kontrovers diskutiert. Mich als Erstbesucher macht das umso neugieriger.
Dessen ungeachtet ist es ein großer Keis, der sich mit der Auszeichnung schließt, schließlich begann Heinz Reitbauer seine Lehre im elterlichen „Steirereck“, bevor er internationale Stationen bei Alain Chapel, Anton Moismann und im „Laurent“ bei Joël Robuchon durchlief. Danach kehrte er zurück nach Österreich, wo er 2005 den Posten des Chef de Cuisine im damals einfach besternten, 2010 mit dem zweiten Stern ausgezeichneten und kurz danach aufwendig renovierten Restaurant der Familie übernahm. Seine Frau Birgit gibt seit jeher die charismatische Gastgeberin.

Während am Nebentisch bereits ursympathisches Wienerisch geplaudert wird, schaue ich in die Karte. Neben einem bis zu siebengängigen Degustations- wird auch ein À-la-carte-Menü geboten; am Ende verlasse ich mich aber komplett auf die Küche, die mir angesichts der Wahl-Qual eine Kombination aus beidem servieren möchte – immerhin habe ich ein paar Jahre aufzuholen.

Zu allererst rollt der weltberühmte Brotwagen von Andreas „Brot-Andy“ Djordjevic heran, der in seiner quirlig-liebenswürdigen Art 25 (!) Sorten annonciert. Die Entscheidung dürfte hier jedem Gast schwer fallen, sodass ich mich auf eine von Djordjevic selbst kuratierte Laibreise mitnehmen lasse, bei der natürlich das betörende Blunzenbrot nicht fehlt. Ich werde mich im Laufe des Abends noch häufiger an der Carb-Kutsche laben – besonders oft greife ich dabei zum Chorizo-Brot. Sowas hätte man gerne zuhause.

Zum Brot werden die ersten Snacks gereicht (von hinten links im Uhrzeigersinn): Ein kühlendes Mairüben-Macaron mit geeistem grünen Apfel, ein süßlich-rustikales Topinambur-Tartelette mit Wildlebercreme sowie der venezianischen Klassiker „Risi e bisi“ (Reis mit Erbsen). Allesamt filigran gearbeitet und appetitanregend.

Während ich die Kleinigkeiten verzehre, wird heißes Bienenwachs auf ein dünnes Stück Saibling gegossen, der nun etwa zehn Minuten gart.

Im Anschluss wird der Wachsfisch zu Tisch tranchiert und mit gelber Rübe, Pollen und Rahm serviert. Eine reduzierte Produktschau, die das warme, zarte Filet lediglich um etwas Frische – Limette, Rahm – und Salzakzente ergänzt. Spannend wird dieser Klassiker des Hauses, der bereits seit 13 Jahren auf der Karte steht, durch die pointierte Beigabe von Basilikum, das dem Gericht etwas Mediterranes beibringt. Ein unaufgeregter, souveräner wie gelungener Einstieg in das Menü.

Auf eine gerollte Milchkalbs-Zunge, begleitet von Kressewurzel und Marille, wird am Tisch eine gebeizte und im Anschluss gereifte Hirschbirne gehobelt. Das saftige Fleisch wird frisch, fruchtig und süßlich begleitet, auch Waldmeister-Aromen – vor allen Dingen im kühlen Sud – sind präsent, etwas Brokkoli gibt hier und da nussig-gemüsige Noten. Der Birnenabrieb hat etwas Karamelliges; unorthodox, spannend und auf ganz eigene Art elegant.

Erneut ungewöhnlich inszeniert ist der Marchfelder Solo-Spargel mit Feigenblatt und Rhabarber. Im Zentrum stehen die knackig gekochten Stangenstückchen, die sich auf eine fein gearbeiteten Brunoise aus Rhabarber betten. Im Fächer darüber verstecken sich lauwarme Lauchherzen, die passende Zwiebel-Aromen zusteuern, während die Feigenblätter aus den eigenen Gärten grüne Bitterstoffe einbringen. Exzellent wird dieser Teller aber erst, als nach einem kurzen Moment eine dichte, aber nicht überbordene Chili-Schärfe einsetzt, die man in dieser Komposition nicht erwartet hätte. Sehr gut.

Deutlich weniger verspielt, aber nicht weniger herausragend der Seehecht vom Attersee mit Süßerdäpfel, Zitronen-Thymian und Rosa Bianca, eine italienischen Auberginensorte. Erfreulicherweise finden wir den Raubfisch neuerdings häufiger auf den Speisekarten, ist es doch – bei richtiger Zubereitung – ein intensiver, bissfester Geselle, der sich so ziemlich mit allen Begleitern auf dem Teller versteht. Hier wird das Filet gekonnt zur Glasigkeit gebraten, ein gewärmter Saft von der Tomate mit Zitrone bringt bissige Säure, die dem Fisch ganz fantastisch steht, dazu Textur von Süßkartoffel und Apfel. Und wieder legt sich ein sanfter Schärfe-Schleier über das Gericht, der eine wunderbar einnehmende Wärme ausstrahlt.

Ebenfalls ein Klassiker des Hauses, der aber ganz sicher anzuecken weiß: Osietra-Kaviar und Beluga-Linsen, begleitet von Banane und Speck. Steht in anderen Restaurants der Kaviar bei derartigen Gängen im Zentrum, ist er hier lediglich salzgebender Begleiter; die Banane – als Creme mit Pilzen darunter sowie als Essig im Schinken-Öl zu Boden – als auch die mehligen Linsen nehmen enorm viel Raum ein. Dass diese Paarung kulinarisch aufgeht ist nur auf den ersten Blick überraschend, sind doch zum Beispiel im Südamerikanischen Raum Bananen in Herzhaften und salzigen Gerichten als z. B. „Plátano asado“ absoluter Usus. Hier erlebe ich einen sauber dosierten, im Kontext des Menüs herausstechenden Gang, der ganz und gar nicht den Luxus ausstrahlt, die man sonst mit Kaviargängen in einem Dreisternerestaurant verbinden würde. Genau das macht ihn so interessant.

Schlichtweg sensationell dann der Aal mit Frühkraut, Maiwipferl und Pfefferoni. Sofort macht sich ein deftiges Fischeintopf-Feeling breit: Ich betrete im Geiste den Wohnungsflur meiner Großmutter, alles duftet geschmort, herzhaft, appetitanregend, während Nonna gerade das durchgezogene Sauerkraut aus dem Ofen holt. Bei Heinz Reitbauer wird derweil der fettige Aal gekonnt gezähmt vom fruchtigen Physalis-Lack, das Kraut findet sich als röstig geschmortes Stück sowie im rauchigen Buttersud wieder. Die Saftigkeit und Hitze des Tellers ist schlichtweg betörend, sodass ich ihn – wissend, dass das Abendessen noch lange nicht vorbei ist – bis auf den letzten Bissen leere.

Das neueste Gericht aus Reitbauers kulinarischer Feder ist der Grünspargel mit Brennnessel, Anis-Ysop und Champignons. Der etwas „anzüglich“ angerichtete Teller gibt sich texturell herausfordernd; in zwei Häufchen findet sich ein nicht wirklich sortierbares, insgesamt eher „schleimiges“ Gemisch aus Kartoffelsoufflee und fermentierten wie glasierten Champignons, die Blüten der Anis-Ysop – einer Pflanze aus Südamerika – kann ich nicht orten. Was bleibt, ist ein bissfest gegarter Spargel in einer ordentlich abgewürzten Pilzsauce. Das wäre bei einer Produktküche sicher interessant, in das kulinarische Konzept von Heinz Reitbauer will sich das aber nicht einordnen.

Wir kommen zu den Hauptspeisen: als erstes die Ziegenkitz-Niere mit Spitzpaprika, Kressewurzel und Mönchsbart, ebenfalls ein saisonaler Klassiker des Hauses, für den mancher Gast – ähnlich wie beim Blunzenbrot – viele Fahrtwegkilometer auf sich nimmt. Durchaus nachvollziehbar, hat man derart Innerei doch nicht überall auf der Karte.
Das Nierchen erinnert – eingepackt in seinem Fettmantel und heiß gegrillt – in seiner Konsistenz an einen asiatischen Schweinebauch und zeigt erst ganz „hinten“, nach fettigem Schmelz und zarten Biss, dezent metallische Noten. Allein für sich ein tolles Produkt. Der Rest des Tellers ist eine komplexe Spielwiese an Beigaben, mit denen man sich wunderbar in das Gericht „fressen“ kann, wobei der dichte Jus vom Nierenfett die Herzhaftigkeit stets in den Vordergrund rückt. Ein positiv herausfordernder, besonderer Hauptgang, den man in der Form wohl nur hier findet.

Ich reise vom Inneren ins Äußere: Das Ziegenkitz ist auch bei seiner Schulter mit jungen Erbsen, Rhabarber und Pimpernelle Hauptthema. Das in Joghurt geschmorte Fleisch ist schlichtweg herausragend, Bärlauch-Tempura und Wachteleigelb bringen ein ordentliches Pfund Fett in das Gericht, das den auf Turbo abgeschmeckten Schmorsaft noch mal richtig nach vorne bringt. Schön auch der unregelmäßige, erfrischende Crunch der Zuckerschote. Wunderbar.

Einzigartig ist wohl der – oder besser: die Käsewagen von Franz Stranz, mit Produkten aus der hauseigenen Meierei. Die üppige Auswahl durfte ich im Laufe des Abends schon an Nebentischen „erduften“, und trotz des üppigen Menüs kann ich nicht widerstehen und lasse mich, umringt von Käse, auf eine ausführliche Reise durch die eher kräftigeren Milchfermentationen nehmen. Am Ende bleibt kein Krümel übrig.

Es ist bereits weit nach Mitternacht – und ich beschwere mich nicht, denn bisher stimmt alles, was ich über das Restaurant antizipierte: Herzlichkeit, Großzügigkeit und der stete Wille, dem Gast einen sensorisch durch und durch gelungenen Abend zu bereiten. Köstlich ist es obendrein.

Es folgen die Desserts, die mir zu dieser später Stunde der Einfachheit halber zeitgleich zu Tisch gebracht werden. Besonders nach den Herzhaftigkeiten bringen Rhabarber mit Stachelbeeren, Erdmandel und Ampfer (unten links) austarierte, kühle und säuerlich-bissige Erfrischung. Als „Gegenmodell“ stehen dafür die üppigen Mohnnudeln mit lauwarmer Mohnbutter sowie -streusel und Zwetschgeneis (rechts), die derart verführerisch sind, dass ich sie – dem Platzen nah – allesamt verputze. Die in Bienenwachs – wir schlagen den Bogen zum Beginn des Menüs – gereifte Alexander Lucas Birne mit Molke und Bienenwachs-Eis birgt eine sanfte, dezent süße Kühle; ich probiere ein paar Happs, kann mich aber nicht von Mohnnudel und Rhabarber trennen.

Manch Leser kennt vielleicht die Szene aus „Asterix erobert Rom“, in der Obelix als eine der zwölf Prüfungen der Götter alle Speisen des belgischen „Koch der Titanen“ Mannekenpix aufessen muss – und das Menü aus Kamelhöcker-Steaks, mit Oliven gefüllten Elefanten und ganzen Schäfchen vom Rost offenkundig genießt. Das ist gar nicht so weit weg von meiner Wahrheit: Ich bekam heute einen mehr als ausgiebigen Einblick in die Küche Heinz Reitbauers – und wie oft ich beim Brotwagen nachlegte, kann ich beim Schreiben des Berichtes nicht mehr rekapitulieren. Beim Spaziergang durch die Wiener Nacht versuche ich, das Verspeiste zu ordnen.
Was mir sofort auffällt: wie gut es dem Team des Steirerecks gelingt, im Lauf eines mehrstündigen Menüs niemals Langeweile aufkommen zu lassen – für einen Solo-Gast ein nicht unerheblicher Aspekt. Ein paar Worte hier, eine Scheibe Brot oder ein Nachschenken da – diese Kombination aus Herzlich- und Aufmerksamkeit erlebt man nicht oft. Erwähnung verdienen in diesem Zusammengang die Pairings von Sommelier René Antrag, die gekonnt Klassisches mit Ausgefallenem kombinierten.

Das Essen hingegen steht dabei gewissermaßen im Kontrast zur Gästeumsorgung im klassischen Stil: Die allermeisten Gänge gaben sich entdeckungsfreudig, überraschend und unberechenbar. Gerichte wie Hecht, Aal und Zickleinschulter sind spannend, verspielt und köstlich, andere gehen sogar noch einen Schritt weiter und verlangen vom Gast die Offenheit, sich auf höchst ungewohnte Kombinationen einzulassen und nicht mit allzu konkreten gustatorischen Erwartungshaltungen – oder gar Vorurteilen – in den Wiener Besuch zu gehen. Möglicherweise liegt hier auch ein Grund für manche Zweifel am dritten Stern, die für mich nach diesem Erstbesuch allerdings nicht nachvollziehbar sind. Ausreißer, etwa beim Grünspargel, ändern nichts an einem ansonsten fantastischen, produktnahen, man darf sagen: innovativen Menü.
Ich jedenfalls warte keine zehn Jahre, bevor ich zurückkehre. Vielleicht nehme ich dann sogar meinen eingangs erwähnten Freund mit; ich würde nämlich schon gerne wissen, wie ein Schnitzel beim Herrn Reitbauer schmeckt …
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2017 Champagne „Special Club“ (CH,PN,PM), J.M. Goulard / Prouilly
2011 Riesling „Steinertal“ Smaragd, Alzinger / U.-Loiben – Wachau
2018 Weissburgunder „Nussberg“, Gross / Ratsch a.d. Weinstrasse – Steiermark
2020 Grüner Veltliner „St. Georgen“, Moric- Roland Velich / Großhöflein – Burgenland
2017 Palma Cortado „La Barajuela“, Luis Perez / Jerez de la Frontera – Andalusien
2022 Graue Freyheit, Gernot Heinrich / Gols – Burgenland
2013 Nuits St. Georges AC, Philippe Pacalet / Burgund
2001 Rioja „Vina Tondonia“ Reserva, Lopez de Heredia / Haro – Spanien
2018 Pyrrhus, Lessufleur / Normandie
2003 Gewürztraminer „Wielitsch“, Tement / Berghausen – Steiermark
1993 Sercial Frasqueira, Barbeito / Madeira – Portugal
2008 Sämling 88 Trockenbeerenauslese, Hans Tschida / Illmitz – Burgenland
NV Junmai Rosé, Amabuki / Japan
Hinweis
Das Menü wurde vom Restaurant um mehrere Extragänge erweitert. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

