
Rutz – Was Anrichten ausrichten kann
Von Chris Lippert
Das schummerige, rot leuchtende Eingangsschild in der Berliner Chausseestraße übt einen ganz besonderen Charme auf mich aus: Nur wenige Restaurants durfte ich derart lange auf ihrem Weg an die Spitze begleiten, wie das „Rutz“. Von lässiger Weinbar mit Fine-Dining-Option hin zum einzigen Dreisternerestaurant der Hauptstadt brauchte Marco Müller dann auch nur schlappe 16 Jahre. Bis heute – ich kann nicht zählen, wie oft ich schon hier stand und auf meine verspäteten Fresserkollegen wartete – hat das Lokal nichts von seiner Anziehungskraft verloren. Die Nähe zum Gast, die herzliche Begrüßung, die unprätentiöse Lage, das alles wirkt immer noch wie die Weinbar um die Ecke.

Es wird einmal wieder Zeit für eine Bestandsaufnahme bei Marco Müller. Der letzte Bericht ist drei Jahre her, und damals war der dritte Stern noch frisch. Der Werdegang des Küchenchefs sei an dieser Stelle kompakt zusammengefasst: Nach seiner Ausbildung in Potsdam und diversen spitzengastronomischen Stationen im Berliner Raum löste Marco Müller 2004 Ralf Zacherl im „Rutz“ ab – und blieb.
Seit einiger Zeit steht Müller als Küchenpatron und Konzepter hinter dem Restaurant, vorne darf sich seit nunmehr fünf Jahren Dennis Quetsch als Küchenchef austoben. Auch im Service hat sich etwas verändert: Sebastian Höpfner kommt aus dem Taubenkobel (mit Zwischenstopp in Frankfurter „Chairs“) und übernimmt Nancy Großmanns langjährige Sommelier-Fußstapfen. Neben Müller wohl am Längsten dabei ist Restaurantleiter Falco Mühlichen, der wie üblich reizend und gutgekleidet durch den Abend führt. Am Menü-Konzept hat sich wenig verändert: Der Gast wählt zwölf oder 13 Gänge, eine gänzlich vegetarische Option existiert ebenfalls, die Weinbegleitung lässt sich bis zu zehn Gläser skalieren.
Ich bereite mich jetzt schon darauf vor, das Menü ausführlichst zu beschreiben – im „Rutz“ wird erfahrungsgemäß mit Stolz annonciert –, deswegen spare ich mir weiteres Intro und steige direkt ein ins Menü:

Draußen ist es noch merklich kühl, gut also, dass uns Kiefer und Zwiebel wohlig aufwärmen. Sehr fein die würzige Knollenbrühe, einer „Wald-Dashi“ ähnlich; heiß, butterig und durch das Kiefernadel-Öl in Richtung Nadelbaum verstärkt. Obenauf ein filigran gearbeiteter Chip von gebackener Schalotte mit Kiefernzapfen – die in nahezu jedem Rutz-Menü zu finden sind – und Estragon. Wirkt simpel, ist aber verzehrbares Understatement.

Die Wattauster kommt mit eingelegten grünen Erdbeeren auf dem Tisch. Die Muschel ist als Emulsion und (etwas beschwerlich zu löffelndes) Gelee stets präsent, die süße Beere bildet dazu einen ungewöhnlichen, aber passenden Begleiter. Säurekicks von Fingerlime und Buttermilch brechen den duftigen, jodigen Meeresteppich. Ein paar Zanderschuppen bringen knuspernde Textur. Sehr fein.

Deutlich derber fällt der gebackene Seeteufel mit Dill aus. Heiß, knusprig, saftig und enorm „hitzig“ wird hier profund Appetit gemacht, nicht mehr und nicht weniger.

Der erste Gang: Schmorgurken kenne ich noch aus meiner Ostberliner Kindheit, die gab’s meistens – und zugegeben kurioserweise – im Sommer. Im Rutz wird dieses doch eher der „groben Hausmannskost“ zuzuordnende Gericht mit Quellforelle und Raucharomen erweitert und durch unzählige Aperçus ergänzt: Da finden sich ein Gurken-Speck-Sud, eine Aal-Emulsion sowie Dill-Creme, hier noch etwas Öl – der Teller ist derart cremig, dass wir den Fisch regelrecht „freischaufeln“ müssen. Die angelöffelten Senfeis-Perlen bringen zudem einen irritierten Kältekick ins Spiel. Am Ende entsteht aus alldem ein „Mischmasch“ ohne klar erkennbare Richtung und ohne klar skizziertes Hauptprodukt.

Schlichtweg sensationell dann die Rote Beete mit Meerrettichsud und Essigbaum. Das kleine, unscheinbare Stück dehydrierter, dann in Pastrami-Saft (!) erwärmter und rehydrierter, dann wieder getrockneter und dann wiederum in Wagyu-Fett gebackener (!!) Beete gehört zu dem – ich kann es nicht anders formulieren – fleischigsten Gemüsen, das ich seit langem vertilgen durfte. Dem saftigen Biss folgt eine betörende Herzhaftigkeit, die den gesamten Mundraum füllt und perfekt mit dem stets präsenten, aber balancierten Meerretticharoma des sahnigen Suds harmoniert. Das ist ganz nah dran an einer Götterspeise, und eine Referenz, an der sich fortan jede Betenknolle messen muss.

Nicht nur optisch eigenständig dann Zwiebelgewächse mit Kartoffel und Pfefferkraut. Vielschichtige Röstigkeit, ein wenig Süße und grüne Bitterstoffe von Gemüsepflanzen – vorrangig geflämmter Lauch, aber auch weiße Zwiebel – geben sich hier sozusagen die Gabel in die Hand, ab und an knuspert Kartoffelstroh abwechslungsreich dazwischen. Salzige Akzente gibt’s durch eine Bergbohnenkraut-Soja-Dashi-Creme, die nach wenigen Minuten einen leichten Pfefferteppich auf die Papillen legt. So raffiniert wie intensiv.

Zusammen mit Imperial Kaviar serviert das Rutz eine eigens kuratierte, sechs Wochen gereifte „Selection“, in Szene gesetzt mit wilder Haselnuss aus der Schorfheide nördlich der Stadt, außerdem Spitzkohl, eine intensive Creme aus Jakobsmuschelbärten sowie Apfelstifte. Gerade nach dem aromatisch dichten Vorgängerteller passt die wohlproportionierte Kühle und meerige Frische, die nur durch die Nussigkeit gebrochen wird, sehr gut. Lediglich der Teller selbst ist eine Function-follows-Form-Katastrophe: Einem Münz-Trichter gleich müssen wir den Löffel immer wieder durch ein schmales, langes Löchlein führen, bekommen aber nie eine befriedigende Produktkombination heraus.

Ein eindrucksvoller Annoncierungs-Monolog bei Fichte mit Kohlrabi und Mandel-Miso, hier die kurze Variante: süffiger, handwerklich aufwendig gerollter Kohlrabi, rauchig-intensiver Kohl obenauf – das schmeckt für sich gut. Nur die Miso-Mandelcreme zu Boden birgt eine irritierende Sandigkeit, die den Gaumen verklebt.

Mit „Unsere Handschrift pur“ kündigen sich im Rutz üblicherweise exemplarische Trademark-Gänge an, in diesem Fall: Nordseekalmar mit Schweinekinn und Wildquitte. Optisch erinnert das an knusprige Schweine- oder Entenschwarte, entpuppt sich aber als bissfester, saftiger Oktopus aus der Nordsee, der komplett verwendet wird: die Tentakel als Sauce, der Kopf als zart gebraten und mit Garum aus den Innereien und der Haut lackiert. Darunter gepökeltes, konfiertes, gepresstes und dann in Scheiben geschnittenes Duroc-Schwein, daneben etwas Schaum von getrockneten Kalmaren. Von der Wildquitte bekomme ich nicht viel mit, sehr wohl aber vom Grünkohl, der dem Gericht eine unerwartete, aber sehr passende, bittere Deftigkeit beibringt. Schlichtweg sensationell.

Bei Perigord-Trüffel mit Dahlienwurzel und Kalbsbries macht sich Opulenz breit – cremige Herzhaft- und Deftigkeit, Fett, Umami und Hitze, vereint in Perfektion. Im Gegensatz zu den aufwendigen Produktdeklinationen der vorangegangen Teller wirkt das ungewohnt mächtig, klassisch, frankophil.

Der Abstecher in die Welt der französischen Schwere war nur von kurzer Dauer, die Challans-Ente mit Salatstrunk und Johannisbeere holt uns zurück in Müllers und Quetschs Welt der ungewohnten Kombinatorik, wenngleich sie hier nicht ganz aufgeht: Die gereiften Stücke der Blutente treffen die goldene Mitte aus saftig, knusprig, cremig, herzhaft und leicht „wildig“. Der wenig gebundene, mild rauchige und mit Pflaumen aromatisierte Sud kontert mit Komplexität – nur die Salatbeigabe irritiert durch ihre viel zu kalte Temperierung, die so sicher nicht gedacht war.

Der Hauptgang wird stimmig eröffnet von einem Tartar aus der Hirschkalb-Schulter, gewürzt mit Knochenmark, eingelegten Brombeeren und Sauerklee, der etwas säuerliche Frische in den wuchtigen Happen bringen.

Das Rothirschkalb mit Mark und Laubporling verlängert diesen Einstieg auf Haupttellergröße. Der auch als Klapperschwamm bezeichnete Pilz ist nicht nur wegen seines ulkigen Namens mein Liebling unter den Fungi, überzeugt er doch als extrem stimmiger, herzhafter Begleiter zu jedwedem Fleisch. So auch hier: Das feinfaserige, drei Wochen gereifte Rückenstück ist zwar Tellermittelpunkt, aber erst sein scharf angebratener, mit Pilzgarum bis zum Umami-Anschlag glasierter „Partner in Crime“ hebt den Teller auf Dreisterne-Niveau.

Irritierend „schleimig“ dann die Erfrischung vor den Desserts: Kopfsalat mischt sich mit seinem Eis und einem Amazake-Flan. Das mag bei anderen Gästen als „originell“ durchgehen, aber der Funktion als „Palate Cleanser“ wird das texturelle Durcheinander nicht gerecht.

Das erste Dessert – Fenchel, Verbene und Clementine – wirkt durch seine Verbindung zitrischer Bitterstoffe wie ein Kontrast zu den sonst eher komplexen Kreationen des Menüs. Vielschichtig bleibt der Teller trotzdem, besonders texturell ist dank Baiser, Hippen, Gels, Saucen, Filets, Joghurt-Cremes und Ölen kein Löffel wie der andere. Das ist spannend, souverän und durch die stets präsente Herbheit durchaus herausfordernd, sodass diese Nachspeise sicher nicht jedes Süßmaul abholt.

Herbstprinz und grüner Wacholder schließen das Menü ab. Als eine Art „gekühlte Waldapfelschale“ mischen sich Schichten unterschiedlicher Apfel-Deklinationen mit Nuss, Holunder und Rose unter einem Schaum von Wacholder und Kombucha. Das erfrischt viel eher, als dass es mit Aromen oder gar Süße erschlägt, wenngleich mir der Teller prägnante Apfelaromen schuldig bleibt.

Was für eine Tour de force! Die Küche des Rutz hat mir und uns heute das bisher eindrucksvollste Menü aller Zeiten geschickt; mitreißend, unberechenbar, kreativ, herausfordernd. Gerichte wie die Rote Bete, der Kalmar und das Kalb-Pilz-Duett im Hauptgang stehen exemplarisch für die Küche von Müller (rechts) und Quetsch (links), deren Produktfetischismus nicht nur für Gysi-eske Annoncierungswellen zu Tisch, sondern auch zu einer eindrucksvollen Anrichte-Geschmacks-Schere führt: Nahezu jeder Teller wirkt zunächst simpel und verschlossen, teilweise sogar profan minimalistisch, bis sich das Gericht mit jedem Bissen weiter öffnet und erforscht werden will. Das Talent, mit so wenig Anrichten soviel auszurichten ist genau so lässig, wie ein paar französische Deftigkeits-Kleckser in den Menü-Farbfächer zu geben: Kaviar, Trüffel und Kalbsbries wollen (und sollen) im Kontrast zur restlichen Menüdramaturgie nicht viel mehr, als zu munden.

Im Kleinteiligkeitsfetisch verrannte sich die Küche hier und da und besonders dann, wenn’s „kalt“ wurde – das betrifft die Eisperlen zur Schmorgurke, den kalten Salat zur Ente und das Texturengemenge beim Kopfsalat.
… Was mich allerdings nicht davon abhält, dem Rutz weiterhin – und sogar noch viel mehr, als früher – den Unikats-Stempel zu verpassen: In keiner anderen Küche der Hauptstadt (und vielleicht der Republik) wird die Nähe zu den Produkten der Natur und der Saison derart ausgefuchst auf den Tisch gebracht, wie hier.
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Wein

Die Pairings von Sommelier Sebastian Höpfner & Clemens Zeißig
2022 L’HOPITAL „LES 3 SAVAGNINS FLORAUX“
Domaine Buronfosse, Rotalier, Jura, Frankreich
2023 „WINIFRED“ ROSÉ
Weingut Gut Oggau, Oggau, Burgenland, Österreich
2022 HIRSCHENREYN GRÜNER VELTLINER
Weingut Herbert Zillinger, Ebenthal, Weinviertel
2019 RUTZ REBELL PATENTIA RIESLING (zum Kaviar)
Weingut Georg Breuer, Rüdesheim, Rheingau
2021 COMÈTE
Clos Larrouyat, Gan, Jurançon, Frankreich
2020 „FUCHS“ RIESLING
Weingut Schätzel, Nierstein, Rheinhessen, Deutschland
2021 LAS MIGAS, (zum Trüffel)
Matias i Torres, Vino de Mesa, La Palma, Spanien
2019 „SONNENBERG“ SPÄTBURGUNDER
Weingut Eymann, Gönnheim, Pfalz
2015 DEIDESHEIMER PARADIESGARTEN CABERNET SAUVIGNON
Weingut Seckinger, Niederkirchen, Pfalz
2024 SPARKLING SAKE, REIGEN FERMENTATION,
Berlin, Deutschland
Hinweis
Der Besuch war eine Einladung. Details zum Umgang mit Einladungen und anderen Pressekonditionen findet Ihr hier.