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Restaurantkritik  8.August 2022

Meister Müller!

Sechzehn Jahre hat es gedauert, im Jahr 2020 – kurz vor dem ersten Lockdown – war es dann soweit: Marco Müllers »Rutz« holte einen dritten Stern nach Berlin. Den ersten und bislang einzigen in der deutschen Hauptstadt. Dass sich das damalige Weinbar-Fine-Dining-Gemisch klammheimlich an die Spitze geackert hatte, schien niemand so recht mitbekommen zu haben, und auch wenn kurz nach der Verleihung das Restaurant für einige Monate pandemiebedingt schließen musste: Der Spotlight, der seither auf Marco Müller strahlt, ist stark.
Wohl auch aus diesem Anlass wurde das etwas angestaubte Interieur generalüberholt und im Zuge dessen die legere Weinbar in das Kreuzberger »Zollhaus« verlagert (wo Müller einst als Souschef tätig war). Seit der Wiedereröffnung im März ist das »Rutz« sowohl optisch als auch konzeptionell eine waschechte Fine-Dining-Destination. Imposant das raumeinnehmende, deckenhohe Glasregal mit unzähligen eingeweckten Zutaten, die wohlgemerkt nicht nur Deko sind – eine kleine Werkschau, bevor man überhaupt den ersten Bissen verspeist hat. Womit wir beim Thema wären: was hat sich da seit unserem letzten Besuch getan? Finden wir’s heraus.

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Seit fast zwei Dekaden kocht Müller im »Rutz«, wo er nach diversen Stationen im Jahr 2004 den TV-Ziegenbart Ralf Zacherl ablöste – und blieb. Auch andere Teammitglieder arbeiten bereits seit langer Zeit hier, man fühlt sich nach eigener Aussage wie eine »Familie«. Die geringe Fluktuation und der sichtbar respektvoll-nonchalante Umgang miteinander sind deutliche Signale für ein stimmiges Teamgefüge. In Zeiten von Personalmangel allerorten ein so schönes wie seltenes Bild.
Bevor es richtig losgeht erläutert Marco Müller seinen kulinarischen Ansatz von Naturnähe, Saisonalität und der Haltbarmachung. Schön, ja, hören wir natürlich öfters. Hier wirkt es authentisch. »Natur & Aromen« lautet der Titel des Menüs. Auf geht’s!

Wir starten mit ein paar Happen. Kiefer & Gurke schmeckt wie ein flüssiger Waldspaziergang, bei dem Kiefernadelstaub und -Blüten sich mit einer erfrischenden Gurkenessenz mischen – ein hübscher Einstieg.

Mit Hering & Sauerrahm tischt Marco Müller bereits das erste Highlight auf. Dieses unscheinbare Häufchen verdeutlicht die Wichtigkeit von Proportionen und Temperatur. Zuerst erreicht das eiskalte Granité – flüchtig und neutralisierend – unsere Papillen, danach bildet der kühle Sauerrahm die Grundierung für den nur leicht gesalzenen Hering, die Milchsäure verlängert den intensiven Geschmack nochmals. Hervorragend!

Lauch & alter Käse ist ein perfekter One-Bite für den Fernsehabend: Cremige, dezent geräucherte Lauchherzen mischen sich mit zwei Jahre gereiftem, gehobelten Ziegenkäse. Ein fettiger Spaß, dessen käsiger Nachhall auch Minuten später noch spür- bzw. schmeckbar ist.

Als neuer »Signature«-Gang darf Dry-Aged Karpfen mit Holunder verstanden werden. Der Fisch findet sich selten auf den Karten von Spitzenrestaurants – und wird er mal serviert, dann hat uns der sehr modrig-schleimige Geselle meist enttäuscht. Doch Müller nähert sich dem Tier über einige Umwege: So verwendet er ausschließlich agile, mit sauerstoffreichem Flusswasser umgebene Spiegelkarpfen, außerdem wird der Fisch nach japanischer Ikejime-Art geschlachtet und anschließend für einige Tage trockengereift.
Das Ergebnis ist beeindruckend: Ein simples Tatar, gewürzt mit (s)einer Rogencreme, erinnert geschmacklich an Thunfisch und ist präsent genug, um der Holundermilch-Dashi, dem eingelegten Rettich und den sauren Holunderblüten Paroli zu bieten. Texturell sorgen gefrorene Holunderessig-Perlen sowie knusprig ausgebackene Karpfenschuppen für Abwechslung. Was für ein Brett von einem Gericht.

Müller verarbeitet den Karpfen From Nose to Fin, die Karpfenrippchen werden daher im zweiten Gang wie BBQ-Ribs lackiert und gegrillt. Eine schöne Idee, die gut (wenngleich tatsächlich etwas »moderig«) schmeckt, aber mit dem Tartar nicht mithalten kann.

Etwas viel los ist bei den Neuen Karotten mit Quellforelle und Tagetes. Der Fisch ist von Menge und Intensität derart präsent, dass wir kaum etwas von der Karotte mitbekommen, auch schmecken wir deutliche Koriandernoten. Es knuspert und schlotzt schon gut vor sich hin, aber es fehlt hier – besonders nach den enorm stringenten Gängen zuvor – an aromatischer Klarheit, an »Fokus«, wenn man so will.

Ebenjenen Fokus findet die Küche bei Kaisergranat, gelber Bete und Sauerampfer mühelos wieder. Man merkt: Müller gart seine Wassertiere nur behutsam, auch das norwegische Krustentier – als seltene Abweichung von der Regionalität – kommt fast roh auf den Teller, nur mild mit Kochi gewürzt und dadurch von subtiler Salzigkeit. Unter einer Butterschaumsauce verstecken sich Kalbshirn und Tofu, der Sauerampfer tut sein Übriges für das direkte und kräftige Geschmacksbild. Der Teller strotzt nur so vor Umami, und ganz hinten, ganz spät, da thront der schmelzige Kaisergranat über dem bereits exzellenten Ganzen.

Der weiße Spargel mit Hühnerhaut und Estragon erinnert zum ersten Mal an klassische Tellerkompositionen. Der Spargel liegt geflämmt und fermentiert in einer Spargel-Estragonsauce, für den Knusper sorgen enorm intensive Hühnerhaut-Chips. Wer sich für die alkoholfreie Getränkebegleitung entscheidet, bekommt im Becher eine herzhafte Hühnerbrühe serviert – die dürfte unseres Erachtens immer eine Komponente dieses Gerichts sein. Ob mit oder ohne Brühe, geschmacklich gibt es hier nichts zu meckern. Lediglich wissen wir (ähnlich wie bei den Karotten) nicht recht, welcher Protagonist hier letztlich im Rampenlicht stehen soll. Oder anders gesagt, was kam zuerst: Huhn oder Spargel?

Es wird intensiver, die Aromen dichter: Den Dorsch mit Muschelaromen und gegrillten Dünenkräutern bekommen wir am neuen Chef’s-Table direkt vor dem Pass serviert. Die Filetstücke des Ostseedorschs wurden über sechs Stunden in Kombu mariniert, wir nehmen eine leichte Säure und Salzigkeit wahr. Ein enorm kräftiger Mies- und Schwertmuschelsud mit Saiblingskaviar potenziert den Fischgeschmack erheblich, hier und da schaltet sich das salzige Dünenkraut dazu. Ein blitzsauberer Gang und für uns, neben dem Karpfen, eine echte Blaupause für Müllers Stilistik. 

Zwischendurch schummelt uns der nonchalante Gastgeber Falco Mühlichen N25 Kaviar, weiße Erdbeeren, Taschenkrebs, Krustentieressenz und Rauch ins Menü. Eine auf dem Papier seltsame Kombination, die aber genau das tut, was sie soll: Uns auf die fleischigen (Haupt-)Gänge vorbereiten. Die weißen Erdbeeren sind eingelegt und geben ausschließlich Textur, der Rauch ist dezent eingearbeitet und überschattet die salzige Frische zu keinem Zeitpunkt. Wir möchten es gerne irgendwo eingravieren: Müller ist ein Meister der Propotionen.

Nicht nur der Name Salat, Knospen und Deichlamm macht klar, dass nicht zwingend das Stück Fleisch der Star des Tellers sein muss – auch optisch hat sich das Salatherz frech aufs Fleisch »gesetzt«. Im Gegensatz zu den anderen Löffeltellern können wir uns nun verschiedene Gabeln bauen, Kombinationen ausprobieren und uns auch mal gezielt einzelnen Komponenten widmen. Mal gewinnt die Frische des mit Hühnergarum gewürzten Ceasar-Salates, mal die herzhafte Salzigkeit des kräftig reduzierten Jus. An anderer Stelle ist es das grandios intensive, trockengereifte Stück Husumer Lamms, dessen Aromen durch eine hauchzarte Schicht Lammbauchfetts an Breite gewinnen. Ob in Kombination oder einzeln: hier stimmt alles.

Auch der Hauptgang, das deutsche Wagyu mit jungen Trieben und Lindenblütenessig lässt auf den ersten Blick kein Fleisch unter dem Blattwerk vermuten. Und an dieser Stelle haben wir nun das Gefühl, das viele Grün gar nicht wirklich zu brauchen; zu wunderbar röstig und intensiv schmeckt das Rind, steht klar im Zentrum unserer Gunst, dicht dahinter die knusprig ausgebackenen Stücke vom Knochenmark. Ein dichter Jus würde hier erschlagend wirken, dagegen funktioniert der leichte Sud aus Zwiebelgewächsen und etwas Wagyu-Fett prima.

Zwischendurch schickt uns die Küche einen Chip mit schmelzigem Tatar vom Wagyu-Herz, das durch eine dezente Jodigkeit von Nori-Alge ins Japanische driftet. Sehr gut.

Lärche, grüner Apfel und Wasserkefir macht genau das, was ein Pre-Dessert soll: originell erfrischen, ohne zu süß zu sein und mit zu vielen Ideen zu überrumpeln.

Das erste Dessert – Rhabarber, Roggen und Oxalsäure – ist komplex und nicht auf den ersten Bissen gefällig. Das Weizengrasgel und der Roggen (als Knusper und Muß) bringen eine Spur Frühstücksmüsli-Deftigkeit, dazu die Säure vom Rhabarber und die lediglich punktuelle Süße durch die weiße Schokolade. Sicher nicht für Jeden, uns aber gefällt diese Antithese zum klassischen Sweet Pleaser durchaus ganz gut.

Büffelmilch, Sanddorn und Eiskarotte schwingt dann schon eher die klassische Dessert-Fahne. Und zwar mächtig. Wie beim Hering zu Beginn des Menüs lässt das gekonnt austarierte Gemenge aus sauer, süß, kalt und fruchtig kaum eine Geschmacksrichtung unberührt. Das Ganze erinnert uns an ein sensationell gepimptes »Solero«.

Was für eine Werkschau! Marco Müller und sein Team haben die Corona-Zwangspause nicht nur für ein Interieur-Update genutzt, auch die Küche hat sich mächtig aufgefrischt. Selten erleben wir in Berlin ein derart eigenständiges Menü. Müller gelingt hier eine dramaturgisch nahezu perfekte Inszenierung von Land und See, die gleich zu Beginn in einer wohl einzigartigen Karpfen-Kreation vorab-gipfelt. Begeisterung blieb nur vereinzelt aus (Karotte, Spargel), zugänglich waren trotzdem – bis auf das etwas spröde Rhabarber-Dessert – alle Teller.
Spürbar harmonisch auch die Stimmung des Teams, das die Gelassen- und Vertrautheit vieler gemeinsamer Jahre ausstrahlt. Wir haben das Gefühl, dass hier im »Rutz« eine Art Zuhause entstanden ist, eine Umgebung, eine Heimat, in der ein Team sich wohlfühlen und ein Küchenchef sich weiter ausprobieren kann. Ganz entspannt. Schön, dass es so etwas gibt.

Chris Lippert

Wein

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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