
Mirazur - Hinterm Mond
Von Chris Lippert
Am äußersten Rand der malerischen französischen Küstenstadt Menton, praktisch unmittelbar an der italienischen Grenze, liegt eine der weltweit höchstdekorierten Fine-Dining-Destinationen: Mauro Colagrecos dreifach besterntes „Mirazur“. Wir haben das Restaurant des gebürtigen Argentiniers schon lange auf der Liste – nicht zuletzt, weil die Meinungen zu seiner biodynamischen Küche durchaus auseinander gehen.
… Doch zunächst kraxeln wir – wie alle Gäste, die das Exkursions-Angebot im Vorfeld des Essens wahrnehmen – in praller Sonne Meter für Meter hinauf zu einem der fünf Permagärten des Restaurants, die dank des subtropischen Mikroklimas förmlich wuchern; die Lage Mentons zwischen Berg und Meer macht’s möglich. Inmitten von Salaten, Blüten und Kräutern finden sich duftige Zitrusfrüchte, Bananenbäume und zahllose weitere Pflanzen, verteilt auf mehreren Etagen, wo bald auch exklusive Gästezimmer zur Übernachtung im Grünen einladen sollen. Knapp 90% der im Restaurant verwendeten Produkte stammen aus eigenem Anbau.

Uns wird der kulinarische Ansatz Colagrecos erklärt, der seit 2020 auf den Prinzipien der Biodynamik in Verbindung mit dem Mondkalender basiert. Dabei geht man – ähnlich wie bei Ebbe und Flut – davon aus, dass Mondphasen und -stellungen das Wachstum und die Qualität von Pflanzen beeinflussen. Deshalb wechselt alle zwei bis vier Tage das Menü, orientiert an den vier Phasen ebenjenen Wachstums, oder, wie es das Restaurant bezeichnet, „Universen“: Wurzeln, Blätter, Früchte und Blüten. Welche Speisefolge auf den Teller kommt, entscheiden nicht die Köche, sondern die Gezeiten, genauer gesagt: der jeweilige Stand des Mondes.
Zu Tisch – die nicht sattsehbare, im Sonnenuntergang funkelnde Riviera im Blick – erklärt uns der Service, dass man aufgrund dieses Konzepts pro Woche bis zu 250 verschiedene Gerichte annoncieren müsse. Uff.

Zum Chef und dem Restaurant: Der 49-jährige Mauro Colagreco (der heute nicht vor Ort ist) durchlief Stationen bei Größen wie Alain Passard, Alain Ducasse und Bernard Loiseau und eröffnete 2006 das „Mirazur“. Der erste Stern kam umgehend, fünf Jahre später der zweite, und 2019 erreichte Colagreco internationale Berühmtheit durch den Doppelpasch aus drittem Stern und Platz 1 auf der World's 50 Best-Liste. Neben dem „Mirazur“ betreibt er das Burgerkonzept „Carne“ in Argentinien sowie Gourmetrestaurants in (unter anderem) Bangkok, Dubai und London.
Wir sind gespannt: Welche Mondphase wird uns heute serviert? Die Antwort: Wir bekommen die „Frucht“, und nachdem die Bedienung dies mit einem etwas kryptischen „You’re lucky!“ ergänzt, beschleicht uns das vage Gefühl, hier einer gewissen kulinarischen Augenwischerei zu unterliegen. Vielleicht sind wir nach dem langen Intro und den strapaziösen Höhenmetern auch nur etwas „Hangry“. Zweifellos haben wir jetzt vor allen Dingen eines: ordentlich Appetit.

Ein Reigen aus kleinen Happen wird aufgetischt, darunter eine säuerliche, aber wenig salzige Cedra-Zitrus-Schnitte mit Thunfisch-Tartar und sehr „kauigem“ Teigboden (oben links), ein nahezu geschmacksneutrales Tamarillo-Tartelette mit Kaisergranat, Kirsche und allzu dickem Teig (Mitte oben), eine jodig-säuerliche Kalmar-Rolle mit Grapefruit und erneut etwas fest gearbeiteten Boden (Mitte links), cremige Pilzküchlein sowie heiße, fluffige Barbagiuans mit Yuzu-Füllung – das leidliche Highlight der Snacks. Diese Eröffnung ist ein ziemliches „Hit or Miss“, die Teilchen sehen filigran aus, schmecken aber wechselweise grob oder trivial, und wirken zudem so, als wären sie direkt aus der Kühlung geholt worden. Seltsam.

Der erste Gang, Zuckerschoten mit Gamberoni aus Sanremo, versöhnt dann – zumindest etwas: Gut dosierte, schnittige Säure trifft auf satte Meerigkeit. Dazu schmeichelt hauchzarter Lardo mit umamireichem Fett, während ein Sud aus Limette und Fingerlimes einen südostasiatischen Kick beisteuert. Das passt zum Wetter und zur sommerlichen Jahreszeit und irgendwie auch zur Region.

Dann: Ackerbohne mit Borretsch. Das Tartelette – oder eher: Törtchen – ist etwa so groß wie eine Untertasse und üppig belegt mit rohen Scheiben der Ackerbohne. Darunter findet sich eine dichte Creme vom Borretsch. Diese pointierte Produktschau passt zum Restaurant, zu seinen Gärten, ist vegetabil, „rough“ und sehr pur. Nur: Die schiere Größe dieses UFOs – dessen Teig erneut deutlich feiner gearbeitet sein könnte – macht es sehr mächtig und bringt einen unnötig eintönigen „Reformhauscharakter“ in eine Komposition, die bei dezenterer Dosierung sehr gut wäre.

Besser dagegen Birne mit Shiso und Hummer. Unter einer hauchdünnen Fruchtschicht verbergen sich süffige, leicht gekühlte Tranchen der Krustentierscheren, deren Meerigkeit ganz hervorragend mit der eleganten Süße des Kernobstes harmoniert. Dazu ein fermentierter, mit Shiso infusionierter, erfrischender Sud von der Williamsbirne. Auf Dauer wirkt das Ganze vielleicht etwas zu fruchtsüß, ist aber in insgesamt sehr gelungen.

Das ligurische Pigna, etwa 25 Kilometer entfernt, feiert seine weißen Bohnen, die „Fagioli di Pigna“, in einem Eintopfgericht, das Pate für die nun servierte Kreation stand. Traditionell serviert man das deftige Süppchen mit Schweinefleisch, das sich hier nun als dichter Jus wiederfindet. Etwas Salbeiöl bringt Frische in das durchaus gute, aber erneut nicht beeindruckende Eintopf-Gefüge. Auf den Bohnen ruht ein Tintenfisch aus Villefranche, der für sich genommen hervorragend schmeckt, aber der schieren Größe und Festigkeit wegen keine Harmonie mit den anderen Teilen des Tellers bildet.

Morcheln und Bärlauch werden begleitet von einem pochierten Wachtelei und sehr jungen, winzigen, in Butter geschwenkten Kartoffeln. Die Proportionen passen hier hervorragend; zwar dominieren in Summe der Bärlauch – als lauwarme, sanfte Creme, Blätter und Blüten – und die saftige Erdigkeit der Pilze, aber der wächserne Biss der olivengroßen, exzellenten Kartoffeln verleiht einen rustikalen Kick und holt das Gericht aus der Gefälligkeitsblase. Gut – aber Weltklasse ist das immer noch nicht.

Der „Catch of the Day” ist Steinbutt, begleitet von einer mit Zitrusfrüchten aromatisierten Beurre blanc. Das funktioniert erstmal gut: Der Fisch ist glasklar gegart, die Buttersauce prima gebunden und temperiert. Aber die Idee, dass eine Unmenge diverser Crunch-Blättchen obenauf – darunter ein fettiges Krupuk – dieses Duo komplettieren könnte, ist kulinarischer Irrsinn. Die Chips sind viel zu dominant und machen das Gericht trocken und spröde. Wir beseitigen also alles Knusprige, übrig bleibt: solider Fisch mit guter Sauce.

Als „Olive und Taube“ wird die Hauptspeise annonciert. Optisch etwas in die (2000er)-Jahre gekommen, zersprengt sich hier so einiges auf dem Porzellan: Italienische Olive – roh, als Püree und als Tapenade – reiht sich an süßliche, mit intensivem schwarzen Knoblauch lackierte Schalotte und ein Dinkelrisotto. Die Taube wurde im Ganzen „à l'ancienne“ gegart, also „nach alter Art“. Dabei berührt das Fleisch niemals den Pfannenboden, sondern das Täubchen wird so lange mit heißer Butter übergossen, bis es den richtigen Garpunkt erreicht. Das Fleisch ist über jeden Zweifel erhaben, vor allem das winzige Keulchen schmeckt bezaubernd hauchzart. In Summe bleibt das sehr gut, lässt sich aber in seiner Anrichte-Zerstreutheit kaum richtig fassen. Zudem driftet die Temperatur der einzelnen Komponenten dadurch sehr schnell ins kaum mehr Handwarme. Etwas kompakter wäre gleich köstlicher.

Erdbeeren, Rhabarber-Confit, Rucola-Sauce und Yuzu-Ziegenkäse-Eis leiten erfrischend vom Herzhaften ins Süße über und überzeugen mit stimmiger Balance zwischen feinherben und fruchtigen Aromen.

Der Name des Desserts, „Naranjo en flor“, verweist auf den berühmten argentinischen Tango und schlägt damit eine Brücke zu Colagrecos Herkunftsland. Die Nachspeise soll „die sinnliche Bewegung des Tanzes in Aromen übersetzen“. Mit dabei: Ein kaum fruchtiges, dafür kühl-erfrischendes Orangensorbet sowie Safran-Mousseline und Mandelschaum unter einer Zucker-Orangen-Geleescheibe. Am Boden finden sich außerdem ein paar texturgebende Cashews. In Summe eine sehr cremige, im Gegensatz zum Namen allerdings wenig floral-süße Kreation, die irgendwie gefällig schmeckt, aber – erneut – nicht so richtig funkt.

Zum Kaffee ein „paar“ Madeleines mit einer Schüssel Sahne. Sehr gut – wenngleich mengenmäßig (wir sind zu zweit) kaum vertilgbar.

Als Art „Palate Cleanser“ rollt man zu guter Letzt einen „Zitruswagen“ an den Tisch. Blutorange, Bergamotte, Buddhas Hand, Yuzu und eine Reihe weiterer Fruchtabschnitte werden mit einem Milcheis zerstoßen, daraus entsteht eine dezent bittere, leicht saure und angenehm kühlende Melange. Ausgesprochen gut. Den Wagen und das ausufernde Annoncieren bräuchte es für uns allerdings nicht.

Puh. Wir nehmen noch ein frischgezapftes Bier in einem der „Troquets“ von Menton und besprechen das bald Verdaute.
Man kann es nicht schönreden: Nichts, was wir heute verspeisten, lässt uns die Reputation des „Mirazur“ nachvollziehen. Von den leidlich gearbeiteten Snacks zu Beginn, über die Unausgewogenheit der ersten Gänge bis zum irritierenden Textur-Chaos beim Steinbutt hat uns kein Gericht wirklich begeistert. Okay, Birne mit Hummer sowie Bärlauch-Morchel mit Kartoffel – zwei sehr gute Gerichte, aber beileibe nicht das, was wir uns unter Dreisterneküche vorstellen, oder um es noch ketzerischer zu formulieren: Vielleicht wollten wir in all der Mittelmäßigkeit nur etwas „sehr gut“ finden, was woanders gehobener Standard wäre.

… und welche Relevanz genau hatten nochmal Permagärten, Biodynamik und Mondzyklen? Auf den Tellern und beim Annoncieren fanden wir dieses Narrativ nicht wieder. Ob man zwischen den vier „Menü-Universen“ Unterschiede schmeckt, lässt sich wohl nur herausfinden, wenn man sie alle einmal probiert. Lust darauf haben wir nach der heutigen Erfahrung eher nicht.
Übrigens: Dass die Region um Menton, die französischen Riviera und das angrenzende Ligurien kulinarisch enorm mitreißend sein kann, beweist tags darauf das junge Team vom „Balzi Rossi“ in Ventimiglia: nur wenige Gehminuten entfernt – und doch eine andere Welt.
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