Restaurantkritik  4.Juni 2025

Balzi Rossi - Die Sonne auf dem Teller

Von Kai Mihm

Von der südfranzösischen Küstenstadt Menton aus kann man in wenigen Minuten zu Fuß nach Italien spazieren. Genau so machen wir das heute, um unseren Mittagstisch zu erreichen. Wir haben im Ristorante Balzi Rossi reserviert, das unmittelbar hinter der Grenze direkt am bzw. über dem Meer gelegen ist – eine malerische Situation, die das etwas spröde Umfeld, etwa einen direkt hinter dem Restaurant gelegenen Hotelbunker, sofort vergessen lässt.

Ich wurde durch eine Empfehlung in den sozialen Medien auf das Restaurant aufmerksam. Küchenchef Enrico Marmo, hieß es da, kultiviere im ‹Balzi Rossi› eine gradlinige, fest in Ligurien verankerte und vor allem sehr schmackhafte Küche. Genau richtig für einen entspannten Lunch nach dem langen Abend im fünf Minuten entfernten ‹Mirazur› (Bericht folgt). 

Das Restaurant selbst, so recherchiere ich, gibt es bereits seit 1982. Unter der damaligen Inhaberin und Chefköchin Giuseppina Beglia hatte es bis 2002 zwei Sterne und war italienweit bekannt. Mit Beglias Ruhestand übernahm 2022 Enrico Marmo die Küche und hält seither einen Stern. Es sind solche Momente, in denen einem bewusst wird, wie wenig man doch – im Vergleich etwa zu Frankreich – über die kulinarisch-gastronomische Szene und Historie Italiens weiss.

Wir sind um Punkt halb eins die ersten Gäste. Der Gastraum gefällt mit einer schlichten, geschmackvollen Gestaltung, doch das Wetter ist so großartig, ...

… dass wir auf der Terrasse Platz nehmen – direkt über dem Meer, die wärmende Sonne im Gesicht und das Wasser zum Greifen nahe. Eine Situation wie aus einem Giuseppe-Tornatore-Film. Tief durchatmen, ankommen, ein Schluck Wasser, den Blick schweifen lassen … manchmal können wir unser Glück kaum fassen. Erst Èze, nun das hier. Dieser Trip, so viel ist sicher, wird nicht zuletzt wegen der einzigartigen Settings in Erinnerung bleiben.

Da es ein festes Menü gibt (sieben Gänge, 140 €), müssen keine großen Entscheidungen mehr getroffen werden; die Weinfrage lösen wir angesichts des sympathisch-enthusiastischen Sommeliers mit dem Pairing. Sein annoncierter Fokus auf naturnahe und regionale Weine verspricht interessante Entdeckungen.

Sogleich stehen die Amuse-bouches auf dem Tisch: Ein hauchdünner, mit Algen und Salbeipulver aromatisierter Brotcracker schmeckt spannender, als man denken könnte und bietet kurzweiligen Knabberspaß. Ein krosser Sandwich auf Basis des ligurischen Traditionsgerichts Panissa (eine Creme aus Kichererbsenmehl) ist mit Rosmarin gewürzt und mit zartem Tintenfischlardo gefüllt – filigran und vollmundig. Das Highlight des Trios bildete eine enorm fein gearbeitete, knusprige Kartoffeltartelette mit Artischockencreme, duftig-zitrischer Studentenblume und 36 Monate gereiftem Parmesan – ein Hochgenuss, der vertraute Komponenten auf ungeahnt feine Weise inszeniert. Sehr stark, das alles.

Der erste Gang präsentiert Seehecht, auf der Haut appetitlich kross gegrillt. Qualität und Garung des Fischs sind nicht nur makellos – sie sind herausragend. Eine aufgeschäumten Beurre blanc verleiht dem zarten, aromatischen Filet Fülle, darunter verbirgt sich ein Avocadopüree, dem Erbsenschalen (!) leichten Biss und Struktur geben. Das einzige, was dem Ganzen fehlt, ist eine gute Prise Salz. Das ist etwas bedauerlich, kann die Güte des Gerichts aber kaum schmälern.

Das nächste Gericht betört mit einer klaren, puren Ästhetik: auf einem schneeweißen Teller mit meerblauem Rand liegt ein auf Holzkohle gegrillter Scampo aus der nahen Küstenstadt Oneglia. Dazu gibt es lediglich eine Sauce aus Butter und marokkanischen Salzzitronen. Die feinen Rauchnoten und die nussige Süße des Krustentiers verbinden sich mit der buttrigen, fruchtig-bitteren Salzigkeit der Emulsion zu einem vollkommenen Hochgenuss. Mehr gibt es da nicht zu sagen. Das hätten wir gerne gleich nochmal, und dann noch fünf Mal – und wären restlos beglückt. Eine Götterspeise.

Das Niveau lässt kaum nach. Dünn aufgeschnittener, leicht erwärmter Thunfischbauch von exzellenter Qualität ist mit einer seidigen Seeigel-Reduktion und einem Ragout aus Tintenfisch-Köpfen bedeckt. Ein fantastischer Meeres-Dreiklang aus dem luxuriösen Schmelz des fetten Thunas, der süßlichen Jodigkeit der Sauce und dem etwas herberen Biss des Ragouts. Sogar ein paar Stängel Löwenzahn machen Sinn, denn deren prononcierte Bitterkeit lockert das Geschmacksbild auf. Das ist absolut großartig, und lediglich die teilweise etwas knorpeligen Tintenfischstückchen verhindern, dass wir direkt eine zweite Götterspeise ausrufen.

Eine schöne Gewissheit ist in italienischen Restaurants der obligatorische Pastagang. Hier nun sind das hausgemachte Bärlauch-Tagliatelle – nicht unbedingt mein liebstes Kraut, doch der Geschmack ist dezent und die Nudeln haben angenehmen Biss, al dente, aber naturgemäß weniger fest, als bei pasta secca. Eine Butter-Parmesansauce macht sie geschmeidig und süffig, Thunfisch-Bottarga liefert maritimes Umami, ein Tintenfisch-Tatar zusätzlichen Biss und feine Meeresfrische. Die Sonne strahlt, der Teller ebenso und wir erst recht.

Das Hauptgericht, Roter Schnapper, wird in zwei Gängen serviert. Zunächst gibt es den über Holzkohle gegrillten, mit Apfelessig glacierten Kopf des Fischs. Am Tisch löffelt der Service noch sämige Ciuppin darauf, eine traditionelle ligurische Fischsuppe. Man muss etwas herumprobieren, um die essbaren Teile des archaisch anmutenden Kopfs zu finden: das Bäckchen und die Kiemenbacken lassen sich herauslösen, butterzart, durch Glasur und Sauce süßlich-herb. Viel ist das nicht, aber es schmeckt hervorragend.

Anschließend wird das gedünstete Filet des Schnappers serviert, getoppt von einem gerösteten Stück Kalbsbries, dessen Struktur und milder Geschmack erstaunlich gut zum festfleischigen Fisch passt. Eine intensive Perlhuhnreduktion rundet die verblüffende Kombi aus Fisch, Fleisch und Gefügel ab, wirkt durch die Beigabe von Honig jedoch etwas zu süß, während am Fisch erneut eine gute Prise Salz fehlt – diesmal lassen wir das Nachreichen, und prompt schmeckt die Sache gleich viel balancierter. Solche Details lassen den Gang zwar schwächer als alles vorherige wirken, aber sehr gut ist er immer noch.

Das Dessert kombiniert Schokolade und Olive, eine in Italien nicht seltene Verbindung. Ekuadorianische Zartbitterschokolade (75%) wurde mit Acquafaba (Kochwasser von Hülsenfrüchten, das sich aufschlagen lässt und oft als Eischnee-Ersatz in veganen Rezepten verwendet wird) zu einer Ganache verarbeitet und ist mit Olivenpulver und knuspernden Schokoplättchen bedeckt. Ein Spritzer regionales Olivenöl aus Taggiasca-Oliven verleiht dem dichten, intensiven Ensemble eine feinherbe Fruchtigkeit. Sehr gut auch das.

Schlichtweg grandios geraten dann die Petit Fours in Gestalt wolkenfluffiger Mascarpone-Windbeutel – kaum vorstellbar, dass man das besser machen kann.

Mit dieser Götterspeise in miniatura klingt der höchst entspannte und zutiefst befriedigende Mittag aus. Auch jenseits des wundervollen Settings sind es solche Restaurants, die ich nicht nur in Deutschland schmerzlich vermisse, die es so aber vielleicht nur in Italien geben kann. Man balanciert hier zwischen authentischer Gradlinigkeit und pointierter Kreativität, zwischen stolzem Traditionsbewusstsein und sanften Modernisierungen. Alles lässig, unverkopft und vor allem köstlich – das vom Michelin attestierte Niveau wurde mehr als einmal klar überstiegen.

Für Chris und mich geht es weiter nach Nizza, am Abend ein paar Weinbars unsicher machen – Mangia bene, ridi spesso, ama molto. Morgen steht zum Abschluss ein Drei-Sterne-Klassiker in Monte-Carlo auf dem Programm. Gelohnt hat sich die Reise schon jetzt.

Wein

Alphonse Mellot - Sancerre "La Moussiere" 2022 
Cà di Frei - Vermentino "Insieme" 2023 
Gerardo Mendez - Albarinho "Do Mendez" Terrazza Singhie - Tre Cru 2022 
Roberto Rondelli - Rossese di Dolceacqua "Marne Blu" 2023 
Rocche del Gatto - Pigato "Senza Tempo" 2011 
Stefano Legnani - Bamboo Road 2022

Fragen an den Suffmeister (a.k.a. Sommelier) Pietro Avellis

Anzahl der Positionen auf der Liste
Wir haben etwa 350 Weine in unserer Weinkarte, ich halte sie gerne recht klein, um sie regelmäßig mit neuen Weinen aktualisieren zu können.
Haben Sie einen besonderen Schwerpunkt in der Weinkarte?
Das Hauptaugenmerk liegt darauf, eine sehr gute Auswahl an Weinen anzubieten, die sonst nirgendwo zu finden sind. Natürlich liegt der Schwerpunkt auf lokalen Weinen, aber ich verkaufe auch gerne Flaschen aus der ganzen Welt, damit meine Gäste Weine entdecken, von denen sie noch nie gehört haben.
Welches ist Ihre günstigste/teuerste Flasche und wie viel kostet sie?
Unser billigster Wein ist ein lokaler Vermentino zum Preis von 40 €, während der teuerste Wein ein Chateau Petrus 1996 für 5.400 € ist.
Die ungewöhnlichste Rarität?
Ich würde sagen, der Oro 2008 von Peyre Rose; es ist ein Weißwein aus dem Languedoc Roussillon, im südlichsten Teil Frankreichs, hergestellt aus drei verschiedenen Trauben (Viognier, Rolla, Roussanne). Es ist wirklich ein erstaunlicher Wein, man würde nie sagen, dass er schon so alt ist, da er immer noch sehr frisch schmeckt.
Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Der Monpigat von La Sovversiva, ein lokaler Weißwein, der in den Bergen über Imperia hergestellt wird. Er ist eine Mischung aus den beiden typischen Weißweinsorten der Region, Pigato und Vermentino, aber der Stil ist sehr ungewöhnlich, da der Erzeuger sowohl für die Weinbereitung als auch für die Reifung neue Eiche verwendet und so einen Wein erzeugt, der wie ein französischer Wein schmeckt. Er nennt ihn Monpigat, um an Montrachet zu erinnern.
Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Der Pinot Noir von Scheuermann, ein kleines Weingut in Deutschland, in der Nähe von Freiburg, das wirklich außergewöhnliche Weine herstellt; es ist ein Pinot, der an einen Burgunder erinnert, einen sehr guten sogar.
Ihr persönlicher Lieblingswein? Und warum?
Das ist eine wirklich schwierige Frage, weil ich Wein wirklich liebe und ich wechsle fast täglich meinen Lieblingswein! Wenn ich mich jetzt für einen entscheiden müsste, wäre das der Métisse von Oliver Horiot; das ist ein Champagner aus Riceys, im südlichsten Teil der Champagne. Der Stil ist oxidativ, aber er bewahrt eine hohe Säure; er ist wie ein kleiner Selosse, aber viel günstiger!
Der ungewöhnlichste (weinbezogene) Gastwunsch, mit dem Sie je konfrontiert wurden?
Darüber könnte ich wahrscheinlich ein Buch schreiben; ich erinnere mich an eine Gästin, die vor einigen Monaten von mir verlangte, dass ich eine Weinbegleitung nur mit Weinen zusammenstelle, deren Trauben von Hand geerntet wurden.

Umfrage

Italienische Spitzenrestaurants – wie sind Eure Erfahrungen?

 

Das könnte dich auch interessieren