Die inneren Werte
Von der Schänke für Fuhrleute zur heutigen Feinschmecker-Institution der gesetzteren hanseatischen Hautevolee, die gefühlt aus rüstigen Reedern und weit gereisten Kaffeeröstern besteht, war es gewiss ein längerer Weg als unsere Taxi-Fahrt aus der Hamburger Innenstadt hinaus an die Elbchaussee in Othmarschen. Schließlich reicht die Geschichte als Gasthaus zurück bis ins Jahr 1840, und bereits seit 39 Jahren firmiert das von den Eheleuten Armin und Emmi Scherrer gegründete Restaurant als Landhaus Scherrer.
So atmet auch das Ambiente Geschichte und spiegelt mit seiner Patina und der leicht in die Jahre gekommenen Optik hanseatische Gediegenheit wider. Es gefällt oder irritiert – je nach Blickwinkel – mit skurrilen Stilbrüchen wie erotischer Kunst und exzentrischen Platztellern. Auf jeden Fall hat das Interieur Charakter, und das passt definitiv zum Hausherrn.
Von 1980 bis heute ist der Name Heinz Otto Wehmann mit der Entwicklung des Restaurants eng verwoben. Der 1955 geborene Ostwestfale hat das Gastronomie-Gen vermutlich von seiner Mutter geerbt, die als Köchin arbeitete. Es verschlug ihn nach seiner Ausbildung in der Heimat nach Hamburg in die Küche des Hotels Atlantic. Nach seiner Meisterprüfung wechselte er von seiner Position als stellvertretender Küchenchef vom Hotel an der Alster näher an die Elbe ins Landhaus. Dort ist er seit 1981 Küchenchef und seit dem Tod Armin Scherrers 1982 gemeinsam mit Emmi Scherrer Inhaber des Landhauses. Mangelnde Geschäftstüchtigkeit können wir wahrlich nicht ausmachen: Das kulinarische Imperium besteht aus Gourmetrestaurant, Bistro und dem Imbiss Ö1. Dazu gesellen sich Kochkurse, Fernsehauftritte sowie Caterings, und natürlich dürfen die bekannten Vierländer Enten ‒ eine von Wehmann geprägte, regional aufgezogene Kreuzung von Pekingente und Stockente ‒ nicht fehlen.
Viele der heute hochdekorierten Köche wie Nils Henkel, Thomas Bühner und auch Patrick Bittner durchliefen bei Heinz O. Wehmann eine lehrreiche, aber harte Schule. Wenn wir verschiedenen Aussagen Glauben schenken dürfen, gehört „strenger Lehrmeister“ noch zu den charmanten Umschreibungen Wehmanns. Einige der Chefs beteuern noch heute, dass sie nach der Zeit in Hamburg nie wieder ein auch nur annährend lautes Organ vernommen hätten – weder unter Humanoiden noch im Tierreich.
Doch heute sind wir im Landhaus Scherrer nicht aufgrund dieser imposanten Eckdaten des stattlichen Küchenchefs zu Gast, sondern weil uns die frohe Kunde erreichte, dass auf Verlangen ein reines Innereien-Menü serviert würde. Was für die einen die absolute Ekel-Küche darstellt, ist für andere ein selten gewordener Hochgenuss. Gerade in Zeiten von Nose-to-tail freuen wir uns über jedes noch so kleine und authentische Revival. Vor Beginn des Menüs beschäftigen uns jedoch noch zwei Fragen: Würde uns der Einsatz von Butter und Sahne erschlagen? Und was passiert beim Dessert? Mit letzterem Thema würden wir dem Service dann auch weiterhin auf die Nerven gehen...
Das dreiteilige Amuse-gueule besteht aus Sylter Zickleinzunge im Kohlrabi, Marksüppchen vom Auerochsen mit Klößchen und Kalbsleberroulade mit Lachs und Gurke. Das ist süffig und hat Tiefe, besonders die Roulade gefällt uns mit ihren wunderbaren Schmornoten. Bei der Zunge überzeugt die Kombination aus Kohlrabiaromen und Fleisch.
Die Kalbskutteln mit Linguine im Champagne Sinigrin mit Roter Bete wirken auf den ersten Blick wie ein klassisch zubereitetes Innereien-Gericht, bei dem die Küche dem intensiven Geruch und gerade dem Geschmack durch Sahne und Aromatisierung zu Leibe rückt. Dennoch bleibt hier die Charakteristik der Vordermagen-Streifen deutlich erkennbar. Durch das Senfaroma Singrin und den Koriander entpuppt sich das Gericht als leichter als gedacht, da die Gewürzgurken-Elemente Säure und die Rote Bete Erdigkeit und Süße hinzufügen.
Beim Lungenragout mit Graupengemüse und Eidertaler Auerochsenschwanz-Fournier auf Markbrot erinnert uns die Zubereitung der Kalbslunge an ein ausgezeichnetes Beuscherl, das hier jedoch von einer Art Sauce Américaine geschmacklich akzentuiert wird, die mit Paprika und Tomate aromatisiert wurde. Textur und intensive Deftigkeit steuert das gute, mit dem geschmorten Ochsenschwanz-Fleisch gefüllte Markbrot bei. Für auflockernde grüne Knackigkeit sorgt wilder Spargel, der die erschlagende Opulenz gelungen aufbricht. Sehr gut.
Bei den bisher servierten Gängen wich das Anrichten deutlich von der angesagten Tellergeometrie und Saucentupferei ab – wobei dieser Sonderstatus beim gefüllten Knochen mit Bries, Krebsen und Kalbskopf à la Mock turtle noch getoppt wird. Was sich aus dem Knochen auf den Teller ergießt, ist schlicht großartig: Die norddeutsche Spezialität Mockturtlesuppe heißt zwar so, enthält aber keine Schildkröte, sondern basiert hier auf einer Knochensuppe, in der das Bries und der Kalbskopf eine wunderbare Melange eingehen.
Noch regionaler wird es bei Plockfinken mit Milzschnitzel, geräuchertem Pilgermuschelspeck und Lakritz-Öl. Der für Hamburg typische Mehlschwitze-Eintopf aus Brühe, Möhre und Rauchfleisch ist entschlackt und durch aromatische Verschiebung (Bohnen und Bohnenkraut sowie Raucharoma durch geräucherte Muschel) interpretiert. So vermeidet die Küche einen eindimensionalen Mischgeschmack, erreicht aber dennoch eine Einfassung des ziemlich intensiven Milzaromas. Zugegeben, Milz ist auch für uns eine Innerei, die wir nicht täglich brauchen, die hier aber positiv in Erinnerung bleibt.
Doch plötzlich fühlen wir uns wie beim Captain's Dinner auf dem Traumschiff: großer Aufmarsch der stolzen Küchenbrigade mit Tranchierwagen für Fleisch und Wunderkerzen für die Kalbsniere im Ganzen mit Rosmarin und gebratenem Spargel. Das nennen wir mal eine imposante Bühne für Tableside Action! Zu Recht, denn der eher selten servierte Nierenbraten ist herrlich aromatisch und im Inneren perfekt rosa. Begleitet wird dieses Gericht alter Schule dann moderner von Balsamico-Jus und mit Sesamöl abgerundeten, knackig gebratenen Spargel. Nicht nur wir haben unseren Spaß, auch die Köche freuen sich, und Wehmann strahlt. Es bleibt die Frage, ob dieses Effilee bei jeder Bestellung der Niere stattfindet, oder nur, wenn der Herausgeber des besten deutschen Food Magazins Geburtstag hat?
Weil wir dem Service offensichtlich penetrant genug in den Ohren lagen und er unsere Sticheleien weitergab, hat sich die Küche kurzfristig ins Zeug gelegt und tatsächlich ein Innereien-Dessert kreiert: Grützwurst-Eis mit Rhabarbersalat und gratiniertem Gänselebermilch-Schnittchen. Respekt für dieses spontane Gericht, das erstaunlich stringent und kaum improvisiert schmeckt. Es kommt zwar mächtig daher und ist nicht unbedingt für den täglichen Genuss konzipiert, dennoch gewinnt das Eis durch die dezente Würzung mit der kräftig aromatisierten – wegen der blutrünstigen Optik in manchen Regionen auch „Tote Oma“ genannten – Blutwurst. Auch taucht die dessertartige Zubereitung der Gänseleber hier an der richtigen Stelle auf. Mutig!
Für die handgeschöpften Pralinen aus Lakritz, Rhabarber, Kokos, Maracuja und Safran sind wir an dieser Stelle leider zu satt und lassen sie uns für die Bahnfahrt gen Heimat einpacken. Dort schmecken sie den Liebsten mal wieder hervorragend ‒ nur die Lakritz-Variante stößt auf wenig Gegenliebe.
Auch wenn Heinz O. Wehmann es mit seiner Aussage "Wir kochen leichter, als ich aussehe" bereits in unsere Rubrik Neulich im Restaurant geschafft hat, ist seine Küche in Summe klassisch geprägt und somit auch etwas mächtiger; am Ende verspüren wir ein deutliches Sättigungsgefühl. Die mitunter dafür verantwortliche Hüftgold-Kombination aus Sahne und Butter sorgt geschmacklich für Harmonie und bisweilen auch Gefälligkeit. Die bei Innereien und anderen besonders animalischen Teilen oft drohende Kaschierung mittels der Milchprodukte umschifft die Küche erfolgreich mit einem zeitgemäß höher dosierten Anteil von Fonds und Brühen in den Saucen. Natürlich bleibt solch ein Menü etwas für ausgesprochene Liebhaber, und auch uns gelüstet es sicherlich nicht jeden Tag danach. Wir lieben die Modernisten und die Avantgarde – genießen aber auch gerne die Klassiker, wenn sie derart lustvoll rüberkommen. Diese Lust am Essen drücken übrigens auch die frivolen Platzteller und das großformatige Foto eines orgiastischen Gelages im Gastraum aus.
Einen weiteren Aspekt wollen wir nicht außer Acht lassen: Mag eine Ausbildung im Landhaus Scherrer hart sein – der angehende Koch lernt hier alles über die Verarbeitung von Teilen, die nicht als vakuumiertes und fertig gewürztes Filet im Fleischgroßhandel erhältlich sind. So werden wertvolle Kenntnisse der klassischen Küche vermittelt, die uns hoffen lassen, dass Heinz Wehmann noch lange in seiner Küche "wütet"!
Fazit
Mächtig (und) gut – im Landhaus Scherrer serviert uns Heinz O. Wehmann ein reines Innereien-Menü, das durch Geschmack, aber auch Feinabstimmung beeindruckt.