Restaurantkritik 12.September 2015

Neue deutsche Küche

Nur wenige Berliner Restaurants haben in den vergangenen Jahren so viel mediale Aufmerksamkeit erleben dürfen wie Tim Raues "La Soupe Populaire". Das Konzept ist so simpel wie einzigartig, und man sollte meinen, Berlin habe derartige Lokale bereits in Hülle und Fülle zu bieten - doch Fehlanzeige. In Zusammenarbeit mit seinem dortigen Küchenchef Michael Jaeger widmet sich Raue im Ortsteil Prenzlauer Berg als einer der wenigen Spitzenköche Klassikern der preußisch-berliner bis gesamtdeutschen Küche, wobei der Restaurantname Bezug auf die französische Institution einer Armenspeisung nimmt. Selbstverständlich stehen bei dem Volksküchen-Konzept auf dem lange brachliegenden Gelände der einstigen Bötzow Brauerei die Zeichen der Zeit auf "casual dining", so dass wir uns für den anstehenden Lunch nicht mit unseren preußischen Gardeuniformen aufbrezeln mussten.

Der Schick einer alten, stillgelegten Bierbrauerei – genauer gesagt der ehemals größten Privatbrauerei Berlins – wird kaum verfälscht. Im Gegenteil: Das rustikale Mobiliar verstärkt den Eindruck, dass man sich dem ästhetischen Gefühl des großen, kahlen Raumes unterordnet. Neben der Kulinarik kommen auch Kunstfreunde dank wechselnder Ausstellungen internationaler Künstler auf ihre Kosten, wobei uns die Fusion der Werke auf Tellern und Wänden besonders begeistert. Was wir auf und an den Tischen sehen, ist bunt zusammengewürfelt: kleine, farbenfrohe Kissen auf den harten Holzstühlen, ausschließlich tiefe Teller von der Königlichen Porzellan-Manufaktur, gemischte Besteckkollektionen und kleine, dünne Fussel-Stoffservietten. Das alles dürfte konservative Gourmets zwar skeptisch stimmen, lässt aber bei unserem Ur-Berliner Sternefresser Erinnerungen an das Ambiente bei Großmutters Sonntagsbraten wach werden. Ob jedoch die Gerichte mit Omas eigens hochgelegter Messlatte mithalten können, wird sich zeigen …

Mit Bauernbrot, Wachauer Würstchen und Spreewaldgurken bekommen wir klassische Bierbegleiter  (in diesem Fall zum weniger männlichen Rosé-Champagner) auf den Tisch. Die geräucherten Würstchen werden nach Tim Raues Rezeptur und Vorgabe hergestellt – das merken wir spätestens beim Gaumenfeuer durch getrocknete Chili. Auch die eingelegten Cornichons haben eine leichte Breitwand-Schärfe, die gut mit dem sauren Sud harmoniert. Dazu gibt es mit einer Meerrettichbutter eine willkommene Alternative zum traditionellen, mächtigen Schweineschmalz. Einfach und rustikal, dabei gut.

Mit der Lammrippe auf gelben Bohnen mit Honig und Trauben zeigt das Küchenteam, dass deftige Küche durchaus mit Finesse zubereitet werden kann. Vorbild ist der klassische Bohneneintopf, der durch säuerliche Beeren-Noten aufgefrischt wird. Die süßliche Kruste des mit Honig glasierten Fetts, die spitze Säure des Beerengelees und die süß-sauer eingelegten Wachsbohnen schaffen eine gelungene Kombination, in der schaumigen Bohnencrème als Brücke zwischen den Aromen agiert. Lediglich das Lammfleisch selbst erscheint uns einen Tick zu trocken. In Summe ein gelungenes Gericht, das auf dem Teller komplexer ist, als die einfachen Zutaten uns vermuten ließen.

Nicht nur Berliner kennen den Rollmops, ein über mehrere Wochen sauer-salzig eingelegtes und zusammengerolltes Heringsfilet mit einer Füllung aus Saurer- oder Gewürzgurke und Zwiebel, das oft schon als rettendes Katerfrühstück herhalten musste. In der Küche des La Soupe Populaire wurde der Mops auf links gedreht und in seine Bestandteile zerlegt. Neben den dünnen Scheiben der butterzarten Matjesrollen (Hering vor Erreichen der Geschlechtsreife) findet sich die Füllung auf dem Teller: Die eingemachte junge Karotte hat einen tollen Biss und erreicht in Verbindung mit den sauren Gurken und den eingelegten Senfkörnern ein hohes Säureniveau, das durch die süffige Remoulade, die Gurkenkugeln sowie die röschen Bratkartoffel-Würfel ausgeglichen wird. Der frische Dill ist einem Grundton gleich stets präsent. Ein energischer und gleichsam durchdachter, großartiger Teller.

Der folgende Gang ist bereits nach zwei Jahren eines der beiden Signature Dishes des eigenwilligen Restaurants: Senfei, Rote Bete und Saiblingskaviar. Senfei gehört zu den Klassikern der deutschen Küche, und sofort werden bei uns Geschmackserinnerungen an frühkindliche Schulfreizeiten, später die Mensa oder das Kantinenessen wach – sie platzen beim Probieren jedoch wie eine Seifen- bzw. Senfblase: Michael Jaegers Variante bekommt durch die Zugabe von Saiblingskaviar einen erfrischenden und überlegten Dreh, der dem wachsweichen Ei immer wieder den nötigen Textur- und Salzkick gibt. Die Senfsauce ist überraschend leichtfüßig und wurde mit feinen Pfeffer- und Schärfenoten abgeschmeckt – fast schon erfrischend. Als wir beim gierigen Löffeln auf die Rote Bete stoßen, gehören auch negative Kindheitserinnerungen endgültig der Vergangenheit an: Statt säuerlich eingelegt und so alles mit ihrem kräftigen Aroma übertünchend, bringt die Bete hier eine überaus erdige Eleganz ins Gericht. Bei dieser Vielzahl raffinierter Würze hätten die Kartoffelchips etwas weniger Salz vertragen können. Dennoch ein hervorragendes Gesamtpaket – köstlich!

Bei der Leber "Berliner Art" mit Apfel und Zwiebel verschlägt es sogar unserer Berliner Schnauze am Tisch kurz die Sprache – unzählige Male hat er dieses „berlinerischste“ aller Gerichte schon gegessen, aber nicht wie in der Bötzow-Brauerei: Kontrovers herb und somit sicherlich nicht jedermanns Sache, ist dieser derbe Gang für uns ein kleiner Traum eines Alltagsgerichts. 

Das ursprüngliche kulinarische Wirkungskonzept ist schnell erklärt: Der bitter-tranigen Rinder- oder Kalbsleber werden die Säure und Knackigkeit des Apfels sowie die Röstaromen der Zwiebeln entgegengestellt – ein reichhaltiger Dreiklang. Hier greift eine durchdachte Akzentverschiebung: Die Kaninchenleber kommt geschmacklich weniger brachial daher und hat eine feinere Konsistenz. Die Zwiebeln sind in Teig ausgebacken und als in Rotwein gegarte Perlzwiebeln gleich im Doppelpack auf dem Teller; die Äpfel sind als säuerlich-süße Würfel recht pur belassen. Als Bindemittel wirkt ein äußerst sämiges und fein gewürztes Kartoffelpüree. Einzige Wermutstropfen: Die bittere Vogelmiere ist etwas zu stark vertreten. Dennoch ist dieses Gericht nicht umsonst Stammgast auf der Karte – gute Produkte treffen auf ausgezeichnetes Handwerk.

Mit geröstetem Blumenkohl, Ei und Schnittlauch denkt das Team um Michael Jaeger ein Gericht der polnischen Bauernküche entscheidend und raffiniert weiter. Der in der Hausfrauenküche oft zu weichgekochte Blumenkohl kommt geröstet und als rauchiges Espuma differenzierter auf den Teller. Das sonst hartgekochte Ei sorgt in pochierter Variante für verbindende Cremigkeit und harmoniert großartig mit dem Schaum vom stark gerösteten Gemüse. Aus der zerlassenen Butter wird im La Soupe Populaire eine Sauce hollandaise, und der oft penetrante Schnittlauch findet sich als weitaus unaufdringlicheres Öl und als wenige, fein geschnittene Röllchen obenauf. Für uns das herausragende Gericht des heutigen Tages, da hier eindrucksvoll gezeigt wird, was man aus einem profanen Klassiker der Hausmannsküche machen kann!

Als Fischgang folgt ein stattliches Stück vom Kabeljau mit Estragon und Schmorgurke. Letztere ist ein absoluter Dauerbrenner der ostpreußischen Küche und pendelt zwischen sauer, bitter und herzhaft-süffig. An dieser äußerst befriedigenden Kombination wird hier nicht viel verändert. Die knackigen Schmorgurken-Stückchen schwimmen im eigenen Speck-Gurkensud, dazu gesellen sich stimmig kleine, scharfe Senfkörner. Der Estragon kommt als cremiges Püree dazu, das viel von den oft grün-herben Noten nimmt. Protagonist ist der gedämpfte und dabei  perfekt gegarte Meeresfisch, der leider etwas fad gewürzt ist und trotz seiner schieren Menge in Belanglosigkeit untergeht. Wir haben gemischte Gefühle bei diesem Teller: Das schmeckt nicht schlecht, aber wir vermissen das Besondere der vorherigen Gänge.

Auch an diesem Mittag können wir nicht abschließend klären, oder der Ursprung des folgenden Gangs wirklich der Ermangelung eines echten Hasen geschuldet ist. Eines steht aber fest: Optisch ist der Teller vor uns gewöhnungsbedürftig, da auf den ersten Blick der falsche Hase mit Erbsen, Möhrchen und Pilzrahm nichts weiter als ein Hackbraten mit TK-Gemüse und aus Pulver angerührter Pilzbratensauce zu sein scheint. Hier spielt die Küche bewusst mit der Erwartungshaltung des Gastes, denn ganz so banal ist es dann selbstverständlich nicht. 

Das kräftig gewürzte Fleisch ist außen kross und innen saftig. Dazu bringt der reduzierte, rauchige Pilz-Jus aus getrockneten Steinpilzen und Pfifferlingen ordentlich Umami-Geschmack ins Spiel. Den etwas öden Karottenscheiben und Erbsen hilft eine frische, mit Zitrone und Ingwer abgeschmeckte Karottencrème mit überraschenden Säurekicks auf die Sprünge. Aber auch hier fällt unsere Begeisterung gedämpft aus: Es schmeckt unbestritten gut, die Abweichung vom Original fällt allerdings trotz Ansätzen verhalten aus. Aber dennoch muss ja nicht immer ein neuer Hase aus dem Sack gelassen oder durchs Dorf getrieben werden.

"Die berühmtesten Klöpse Deutschlands", das sind die einleitenden Worte, mit denen uns der Service das wohl bekannteste Gericht des Restaurants serviert: Königsberger Klopse mit roter Bete und Kartoffelpüree. Nachdem es sich bereits US-Präsident Barack Obama hat munden lassen und sich die pochierten Frickos mannigfaltiger Berichterstattung erfreuten, machen wir’s kurz: Die mit geschnittenen Kapern, Kalbsbries und Semmelbröseln verfeinerten, aromatischen Kalbsbälle erscheinen uns leider etwas zu trocken. Das reißt die süffige Sauce jedoch wieder heraus, die einen ordentlichen Schuss restsüßen Riesling abbekam. Die Kombination mit dem Kartoffelpüree und dem Rote-Bete-Ball schafft eine runde Harmonie. Die einleitenden Worte versprachen uns nicht zu viel: Eine bessere Version dieses gutbürgerlichen Klassikers haben wir noch nicht gegessen – und @POTUS mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit auch nicht.

Vielen als "Neapolitanische Eiscreme" bekannt, ist "Fürst-Pückler"-Eis die preußische Variante des gemeinen Schichteises, das seinen tiefen Fall zum „Big Sandwich“ hinter sich hat. Statt dieses Dessert aber in einer pappigen Schnitte zu servieren, zerlegen es Michael Jaeger und sein Pâtissier in die Einzelteile. Die Erdbeere wurde zum luftigen Espuma, zu konfierten, dünnen Scheiben und zur Streuwürze als Pulver. Die São-Tomé-Schokolade ist edel und schmeckt uns als kleine, cremige Parfaits und knackige Plättchen. Die dritte Komponente ist die Mandel, die unsere Papillen und das gesamte Zusammenspiel des Desserts immer wieder erfrischt. Ein Dessertauftakt nach Maß.

Der Bienenstich – ebenfalls Secret Service approved – sieht erstmal nicht außergewöhnlich aus, verbirgt aber ein süßes Geheimnis. Unter einem luftigen Vanille-Sahneschaum, der von einem krossen Honig-Mandelkrokant gekrönt wird, befindet sich ein Aprikosensorbet. Die fruchtige Säure und kühle Frische des Sorbets nehmen dem Dessert die Schwere. Eine gelungene Interpretation und zeitgemäße Optimierung eines allseits bekannten Blechkuchen-Klassikers. Bravo!

Zwar haben wir uns in der ehemaligen Brauerei keinen Bierbauch zugelegt, aber mit gut gefüllten Mägen lassen wir die Gedanken über das verspeiste Menü schweifen: eine tolle Abfolge, und Tim Raues Konzept geht auf – teilweise jahrhundertelang rauf und runter gekochte,hervorragende Klassiker der deutschen Küche bieten noch immer Potenzial zum Experimentieren und Optimieren. Leider sind sie im Laufe der Zeit in vielen gut-bürgerlichen Gasthäusern zu bizarren Skizzen und hässlichen Fratzen mutiert, Tiefkühlwaren und Convenience bestimmen den kulinarischen Alltag der Republik. An dieser Stelle können wahre Schätze gehoben werden, wobei sich mit Tim Raue nicht gerade ein üblicher Verdächtiger der Sache annimmt – schließlich sind seine Passion asiatische Aromen. Das ist löblich und aller Ehren wert. Wir wünschten uns, viel mehr Köche würden die Geschichte der deutschen Kulinarik in die Welt hinaustragen und dem Land so zu einer Identität verhelfen! Eigentlich müssten wir allen ausländischen Berlin-Besuchern den Weg vom Kreuzberger Stammhaus nach Prenzlauer Berg persönlich weisen: Raue hat die Techniken und erzählt eine wichtige Geschichte. Dabei geht die Küchencrew im La Soupe Populaire mit dem nötigen Respekt an die Gerichte heran und zwängt sie nicht bedingungslos in ein Fine-Dining-Korsett. Im Gegenteil: Man setzt wirklich nur dort an, wo man etwas Gelerntem noch Unentdecktes hinzufügen kann - mal plakativ, mal subtil. Mit diesem Anspruch, deutsche (Fress-)Identität auf die Teller zu bringen, sind dann jederzeit Überraschungen wir das Senfei oder der Blumenkohl denkbar. Mensa, Brauhaus und Kantine adé: Wir jedenfalls könnten hier mehrmals die Woche essen.

Genauso engagiert wie die Küche unter Leitung von Michael Jaeger (3.v.r.) ist der Service unter der Leitung von Maître Katharina Bambach (2.v.r.), die uns mit Fachwissen um Essen und Wein sowie einer guten Portion Humor während der gesamten Werkschau nonchalant zur Seite stand.

Nicht unerwähnt soll die Weinauswahl bleiben. Besonders die Sonderabfüllungen für Tim Raues Restaurants wissen zu überzeugen: Hier sticht der 2013er Riesling "Lotusblüte" vom Weingut Dreissigacker aus Rheinhessen positiv heraus. Aber auch viele der anderen Flaschen lassen sich mit Freude trinken, wenngleich die Beschränkung auf Schneider und Dreissigacker etwas ein- bzw. zweidimensional ist.

Fazit

Tim Raue und sein Küchenchef Michael Jaeger hauchen deutschen Klassikern neues Leben ein. Tolles Handwerk und eine ebensolche Geschichte treffen auf geschmackliche Höhepunkte und ein faires Preis-Leistungsverhältnis. Wir warten als nächstes auf die Umsetzung der Roulade, des Labskaus und zuallervorderst des Toast Hawaii!

Fressfreunde

Trois Etoiles

"Für alle, die ein Restaurant mit modernem Konzept, entspannter Atmosphäre, mit hervorragenden Preis-Leistungs-Verhältnis und wohltuend schmackhafter, bodenständiger Küche suchen."

Das Filet

"Gute Kombination aus cooler Location und guter, einfacher Küche. Der Bienenstich war sensationell."

Thorsten Firlus

"Tolle Atmosphäre. Halte den Hype zu den Königsberger Klopsen aber für eben einen solchen. Die gehen feiner."

 

Wein

NV Ruinart Rosé, Champagne
2013 Sauvignon Blanc "Kaitui", Markus Schneider, Pfalz
2013 Cuvée Lotusblüte, Wiengut Dreissigacker, Rheinhessen
2012 Cuvée "Rough Cut", Markus Schneider, Pfalz
2011 Cuvée "Nelumbo", Markus Schneider, Pfalz
2013 Cuvée "Kolibri", Weingut Dreissigacker, Rheinhessen
2013 Riesling Bechtheimer Stein BA, Weingut Dreissigacker, Rheinhessen

Fragen an die Suffmeisterin (a.k.a. Sommelier) Katharina Bambach

Anzahl der Positionen?
Ca. 125

Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Deutsche und französische Weine

Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
Der günstigste ist der Little James Basket, St. Cosme für 22€, der teuerste der 1990er Lynch-Bages in der Magnum für 1.286€

Die ungewöhnlichste Rarität?
Ein 1945er Sauternes, der Chateau Gilette (708€)

Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Der "Kaitui" von Markus Schneider (28€)

Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Das Weingut Karl Schäfer

Ihr Lieblingswein? Weshalb?
Der "Rosengarten" 2010 vom Weingut Dreissigacker (68€) – für mich einfach perfekt.

Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden?
Vor ca. 10 Jahren wurde ich aufgefordert, aus Weiss- und Rotwein einen Rosé zu zaubern.

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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