Kolumne 22.September 2013

Die kulinarische Kolumne: Casual Fine Dining

Mit jedem Jahreswechsel denken wir darüber nach, was uns im vergangenen Jahr gut gefallen und was uns genervt hat. 2013 fielen insbesondere zwei Dinge auf, die zudem im selben Kontext stehen. Genervt hat die anhaltende, aber unproduktive Klage über den bestehenden und wachsenden Gästemangel in der Spitzengastronomie, wohingegen ein erfolgreiches Gastrokonzept begeisterte, das uns vor allem im Ausland häufig begegnete: Casual Fine Dining.

Aus Paris schon länger unter dem Begriff "Bistronomie" bekannt, hat die Idee längst auch in den Niederlanden, Belgien, UK und Skandinavien Freunde gefunden. Die quirlige Ron Gastrobar in Amsterdam, das enge Agapé Substance in Paris, das laute und wunderbare Viajante in London oder das rustikale Vorrot-Pendant Hedone in Chiswick und das clubartige Pure Cam Strand von Hollands kleinem Küstenort Cadzand sind gute Beispiele. Auch Hans van Wolde zog erst kürzlich mit seinem zweifach besternten Beluga in Maastricht nach und verwandelte es in ein lässiges Fine-Dining-Bistro. Und auf deutschem Boden? Auch hierzulande gibt es einen längst etablierten Vorreiter: das geschäftige und herrlich turbulente Le Moissonnier in Köln.

Das Konzept ist so simpel wie einleuchtend: Dem schwer finanzierbaren Wettrüsten in der Spitzengastronomie begegnen einige clevere Gastronomen mit einer bewussten Reduktion der Mittel. Während die Kulinarik weiterhin erhaben im Mittelpunkt steht, wird das Drumherum bewusst den Erwartungen und Vorlieben einer jüngeren, urbanen Klientel angepasst. Luxusprodukte finden nur noch vereinzelt und sehr pointiert Verwendung. Eine größere und manchmal lautere Rolle spielen Interieur und Musik. Die Einrichtung ist meist auf individuelle Art stylish und unkompliziert – Hauptsache nicht gediegen und uniform. Von Flohmarkt-Accessoires bis Retro-Reliquien ist alles erlaubt, was Spaß macht und für zwanglose Atmosphäre sorgt. Etwas enger darf es ebenfalls ruhig sein. Schließlich fördert eine kuschligere Bestuhlung durchaus die eine oder andere nette Plauderei zwischen den Gästen.

Auch auf dem Tisch geht es lockerer zu: Das Besteck ist nicht notwendigerweise aus edlem Silber, und handgefertigte Teller können auch vom Keramikkünstler um die Ecke stammen. Es geht nicht mehr um die Wahrung austauschbarer "Eleganz", sondern um den Ausdruck von individueller Authentizität. In der Quintessenz kostet all dies nicht mehr zwingend ein kleines Vermögen, was sich insbesondere positiv auf die Menüpreise auswirkt. Und der Vorteil liegt auf der Hand: Vor allem ein jüngeres und urban sozialisiertes Publikum fühlt sich angesprochen und macht Restaurants mit nostalgischem Kneipenchic wie das Pariser Septime oder einer Clubatmosphäre wie in Sergio Hermans Pure C zum hippen „Place-to-be“. Hier lässt man gerne und öfter sein Geld, hier will man Zeit verbringen und Freunde treffen.

Für die Küche heißt Casual Fine Dining im Gegenzug keineswegs lockeres „Vor-sich-hin-kochen“. Vollgas heißt hier die Parole, denn voll ist zumeist auch der Gastraum. Double Seatings, sei es geplant oder als Walk-Ins zu späterer Stunde, sind keine Seltenheit, und das Publikum will unterhalten werden. Zugleich muss in solch einem Umfeld nicht jedes Gericht immer zu 100 Prozent funktionieren – der Gast wird zugunsten der entspannteren Atmosphäre nachsichtiger und verzeiht eher, wenn die Experimentierfreude am Herd mal in einem schwächeren oder noch nicht ausgereiften Gang mündet.

Eine Schlüsselfunktion hat auch der Service. Professionell, doch näher am Gast wird hier agiert. Da muss der Teller nicht immer unbedingt von der "richtigen" Seite eingesetzt werden, Wasser kann auch mal quer über den Tisch nachgeschenkt werden und der Wein weicht zuweilen einer Salve von Cocktails. Wen kümmern zeremonielle Details, wenn ansonsten alles behagt und die Kompetenz nicht auf der Strecke bleibt? Nicht zu unterschätzen: Wenn das hochstilisierte, förmliche Procedere eines besternten Gourmettempels entfällt, sind auch die Berührungsängste und Hemmschwellen für „Ersttäter“ unter den Fine-Dining-Gästen deutlich geringer. Die avancierte Küche wird leichter zugänglich, und anstatt eines Ereignisses, das man sich nur an Jahrestagen gönnt, kehrt man hier auch gerne mal jeden Monat ein.

Wie großartig das funktionieren kann, zeigen die bislang noch wenigen Beispiele hierzulande eindrucksvoll: Neben dem Le Moissonnier ist das Sylter Spices enorm gut besucht, ebenso die Rutz Weinbar, die man sicher als Berliner Vorbild in dieser Sparte bezeichnen kann. Auch das Freustil auf Rügen setzt auf Lässigkeit, und wer einmal mitten im charmanten Treiben des Frankfurter Weinsinn gegessen hat, erlebt hautnah, wie gut exzellente Küche in entspannter Atmosphäre sein kann.

Bei allen Vorzügen und Lobeshymnen drängt sich eine Frage auf: Ist Casual Fine Dining die eierlegende Wollmilchsau für Jedermann und Allerorten? Sicher nicht. Authentizität lässt sich schlecht konzipieren, die Symbiose aus Location, Küchenstil und Team bleibt wie in jedem Restaurant essentiell. Aber wenn es passt, kann sich ein Vorstoß in die in Deutschland bisher kaum besetzte Nische lohnen. Die Zeit scheint reif für einen erweiterten Gastro-Kosmos, in dem neben der Opulenz und großen kulinarischen Oper im edlen Ambiente eines Vendôme, der Schwarzwaldstube oder dem Sonnora auch Platz ist für andere Konzepte. Manchmal belebt eben nicht Konkurrenz, sondern Abwechslung das Geschäft.

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