Vendôme – Zwischen gestern und morgen
Wenn man heute über das Restaurant Vendôme in Bensberg spricht, kommt man um die Drei-Sterne-Frage kaum herum. Groß war die Aufregung, als Joachim Wisslers Restaurant im Guide Michelin 2022 mit »nur noch« zwei Sternen ausgezeichnet wurde. Ob das nun eine skandalöse Fehleinschätzung ist, oder doch eher ein Sturm im Wasserglas der deutschen Fine-Dining-Szene, wäre eine separat zu führende Diskussion. Wir für unseren Teil wollten schon länger wieder ins Vendôme, ungeachtet aller Guide-Einschätzungen. Wir sind auch nicht die Drei-Sterne-Polizei.
Davon abgesehen waren wir zu selten und zu lange nicht mehr im Vendôme, um eine »Entwicklung« im Detail zu beurteilen. Was wir aber können, ist unserer Erfahrung und unserem Gaumen zu vertrauen – schmeckt es, hat es Finesse, hat es Charakter? Taugen die Produkte und das Handwerk? Das sind bei jedem Restaurantbesuch die Kernfragen, aus denen sich alles weitere entwickelt. Doch allein die Tatsache, dass solche Überlegungen im Prolog eines Berichts explizit dargelegt werden, zeigt, wie aufgeladen die Besprechung eines Vendôme-Menüs derzeit ist. Die Gemeinschaft der Essensverrückten ist neugierig gespannt – genau wie wir an diesem sonnigen Donnerstagabend.
Das Vendôme befindet sich bekanntlich in einem Nebengebäude von Schloss Bensberg, einem Grandhotel, das mit seiner majestätischen Imposanz ein wenig wie aus der Zeit gefallen wirkt. Als wir pünktlich um 19 Uhr im Restaurant eintreffen, ist nicht viel los, dafür zeigt das junge Team sich bestens gelaunt, es wird gescherzt und gelächelt, ohne dass es aufdringlich oder aufgesetzt wirkt. In Sachen Wein bereitet es Freude, sich mit der smarten Sommelière Hannah Schmiderer auszutauschen, und ihr Pairing soll es auf jeden Fall sein (auf eine Sidebottle verzichten wir heute, angesichts der prohibitiv kalkulierten Weinkarte). Ein Glas Champagner kommt derweil auch auf den Tisch, die untergehende Frühlingssonne taucht den Gastraum in goldgelbes Licht. Die magische Stunde hat begonnen. Schauen wir, ob sich damit auch das Menüerlebnis zutreffend umschreiben lässt.
Zunächst werden einige vielversprechend aussehende Kleinigkeiten aufgetragen. Ein Artischocken-Cupcake mit Trüffel schmeckt gemäß der Hauptzutaten erdig-würzig, wenngleich auffallend »mild« und nur sehr schwach nach Trüffel. Auch ein knuspriges Röllchen mit Rindertatar und Imperial-Kaviar bleibt überraschend »leicht«, um nicht zu sagen etwas fad; im Röllchen ist zudem eine gelierte Rinderbouillon versteckt, die sich beim Kauen im Mundraum verteilt und das Geschmacksbild erstaunlicherweise eher verwässert, anstatt das Rinderaroma zu unterstreichen.
Ein Topinambur-Macaron mit Räucheraal, Gurkenrelish und Sauercreme findet eine ansprechende Balance zwischen maritimer Herzhaftigkeit und Frische. Dafür wirkt ein kleines Tomatenbaguette mit feinst gehobeltem Jabugo Bellota ein bisschen »klebrig« am Gaumen, trotz (oder wegen?) des fluffig-knuspernden »Brotes« aus Tomatenwasser-Schaum.
Den Abschluss dieses etwas unergiebigen Reigens bildet glücklicherweise ein Highlight, nämlich ein hauchdünn-knuspernder Taco mit Wollschwein-Rilettes und Kernöl, eine filigrane Miniatur, die bei aller gewürztechnischen Differenziertheit durch ein klares, ausdrucksstarkes Geschmacksbild beeindruckt.
Das eigentliche Menü startet mit in Koji gebeizten Scheiben von Bernsteinmakrele. Der Fisch ist von zweifellos hervorragender Güte, auch die Kombination mit einem fruchtig-frischen Tomatenponzu und dünn aufgeschnittenem Rettich kann überzeugen. Dennoch ist rohe, »asiatisch« eingefasste Makrele mittlerweile ein so erwartbarer Standardgang in den Menüs deutscher Sternerestaurants, dass man von einem Klischee sprechen muss. Qualitäten hin oder her, zeigt sich das auch hier nicht viel anders. Es schmeckt gut, aber am Ende wenig aufregend und allzu vertraut. Etwas Spannung sollen einige Seeigelgonaden beitragen, die jedoch vor allem herb-jodig schmecken, ohne die typische, fast süßliche Geschmeidigkeit allerbester Exemplare.
Ein Highlight versteckt sich dafür auf einem separaten Teller: eine Tranche vom Makrelenbauch, mild geräuchert und »lackiert" mit einem Jus aus Makrelenkarkassen, Tomate und Fenchel. Der fettreiche Fisch und der sorgsam eingekochte, herzhafte, minimal fruchtig anmutende Jus eröffnen ein gleichermaßen vielschichtiges wie köstliches Spannungsfeld. Auch in der entschiedenen Reduziertheit ist diese Miniatur ganz groß. Unserer bescheidenden Meinung nach sollte man diese Exzellenz nicht als Nebenteller, sondern als Hauptdarsteller servieren.
Ein umfängliches Highlight bildet der nächste Gang, der optisch und konzeptionell ein wenig an einen Klassiker von Joël Robuchon erinnert, der Impérial-Kaviar und Königskrabbe mit Krustentiergelee und Blumenkohlcrème kombiniert. Bei Wissler wird der Kaviar mittig auf einem kreisrunden Schwertmuschelcarpaccio angerichtet und das Ganze von einer dünnen Schicht cremiger Buttermilch umringt. Hier greift alles mit träumerischer Klarheit ineinander. Das Zusammenspiel salziger, jodiger und frischer Aromen lässt an angenehm kühle Sommertage denken, die texturellen Abstufungen vom leicht bissfesten Carpaccio über den sanft ploppenden Kaviar bis zur geschmeidigen Buttermilch sind von zauberhafter Subtilität und gaumenschmeichelnder Eleganz. Besondere Akzente setzen einige, präzise platzierte Buchweizenkörner mit ihrer dunklen, knuspernden Getreidigkeit. Sehr stark.
Das gilt auch für das Aperçu in Gestalt eines Kartoffel-Buchweizenmadeleines mit einer Nocke nussigem Kaviar, dessen wolkenzarte Fluffigkeit man nach Belieben mit feinsäuerlicher Creme anreichern soll. Die pure Wonne in zwei Bissen.
Wir bleiben im Meer, mit einer Langoustine Royale von prachtvoller Größe und perfektem Garpunkt: innen nicht roh, sondern fast »durch«, was dem Krustentier jene Spannkraft, Saftigkeit und geschmackliche Dichte verleiht, die es zu einem Hochgenuss macht. Die aromatische Rahmung ist angemessen reduziert. Ein Carabinero-Garum umspielt den Kaisergranat mit eleganter Herzhaftigkeit, feine Streifen von Amazake-Schwarzwurzel lassen einen Hauch Exotik anklingen. Drei kleine Nocken fein gewürfeltes Karotten-Chili dürften etwas mehr »Wumms« haben, während uns eine Tasse mit Krustentier-Cappucino viel zu mastig ist und zu sehr ins Süßliche abdriftet. Am Ende bleiben das jedoch Randnotizen zu einem mehr als guten Gericht.
Mit Schwarzwurzel á la Carbonara folgt ein Einschub aus dem vegetarischen Menü. Die zu »Spaghetti« geschnittenen, in Beurre-blanc gegarten Schwarzwurzeln sind in der Tellermitte als »Nest« angerichtet, in dem sich ein rohes Eigelb findet. Am Tisch wird cremiger Spinatjus angegossen und reichlich Wintertrüffel darübergehobelt, vom Service augenzwinkernd als »Ersatz« für den sonst üblichen Guanciale bezeichnet. »Das kann nur funktionieren«, denken wir uns, als sich über dem Tisch der betörende Duft des Trüffels ausbreitet, dessen erstklassige Qualität man bereits an der Beschaffenheit und der Marmorierung erkennt. Und tatsächlich: Die al dente gegarten Schwarzwurzelstreifen, umhüllt von Buttrigkeit und sämigem Eigelb, dazu die leicht herben Noten vom Spinat und die üppige, erdige Würze vom Trüffel – all das verbindet sich zu einer umarmenden Wohlgeschmackigkeit, die keinen Umweg über den Intellekt nimmt, sondern direkt ins Genusszentrum zielt.
Weit weniger überzeugend fällt der nächste Gang aus. Lechtal-Seeforelle wurde in Sangohashi gebeizt, einer fermentierten Reispaste, die dem ohnehin leicht süßlichen Fisch eine weitere, wenn auch sehr milde Süße hinzufügt. Etwas Blattspinat und gepickelter weißer Spargel setzen dezente Bitterstoffe und etwas Säuerlichkeit entgegen, kommen aber gegen eine (an sich hervorragende) Sauce Vin Jaune und einen erdig-süßlichen Topinamburstampf nicht an. Alles zusammen hat eine Gefälligkeit, die man mögen kann. Uns ist das in Summe zu soft und zu lieblich.
Nicht unähnlich verhält es sich beim nächsten Gang, der ein von uns hochgeschätztes Produkt in den Mittelpunkt stellt: Kalbshirn. Neben der berühmten – und überragend guten – Variante in der Pariser Clown Bar fanden wir auch Joachim Wisslers frühere Interpretation als knusprige »Piccata« sehr reizvoll. Hier nun ist eine geröstete Scheibe Kalbshirn mit fermentiertem Rotkohlsaft lackiert, dessen herb-süßlicher Geschmack den milden Eigengeschmack des Hirns jedoch gänzlich überlagert. Kalbshirn ist nicht jedermanns Sache, und die hiesige Zubereitung mag in sich stimmig sein, wirkt aber wie eine Variante für Menschen, die »eigentlich« keine Innereien mögen. Die Beigaben – grüner Spargel, gefüllte Morcheln, Steinpilz-Garum – haben eine zweifelsohne hohe Güte, wirken in diesem Kontext jedoch etwas »verloren«.
Eine Maisbrioche mit Sauermilch leitet als Erfrischung zu den Hauptgängen über – eine schöne Idee, exzellent umgesetzt.
Der erste Fleischgang rankt um Weidelamm vom Hofgut Polting, einem der renommiertesten Züchter im deutschsprachigen Raum. Auf dem Hauptteller finden sich zwei leuchtend-rosafarbene Scheiben vom Lammrücken, fein marmoriert, saftig, zart, mit breitem, aromatischem Fettrand und ideal ausgesteuerten Röstnoten. Am Tisch wird ein exzellenter Pommery-Senfjus angegossen. Ein erfrischender kleiner Kräutersalat greift die Nahrung des Weidelamms auf, ein Sonnenblumenkern-Pesto knüpft an die leicht nussige Aromatik des Fleischs an. Ganz ausgezeichnet.
Auf dem Teller findet sich außerdem noch ein Stück geschmorter Lammnacken in dunkler Chorizo-Butter, so zart, dass man es mit der Gabel zerteilen kann. Eine dunkelgrüne Spinat-Pecorino-Creme zum weichen Fleisch finden wir überflüssig, wenn nicht störend (die Mode, jedem Gemüse die artifizielle Textur einer edlen Hautcreme zu verleihen, hatten wir eigentlich hinter uns gewähnt), während eine in Holundersud gegarte Navette die »dunkle« Aromenwelt wohltuend auflockert.
Auf einem Extrateller gibt es noch ein Ragout aus gezupfter Lammschulter und Lammherz, angerichtet auf einem frittierten Kohlblatt. Eine grundsätzlich spannende Erweiterung der Lamm-Deklination, die in Sachen Intensität allerdings hart an die Schmerzgrenze geht.
Der finale Fleischgang präsentiert Wagyu von der Insel Kyushu, dessen Güte und Zubereitung zweifellos hervorragend sind. An dieser Stelle im Menü lässt sich konstatieren, dass die Produktqualitäten hier im Vendôme außerordentlich hoch sind; man darf das in einem solchen Restaurant zwar erwarten, selbstverständlich ist es leider nicht.
Saftig-gegrillte Lauchstücke und eine Shabu-Shabu-Bouillon erweisen sich als stimmige Begleiter für ein Fleisch, das am besten gänzlich für sich alleine steht. Damit wäre dieser Teller eigentlich perfekt. Doch da ist noch mehr. Kleine Taler von Ochsenmark zum ohnehin sehr fettreichen Wagyu wirken wie ein Overkill; auch Miso-Creme, gezupfte Wagyu-Schulter und confierter Portobello-Pilz (auf einem Extrateller) sind eher unnötige Zugaben, als essentielle Mitspieler. Uns ist bewusst, dass nicht wenige Gäste, insbesondere in Deutschland, solcherlei Vielfalt erwarten, doch hier bringt sie Unruhe und letztlich eine Unwucht ins Gericht.
Als Patissière zeichnet im Vendôme neuerdings Larissa Metz verantwortlich, deren Können Christian bereits Ende 2021 im Mainzer Restaurant Favorite erleben durfte. Wir sind zwar überrascht, ihr nun hier zu begegnen, doch wundert es uns nicht, dass Joachim Wissler dieses Talent nach Bensberg geholt hat.
Den Anfang machen Gariguette-Erbeeren, die als unverfälschte Schnitze auf dem Teller liegen (bereits dafür ein Applaus) und mit zarter Ricottamousse sowie weißem Tomateneis angerichtet sind. Erdbeeren und Tomate, das ist ein Zweiklang, der auch als herzhafter Salat blendend funktioniert, und hier meisterhaft in einen süßen Kontext übertragen wird. Eine süßlich-herbe Kopfsalat-Joghurt-Sauce und kleine Kräuterblättchen führen das Spiel mit Salat-Assoziationen ganz unangestrengt fort. Alles greift wie selbstverständlich ineinander. Dabei bleibt die Kreation immer ein klares, nicht zu süßes »Dessert«. Dazu gibt es ein Glas mit zweifach fermentiertem Erdbeerkefir, dessen fruchtig-herber Touch gewissermaßen als Grundierung dient; am besten nimmt man immer wieder einen kleinen Schluck »zwischendurch«. Hervorragend.
Etwas traditioneller, aber nicht weniger überzeugend ist das zweite Dessert aufgebaut, bei dem Himbeere und Rhabarber in verschiedenen Formen kombiniert und dekliniert werden, zum Beispiel als Sauce, Gel, Creme und Mousse. In dieser frühlingshaften, süßsäuerlichen Geschmackswelt setzt eine unscheinbar aussehende Nocke Salzzitroneneis einen unerwarteten und entscheidenden Akzent. In einem Cocktailglas findet sich außerdem ein Himbeer-Granité, dessen kühle Kristallinität mit einem fluffigen Champagner-Safranbaiser kombiniert wird; Himbeere, Champagner und Safran, auch das ein match made in heaven.
Die Petits Fours halten das hohe Niveau (von hinten links): der Luftschokoladen-Stein, die weißen Champagnertrüffel-»Diamanten«, die gefüllten Butterkekse, der Taco von Piemonteser Haselnuss und Olive und die Profiteroles mit Kaffeevor, vor allem aber das erfrischende Basilikum-Eisbaiser, der federleichte Kokos-Mandelschaumkuss mit Zartbitterschokolade und der Apfelstrudel mit weißer Schokolade sind hervorragend.
Damit sorgt die Pâtisserie für den sehr befriedigenden Abschluss eines Menüs, das uns trotz mancher Highlights, sagen wir: ambivalent zurücklässt. Der Küchenstil im Vendôme hat sich im Vergleich zu früheren Besuchen tatsächlich verändert, die Gerichte sind überschaubarer, wenn man so will auch »zugänglicher« geworden. Insbesondere beim Carpaccio und der Carbonara gelang das auf unterschiedliche Weise hervorragend; wobei man sagen muss, dass es im besten Sinne Vergleichbares auch früher schon hier gab.
Allerdings scheint sich mit dem (relativen) »Kurswechsel« auch eine Suche nach Mehrheitsfähigkeit eingeschlichen zu haben, mit Gerichten die publikumswirksam und gleichzeitig kreativ oder »aufwändig« sein sollen, aber (dadurch?) keine wirkliche Geschmacksfreude bereiten. Diesen Effekt bewirken manchmal schon Details, die sicherlich durchdacht sind, aber von einem »reinen«, man könnte auch sagen: intuitiven Genuss ablenken.
Erhellend könnte in diesem Zusammenhang ein Blick auf die jüngst von uns in Südfrankreich besuchten Drei-Sterne-Restaurants sein. Dort herrschten ebenfalls »zugängliche« Geschmacksbilder vor, bei denen uns gleichwohl beeindruckte, wie sehr das Zusammenspiel von Klarheit und Finesse im Dienst einer einnehmenden »Süffigkeit« stand (auch bei dem extrem kleinteilig arbeitenden Modernisten Alexandre Mazzia). Es schmeckte überall einfach richtig gut – und gleichzeitig aufregend. Selbst oder gerade die sehr »puren« Kreationen (Berichte folgen). Diese Beobachtung auch als grundsätzlicher Einwurf in Richtung Deutschland.
Zurück zum Vendôme, dort geschieht etwas, und das ist erstmal gut. Joachim Wissler ist als kreativer Kopf bekannt, und der Prozess einer Art sanften Neudefinition ist womöglich noch nicht abgeschlossen. Insofern lässt sich kaum sagen, wohin die Reise schlussendlich führt. Zurück zu drei Sternen? Vielleicht. Muss das interessieren? Manch einen bestimmt. Auch wir lassen uns bekanntlich gerne von den Sternen leiten. Wohl wissend, wie trügerisch ihre Strahlkraft sein kann.
Kai Mihm
Wein
Hinweis
Bei dem Besuch handelte es sich um eine Einladung. Der Inhalt bleibt davon unberührt. Details zum Umgang mit Einladungen und anderen Pressekonditionen findet Ihr hier.