Restaurantkritik 11.April 2023

The Wolf of Vienna

Eigentlich beenden wir unsere Trips mittlerweile gerne mit einem lockeren letzten Restaurantbesuch à la Wirtshaus und ein, zwei guten Flaschen. Nach mehreren Tagen Dauerfressen sind unsere nicht mehr ganz taufrischen Körper froh, wenn sie zum Abschluss keine zehn Gänge mehr verarbeiten müssen. Nun, aufgrund eines Planungsfehlers gestaltet sich unser letzter Abend in Wien jedoch konträr, so dass wir eine Doppelbuchung absolvieren müssen. Um 18 Uhr geht’s ins »Taubenkobel«-Pop-Up »Schraubenkobel« (wie jedes Pop-Up aus dem Hause Eselböck/Weissgerber unbedingt besuchenswert). Um 20.30 Uhr steht dann das wirklich abschließende Wien-Dinner im »Pramerl & The Wolf« an.

Hier waren wir zuletzt vor mehr als sieben Jahren und haben das damals von uns zum »Casual Dining des Jahres« ernannte Restaurant deshalb zwar in guter, aber inzwischen auch ziemlich schwammiger Erinnerung. Nun stehen wir nach einer Taxifahrt quer durchs nächtliche Wien etwas verspätet vor dem unscheinbaren Eingang im Servitenviertel. Das Kontrastprogramm könnte kaum größer sein. Vor kaum dreißig Minuten beim »Schraubenkobel« noch wortwörtlich kühle Industrieluft in einer ehemaligen Autogarage. Jetzt warme Wohnzimmeratmo mit fünf Tischen zwischen viel molligem Holz und sattem Schwarz. Kontrast im Kontrastprogramm sozusagen. Also schnell an den kleinen Tisch, wo uns ein Glas Dom Ruinart 2010 souverän einstimmt. Echt schön hier, heimelig und stammkneipig, gemischt mit Hipster-Vibe in gut. Aus den Boxen schallt anständiger Jazz, so dass wir uns sauwohl fühlen und kaum erwarten können, was aus der Küche kommen mag.

Die Crew um den Spätberufenen Wolfgang Zankl-Sertl, der nach einer Karriere als Unternehmensberater erst mit Mitte Dreißig den Platz am Schreibtisch für den am Herd eintauschte, zeigt sich beim ersten Gruß in vorweihnachtlicher Stimmung und schickt einen alkoholfreien Punsch aus Karotte, Orange Miso und Rooibos Chai. Komplex, aber zum Einstieg dennoch nicht überfordernd. Charmant.

Zumindest auf dem Papier fordernder ist der fermentierte Spargel mit weißer Schokolade und Kaffee. Was sich beim Annoncieren übermäßig forciert anhört, erweist sich als spannender und in der Abstufung herb-süß-bitter Aromen erstaunlich raffinierter Happen. Als größerer Gang würde das kaum funktionieren, doch als einzelner Bissen ist das schon verdammt großartig.

Sehr gut, wenngleich wenig aufregend ist die Tartelette mit Beef tartare, Austern-Estragon-Emulsion und N25 Baeri Reserve Kaviar. Klassisch, solide, denkt man sich, doch etwas Kraut verleiht dem Ganzen bei aller Routine dann doch das gewisse Etwas.

Padron Pimento mit altem Gouda und Jalapeño spielt wieder in Richtung der eigenständigen Autorenküche und überzeugt auf ganzer Linie. Die Mischung aus Umami, Schmelz, Bitterkeit und präsenter Schärfe schließt den Apéro-Reigen als Highlight ab.

Dass halbe Sachen nicht das Ding von Zankl-Sertl sind, zeigt sich beim Brotgang. Es gibt fermentiertes Kartoffelbrot, reduzierte Obers, Haselnuss und Trüffel. Trüffel zum Brot? Passt, macht Spaß – und erinnert uns an das tolle Trüffelbrot bei Jean-François Piège.

Eine aufgeschnittene, fleischige Auster wird in ihrer Schale von Joghurt, Yuzu und Schwarzwurzel flankiert. Hört sich erneut ein wenig erzwungen an, isst sich dann allerdings hervorragend. Vor allem den Joghurt können wir uns bis zum ersten Bissen nur schwer mit der Molluske vorstellen. Er fungiert jedoch mehr als Konnektor und Strukturhalter, anstatt sich geschmacklich selbst in den Vordergrund zu drängen. Entsprechend ergibt sich ein stimmiges kleines Potpourri aus jodig-maritimer Fleischigkeit, herb-bitterer Frische und nussiger Erdigkeit. Wer kann, der kann.

Eingeschlagen in hauchdünn gehobelten Sellerie liegt beim folgenden Gang eine aufgeschnittene Jakobsmuschel. Die Meeresbrise verstärkend wird Kombu als Geschmacksträger eingesetzt und am Tisch zusätzlich Wallerleber drüber gehobelt. Das Resultat ist ein unerwarteter Leisetreter, der sich als kühle Interpretation des Surf’n’Turf-Themas präsentiert. Definitiv kein Teller, den man einfach weglöffelt, sondern etwas, bei dem man genauer hin schmecken muss, um die präzise Komplexität zu erfassen.

Als Einstimmung auf den nächsten Gang wird ein kleiner Vorbote in Form von Crême fraîche (von »Bordier«, mon dieu!), einem Kürbissud und N25-Kaviar aufgetragen. Waren wir bisher schon sehr vom Menü angetan, schaltet die Küche mit diesem kleinen Intermezzo direkt zwei Gänge hoch. In seiner simplen Komposition schmeckt das so konsequent wie köstlich. Ein echter Wow-Effekt.

Auf ähnlich hohem Niveau zeigt sich der Stör mit Kürbis und Zitronenverbene. Der Fisch wird satt-fleischig und mit reichlich Würze präsentiert, was ihm außerordentlich gutsteht. Da kann es schon einen mundfüllenden Partner wie den Kürbis vertragen, der dankenswerterweise nicht einfach dumpf und süß daherkommt. In Verbindung mit herrlich frischem Kraut erhalten sowohl Gemüse als auch Fisch den nötigen Gegenpol, um für einen balancierten Teller zu sorgen. Klingt alles einfacher als es ist, denn die Feinjustierung macht hier den Unterschied.

Mit Seeigel, Kaffee, Topinambur und Mandel folgt der erste ernüchternde Gang des Abends. Ob dieser krude Aromenmix grundsätzlich Sinn macht, können wir nicht beurteilen, denn dazu ist das Geschmacksbild hier zu diffus und gleichzeitig zu stark von Kaffee und Knolle dominiert. Klingt widersprüchlich? Isst sich auch so. Schade, denn wir trauen dem Chef nach dem bisher Gezeigten durchaus zu, auch diese Kombo adäquat umzusetzen. Besten Uni vorausgesetzt.

Weiter geht’s mit Steinbutt, Pilze, Iberico und Vin Jaune. Der Fisch ist exzellent, und bei aller Wucht, die die Pilze sowie das Schwein mitbringen, fehlt es dem Ensemble nicht an Raffinesse und Eleganz. Vor allem die Sauce mit ihrer animierenden Säure und Komplexität sorgt dafür, dass alles im Lot bleibt. Nach dem kleinen Tief des vorherigen Gerichts geht es hier direkt wieder nach oben. Als kleiner Wermutstropfen bleibt zu erwähnen, dass der Fisch auf einem Teller am Tisch leider nicht mehr richtig warm ist.

Calamari mit Räucheraal und Parmesan ist ein Signature Dish des Hauses, das wir kürzlich im Münchner »Tantris« in ähnlicher Form serviert bekamen. Umami ist dabei sowohl in München als auch in Wien das Gebot der Stunde. Herrlich zart sind die Calamari-»Nudeln«, der Räucheraal sorgt gemeinsam mit dem Parmesan für das erwähnte Umami und natürlich auch eine gewisse Fleischigkeit. Gepimpt wird das Ganze noch mit, man ahnt es, Trüffel. Süffig, schlotzig, wunderbar. Der einzige Kritikpunkt besteht in der Konsistenz der Sauce, die ein klein wenig kompakter und weniger flüssig sein dürfte, um ihr mehr Haftung und Geschmeidigkeit zu geben (und damit wir uns nicht so vollsauen).

Sehr puristisch wird’s beim Kaisergranat mit Erdäpfeln und Hühnerleber. Die Kartoffeln kann man getrost außen vorlassen, sprich, es braucht sie nicht wirklich. Der Fokus liegt auf dem knackig gegarten Granat und der Lebersauce. Ein Match made in Heaven, wie man auch formulieren könnte. Die luxuriöse, maritime Süße verträgt sich prächtig mit der typisch deftigen, etwas blutig schmeckenden Leber. Herrlich.

Langsam biegen wir in Richtung der Hauptgänge ein und Zankl-Sertl lässt das hohe Niveau auch beim Mangalitza mit Brokkoli und Paradeisern nicht abreißen. So simpel, so stilsicher, so akkurat und so saugut. Unser nicht mehr zu unterdrückendes, genussvolles Aufstöhnen sorgt am Nachbartisch für Erheiterung. Man freut sich, auch gleich in den Genuss dieses Tellers zu kommen. An dieser Stelle gebührt der Küche ein besonderes Zwischenlob für die Portionsgrößen, bei denen die Lust auf den nächsten Gang nicht schwindet, sondern im Gegenteil sogar befeuert wird. Auch das Tempo ist vorbildlich und dem Genuss zuträglich. Eine Kunst für sich.

Es geht jetzt Schlag auf Schlag. Hendl, Reis, Kohlrabi und – tada – Trüffel. Wir sind erneut hin und weg von der so schlichten wie effektiven Grundidee und deren punktgenauer Umsetzung. Mal ehrlich, wie gut kann ein Stück Huhn mit Kohlrabi und Trüffel schon sein? Die einfache Antwort: so unfassbar gut, dass der Nachbartisch schon wieder zu uns rüber schielt. Im Glasteller befindet sich das Ganze übrigens nochmals als Congee (eine Art chinesischer Reis-Porridge) interpretiert und mit einem Eigelb angereichert. Selbst dieser Satellitenteller mit einer Zubereitung, die man in unseren Breiten eher etwas naserümpfend zur Kenntnis nimmt, ist nichts weniger als grandios.

Hervorragend, aber nicht mehr ganz auf dem Niveau der Vorgänger, präsentiert sich anschließend das Reh mit Rotkraut, Rote Rübe und Brot. Es gibt an diesem Teller nichts, aber auch wirklich gar nichts, auszusetzen. Tolles Hauptprodukt, akkurat zubereitet. Die Einfassung stimmig, die Proportionen so perfekt wie der goldene Schnitt. Erst jetzt, rückblickend und während des Schreibens müssen wir uns korrigieren: dieser letzte Fleischgang ist nüchtern betrachtet durchaus auf dem Niveau seiner Vorgänger, begeistert uns in nur diesem Moment nicht mehr ganz so sehr wie Huhn und Schwein zuvor.

Was aussieht wie die klassischen Germknödl mit Powidl entpuppt sich als Käsegang. Germknödel (oder Dampfnudel) und Powidl (a.k.a. Pflaumenmus) sind zwar auch in diesem Fall Teil des Tellers, allerdings ist sie Sauce nicht die typische Vanillesauce, sondern geschmolzener, warmer Vacherin Mont d’Or. Ein netter Einfall, denken wir, bis der erste Bissen seinen vollen Reiz entfaltet. Wir möchten hier nicht in die Details gehen, sondern diesen Teller mit einem weiteren Satz beschreiben: das ist ganz locker einer der zehn besten Käsegänge, die uns jemals serviert wurden. Wir würden an dieser Stelle gerne das Homer Simpson Sabber-Meme zeigen, gefolgt von einem Mic-Drop GIF, um unsere Empfindung und die Güte dieses Gerichts zu verbildlichen.

Nach dieser Tour de Force nimmt die Küche beim ersten Dessert, Granny Smith, weiße Schokolade und Kerbel, etwas den Fuß vom Gas. Was uns gelegen kommt, denn das Fressdelirium lässt langsam grüßen. Im Umkehrschluss heißt es natürlich nicht, dass die Mischung aus säurebetonter Frische, kakaobuttriger Süße und dem von Haus aus subtil-pfeffrigen, im Hintergrund mitschwingenden Kerbel, nicht köstlich ist. Maracuja, dunkle Schokolade und Szechuanpfeffer</sb> (ohne Bild) ist dann wieder etwas forscher und fordernder. Getragen wird das Ganze vom exotischen, prägnanten Süßsauerspiel der Frucht, welches durch das sanfte Prickeln des Pfeffers akzentuiert wird. Dem gegenüber steht die herb-bittere Schoki, die aber eher als Würzelement denn als geschmacklicher Protagonist in Erscheinung tritt. Schön.

Beim letzten Dessert schmeißt sich die Küche nochmal in modernes Gewand. Walnuss, Radicchio und Johannisbeere schmeckt glücklicherweise weit besser, als die Kombi sich anhört. Die Bitterkeit des Zichoriengewächses ist zwar essenzieller Bestandteil dieser Kreationen, wird aber gleichwertig mit Nuss und Beere inszeniert, was für die nötige Harmonie sorgt. Das Ganze wirkt zwar durchaus andersartig und angenehm aus der Reihe tanzend, aufgrund der Feinjustierung jedoch total rund und vor allem äußerst schmackhaft.

Es ist jetzt kurz vor eins nachts, doch die Mini-Mannschaft zeigt auch beim allerletzten Petit Four keine Ermüdungserscheinungen und schließt das Dinner mit einer Tartelette mit Heuanglaise und Weizengras auf hervorragende Weise. Anders hätten wir es unterdessen auch nicht mehr erwartet.

Was war das nur für ein Menü! Eigenständig, undogmatisch, reduziert aufs Wesentliche und stets auf den Punkt gebracht. Und bei nachgezählten 21 kleineren und größeren Kreationen nur ein einziger wirklicher Ausfall. Das ist schlichtweg beeindruckend, zumal sich gleich mehrere Teller im erweiterten Götterspeisendunstkreis bewegten. Doch nicht nur das Menu, auch die Weinbegleitung war so abwechslungsreich wie gelungen. Nicht nur große Namen wie Pepe und Girardin überzeugten (naturgemäß), sondern gerade auch kleinere Entdeckungen wie Possa. Dazu die perfekte Musikbegleitung, die nicht Untermalung oder Hintergrundgedudel ist, sondern gut integriert und für uns an diesem Abend integraler Bestandteil des Erlebnisses.

A propos Erlebnis, das ist dieses einnehmend kuschelige Wohnzimmerflair zwischen Mundl Sackbauer und Brooklyn Art sowieso. Wir sprechen im Zusammenhang mit Kulinarik ungern von Kunst, doch das »Pramerl & The Wolf« mutet wie ein in sich geschlossenes Gesamtkunstwerk an. Geplättet, aber doch noch seltsam beschwingt verlassen wir die Lokalität. Das Taxi sollte längst warten, parkt aber irgendwo weit entfernt von uns. Egal, wir laufen bestens gelaunt durch das totenstille Servitenviertel, auf der Suche nach unserem Fahrer. Etwas anderes haben wir indes schon gefunden: unser bestes Gesamterlebnis 2022.

Thierry De Nullepart

Wein

2016 Georg Breuer Riesling Berg Roseneck
2015 Neumeister Sauvignon Blanc Alte Reben
2021 Azienda Agricola Possa Cinque Terre
2017 Suerte del Marques Vindonia
NV Le Dos d'Chat Bebess
2015 Emidio Pepe Trebbiano d'Abruzzo Vecchie Vigne
2017 Aldo Viola Egesta
2020 Claude Riffault Sancerre Monoparcelle 538
2017 Vincent Girardin 1er Cru Morgeot Chassagne Montrachet
2003 Boroli Barolo Villero
2005 Tarlant La Lutetienne
2016 Kartäuserhofberg GL Riesling Spätlese
1996 Kracher Novelle Vague TBA Grande Cuvee Nr7
1946 Toro Albala Don PX Convento Seleccion

Hinweis

Bei dem Besuch handelte es sich um eine Einladung. Der Inhalt des Berichts bleibt davon unberührt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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