Le Petit Nice, Teil 2: Die Bouillabaisse
Der letzte Mittag in Marseille. Diese Stadt zu verlassen, ohne eine Bouillabaisse gegessen zu haben, käme einem Sakrileg gleich. Natürlich hatten wir für heute bereits eine passende Reservierung in der Tasche, aber nachdem Gérald Passedat uns vorgestern eingeladen hat, seine Bouillabaisse zu probieren, änderten wir unseren Plan – wer würde ein solches Angebot ausschlagen? Also fahren wir vor unserem Abflug erneut zum Le Petit Nice, wo an diesem Samstag gegen dreizehn Uhr bereits Hochbetrieb herrscht.
Wir sitzen diesmal nicht am Fenster, sondern weiter hinten im Raum, wo der Ausblick zwar nicht so spektakulär ist, durch das lebhafte Treiben jedoch eine reizvolle Atmosphäre herrscht. Für diesen Bereich ist ein unterschiedlicher Sommelier zuständig, als die junge Dame von vorgestern. Sein Stil nimmt sich gänzlich anders aus, sachlicher und zurückhaltender, wirkt aber nicht weniger angenehm. Auch sonst bestätigt sich an diesem Mittag der Eindruck, dass wirklich jeder in diesem gut aufgelegten Serviceteam ein ganz eigener Charakter ist. Nach einem anregenden Austausch über Weinvorlieben, Raritäten und Preisvorstellungen fällt unsere Wahl auf eine Flasche Meursault »Vireuils« 2014 der Domaine Roulot, zu sehr fairen 300 €. Dann kommt auch schon das Essen.
Die Amuses sind die gleichen wie vor zwei Tagen, weshalb ich für nähere Verkostungsdetails auf den ersten Bericht verweise.
Zu sehen sind: Eine zarte Artischockencreme unter einer dünnen Scheibe aus zartem, mit Gemüse versetztem Fischgelee, welches uns diesmal sehr viel intensiver vorkommt. Außerdem eine Tartelette mit Seebrasse und Rote Bete, eine duftige Escabeche mit Camargue-Chips sowie ein hauchdünner Fischcracker.
Die Thunfisch-Degustation erfreut erneut mit neun Tage gereiftem Rücken, mehrere Wochen gereiftem Coppa sowie dünnen Scheiben Ventresca mit einem Hauch Anis. Diesmal nicht im Bild: ein knuspriges Grissini mit einer intensiven Creme aus Auberginen, Anchovis und Gewürzen, sowie eine tiefblaue Meeres-Bouillon aus Crevetten, Crevetten-Garum und Malvenblüte.
Wir hätten zwar gedacht, dass man für Wiederholungsbesucher die Küchengrüße zumindest ein bisschen variiert, an der hohen Güte dieser Darbietung ändert das gleichwohl nichts.
Jetzt also die Bouille Abaisse, wie Gérald Passedat seine Version der Begriffsherkunft entsprechend schreibt (Bouillir=aufkochen, Abaisser=absenken, die Temperatur). Er hat das zwei Gänge umfassende Gericht zu einem ganzen Menü ausgearbeitet. Die Idee, erläutert der Service, besteht darin, sich bei den Zutaten und Aromen von der Küste aus immer weiter in die Tiefe des Meeres zu bewegen – ein Spiel mit dem mehrdeutigen Begriff abaisser.
Daher startet das Menü in den »flachen Gewässern«, mit einem Carpaccio von rohen Muscheln, angemacht mit Zitrone, Olivenöl und Petersilie, obenauf ein Meerwasser-Schaum. Die Kreation bildet eine Referenz an Passedats Kindheit, als er in den steinigen Buchten bei Marseille frische Muscheln sammelte. Der intensiv maritime, ultrafrische Geschmack dieser Zubereitung lässt tatsächlich an eine schäumende Brandung auf schroffen Felsen denken – salzig, jodig, von beinahe überwältigender Kraft. Die sehr spezielle Intensität ist etwas für echte Schalentier-Aficionados, die mit dem Geschmack (roher) Muscheln quasi aufgewachsen sind. Wir selbst sind das nicht, und deshalb froh, dass ein paar Beigaben für Milderung sorgen: ein kross frittierter Fischkopf, ein fluffiges Seeanemomen-Beignet und knusprig ausgebackene Meerjunkern.
Das unscheinbare Highlight dieses Gangs bilden ohnehin vier kleine Schalen mit jeweils einem Schluck unterschiedlich gewürzter Fischsuppen, bewusst nur knapp lauwarm serviert, um nicht zu sehr die Bouillabaisse vorwegzunehmen. Eine ebenso originelle wie köstliche Idee.
Als kleiner Einschub außerhalb des Menüs folgt ein Spieß mit winzigen Tintenfischen, die bereits gegart sind und nun auf einem Tischgrill vollendet werden. Sie schmecken zart, saftig und nach Lagerfeuer an einem sommerlichen Strandabend. Wunderbar.
Der nächste Gang des Bouillabaisse-Menüs führt in »tiefere Gewässer«. Gedämpfte Filetstücke von Wolfsbarsch, Dunklem Gabeldorsch, Rotem Drachenkopf und Dorade sind zwischen einem Scheren- und einem Schwanzstück vom Hummer angerichtet. Es ist eine Freude, die Charakteristika der unterschiedlichen Fische so exemplarisch durchzuprobieren. Hier tun sich in Geschmack und Textur ungeahnte Nuancen auf, wobei sich Drachenkopf und Wolfsbarsch als unsere Favoriten herausstellen. Ein leichter Safranfond umspielt die Fische, ohne sie zu dominieren.
Separat steht der Kopf des Roten Drachenkopfs zum Auslösen der Bäckchen bereit, die uns allerdings einen Tick untergart erscheinen. Zum Auftunken der Sauce wird exzellente Foccacia gereicht, was die ziemlich mächtige Portion noch sättigender macht. Beim Gedanken, dass wir die eigentliche Bouillabaisse noch vor uns haben, wird mir ein bisschen mulmig.
Und dann kommt sie, die Bouillabaisse, »L'Abysse« betitelt, »unergründliche Tiefe«. Mit routinierten Handgriffen werden sämtliche Komponenten vor uns aufgebaut: Auf einem Teller finden sich Filetstücke von Seezunge, Drachenkopf und Steinbutt, die über einem mit Meerespflanzen aromatisierten Fond gedämpft wurden. Außerdem sind da ein hauchdünner Parmesan-Brotchip und ein Löffel mit feinstem Olivenöl und würzigen Tomatenpüree.
… Die eigentliche Bouillabaisse samt aufgeschäumter Rouille steht in einer Extraschale daneben. Der erste Löffel, noch ohne Fischeinlage, ist atemberaubend – intensiv und vielschichtig. Tomate, Safran, Fenchel, Orange und vieles mehr verschmilzt mit der Essenz bester Meerestiere zu einem Geschmackserlebnis von unergründlicher Vielschichtigkeit – da sind wärmende Gewürze und Umami, Fruchtigkeit und Salz, ein Hauch Bitterkeit ist dabei, Schärfe, aber auch eine Spur Süße. Und über allem natürlich die Kraft des Meeres.
Im nächsten Schritt geben wir die saftigen Fischfilets hinzu, die in der sämigen Suppe leicht nachgaren und Geschmack aufnehmen. Ein Hochgenuss. Als Wermutstropfen bleibt, dass die nur lauwarmen Filets die Temperatur der Suppe absenken, das müsste sich optimieren lassen. Am köstlichsten finden wir allerdings die in der Bouillabaisse schwimmenden Gemüse- und Kartoffelstücke, herrlich vollgesogen mit dem würzig duftenden Elixier. Absolut fantastisch. Trotz fortgeschrittener Sättigung putzen wir die Schale vollständig leer.
Beim Pre-Dessert sind wir hocherfreut, es bereits zu kennen: das Olivenöl-Eis mit kleinem »Obstsalat« aus Grapefruitfilets, Orangenfilets und Olivenschnitzen schmeckt erneut absolut grandios, in seiner Vermählung von fruchtiger Süße, Bitterkeit und Herzhaftigkeit.
Doch es wird noch besser. Das Hauptdessert besteht aus cremigem Nougat mit Mandeln und Pistazien, dazu ein Zitrus-Cremeux, Honigmilch und Pistaziencreme. Auf betörende Weise kommen hier luftige Zartheit und knuspernder Biss zusammen, getragen von verführerischer Süße und anregender Säure. Das ist alles so raffiniert abgestimmt, wir wissen gar nicht, wie uns geschieht. In einer Extraschale gibt es noch ein unwirklich gutes Orangenblütensorbet. Augenschließen, abtauchen, die Süße schmecken und die Gänsehaut spüren … So geht eine Dessert-Götterspeise.
Die Petit fours, so gut sie auch sind, werden nach diesem Höhenflug zu einer Fußnote.
Das war sie also, die Bouillabaisse bei Passedat. Uns fehlen zwar seriöse Vergleichsmöglichkeiten, doch so wie hier und heute habe ich mir eine mustergültige Bouillabaisse immer vorgestellt. Ein herrschaftlicher Hochgenuss. Anders als oft fälschlich kolportiert, war die Bouillabaisse unter diesem Namen –also seit dem frühen 19. Jahrhundert– ja nie ein »einfaches« Bürgergericht, das einzelne Köche in die gehobene Gastronomie überführen (das zeigen allein schon die üblichen Preise). Umgekehrt wird ein Schuh draus: die Bouillabaisse à la Marseillaise gehört schon immer zu jenen aufwändigen Gerichten spezialisierter Meister, die von fragwürdigen Restaurants mit billigen Zutaten verwässert werden.
Ob man bei Passedat die Gänge vorweg wirklich bräuchte, ist schwer zu sagen. Die Idee gefällt uns, doch wir haben das Gefühl, dass eine Bouillabaisse am besten ganz für sich steht, sodass man sich mit Heisshunger darüber her machen kann. So oder so, läuft das heutige Menü in seiner Spezialisierung neben dem ›Baumaniere‹, Alexandre Mazzia, dem ersten Passedat-Besuch und der ›Villa Madie‹ ohnehin »außer Konkurrenz«.
Unabhängig von solchen Fragen war das Abtauchen in Gérald Passedats Bouillabaisse-Kosmos der genau richtige Abschluss für eine Reise, deren vielfältige Eindrücke uns noch sehr lange beschäftigen werden. Wie im allerersten Bericht erwähnt, vergingen Jahre, bis dieser Trip endlich zustande kam. Die Geduld hat sich gelohnt.
Kai Mihm
Wein
Hinweis
Der Besuch erfolgte auf Einladung (exkl. Wein). Der Inhalt des Berichts bleibt davon unberührt. Details zum Umgang mit Einladungen und anderen Pressekonditionen findet Ihr hier.