Restaurantkritik  6.September 2019

DER WOHLFÜHL-TÜFTLER

Das Kreuzberger Ufer am Landwehrkanal pulsiert. Zwischen Touristen, Joggern und Biertrinkern schiebt sich eine gastronomische Landschaft, die – genauso wie die vielen Start-Ups – unbeständig zwischen Ramen, neapolitanischer Pizza und prestigeträchtiger Ankerklause wechselt. Inmitten dieser vielen Lunch- und Brunchplätze ist allerdings eines gewiss: die österreichische Gastlichkeit des Sebastian Frank im "Horváth", in dem er und seine Gattin Jeannine Kessler bereits seit 9 Jahren und mit inzwischen zwei Sternen eine für uns ungemein spannende, kreative Produktküche bietet. Vier Jahre sind seit unserem letzten Bericht vergangen ­- Zeit für eine Bestandsaufnahme! Und wir dürfen an dieser Stelle verraten: Es hat sich Einiges getan ...

Die Räume der Nummer 44a tragen – für Berliner Verhältnisse – historisches Potenzial: Bereits 1918 wurde hier Gastronomie betrieben, 1972 war das Haus unter dem Namen "Exil" ein Treffpunkt der literarischen und künstlerischen Frei- und Schöngeister, ein Kleinod für die Kreativszene, darunter David Bowie, Joseph Beuys und Rainer Werner Fassbinder. Betrieben wurde das Restaurant zu dieser Zeit von Oswald Wiener, dessen Tochter Sarah hier erste Erfahrungen sammelte und sich einige Jahre später einen durchaus medienwirksamen Namen erarbeitete. 2005 wurde das Restaurant unter neuer Leitung in "Horváth" umbenannt, nach dem Schriftsteller Ödön von Horváth. Damals kochte noch Wolfgang Müller, bevor der Österreicher Sebastian Frank – zuvor drei Jahre unter Heinz Reitbauer im Wiener "Steirereck" und Souschef im "Interalpen Hotel Tyrol" – im Jahre 2009 das Küchenchef-Zepter übernahm und bereits nach einem Jahr, 30 Jahre jung, den ersten und 2016 den zweiten Stern einheimsen durfte.

Das Interieur erinnert immer noch an den Charme vergangener Tage; das viele Holz und die schummrige Beleuchtung versetzen uns eher in eine Kneipe als in ein Zwei-Sterne-Restaurant. Wir können uns lebhaft vorstellen, wie hier Dichter und Denker nächtelang aßen, tranken und rauchten, ob drinnen oder draußen, wo es sich im Sommer ebenso hervorragend auf der kleinen Terrasse vor dem Restaurant dinieren lässt – Kreuzberger Straßengefühl inklusive. Gehobene Gastronomie am städtischen Gehweg kennen wir aus kaum einer anderen Metropole, Berlin bietet dafür mit dem Bandol sur mer, dem Tulus Lotrek und dem Horváth gleich drei Anlaufstellen.

Frank serviert ausschließlich Menüs, der Gast wählt zwischen 6 und 8 Gängen. Wir wählen, wie üblich, die volle Breitseite und sind gespannt, wie sich der Wahlberliner in den vergangenen Jahren entwickelt hat.

Als Einstimmung an diesem eher windigen Tag schickt die Küche einen Zwiebelsud (ohne Bild). Leicht süßlich, mit deutlicher Liebstöckel-Note, äußerst intensiv und mit ordentlich Hitze. Wir kriegen Appetit.

Der erste Gang, 12 Monate gereifter Salzsellerie mit Linda-Kartoffelchips und Knoblauchrahm, zeigt gleich das Signature-Produkt und damit die Experimentierfreude Franks. Der Sellerie wird im Salzteig ausgebacken und über Monate unter stetigem Wenden dank Osmose dehydriert. Was bleibt, ist eine golfballgroßer, steinharter Ball von derart hohem Salzgehalt und natürlichem Umami, dass dieser nur in dünnen Scheiben - wie Trüffel - über das Gericht gehobelt wird. Die "Mayonnaise" dämpft die Salzigkeit, die durch die hauchdünnen Kartoffelchips noch weiter befeuert wird, ein wenig, und wir wünschen uns eine Couch und eine gute Netflix-Serie herbei – verdammt gut. Wir notieren kichernd mit Gedanken an frühkindliche Ikea-Besuche: "Der kleine Sebastian möchte aus dem Sellerie-Bad abgeholt werden!"

Wir bleiben beim Stichwort "Intensität", diesmal mit einem heißen Entenfond (ohne Bild) als kleinem Zwischengang: Wie bei der Zwiebel zum Einstieg hilft die leichte Süße, die schiere Intensität des Federviehs zu ebnen. Keine Ablenkung, kein Chi-Chi, und wieder mit ordentlich Temperatur.

Provokant reduziert, aber köstlich: das "Frühstückssackerl", bei dem geröstete Kürbiskerne, Leinsaat, Mohn, Sesam und Sonnenblumenkerne mit einer den Boden bedeckenden Butter-Frischkäse-Crème kombiniert werden. Es knuspert nur so vor sich hin, dazwischen schiebt sich ab und an die erfrischende Crème. Die Idee hinter dem Gang entstammt Sebastian Franks Kindheitserinnerungen: Hatte man das Brot im Bäcker-"Sackerl" aufgegessen, schüttete man die restlichen Körner aus der Tüte direkt in den Mund. Dieses Gefühl können wir nun nachvollziehen – tolle Idee!

Der nachfolgende Fischgang interpretiert "Halászleves" ("Fishermen's Soup"), einen Klassiker der ungarischen Küche. Bei "Stör Paprikás" wird kurzgebratenes Störfilet mit Franks "Hühnermagic" (eine extrem reduzierte Hühnerfond-Umami-Bombe) und mit Sauerrahm und kandierten Zitronenzesten serviert. Auch diese Kreation ergibt sich der unverfälschten, geradlinigen Produktküche: Rustikal preschen strenge Fisch- und Paprika-Eintopfaromen nach vorn und werden durch die Kälte des Sauerrahms und die Zitronensäure veredelt. Zum Schluss erfüllt eine süchtig machende, unzählige gegrillte Hühnerhäute kumulierende Crème jede Ecke des Mundraums mit Wonne. Die Krone setzt dem Gericht das alkoholfreie Pairing aus Wurzelgemüse und Öl auf. Schier grandios!

Ein ebensolches Feel-Good-Potenzial birgt gedämpftes und geröstetes Toastbrot mit Pusztasalat von grünen Tomaten, gedünstetem Lauchgemüse und Bergkäsesud. Eine Art umgedachte Gemüse-Käse-Stulle mit erneut ungarischer (eingelegter Salat-)Beigabe. Hier bringt uns der Sud erneut ins Schwärmen – diesmal allerdings durch seine Leichtigkeit. Der Käse erschlägt zu keiner Sekunde, sondern geht eine gelernte, dennoch feine Harmonie mit dem knusprigen Toastbrot ein, das Wurzelgemüse am Boden ist (bewusst) weichgekocht und bleibt der Linie der Eintopfaromen der vorherigen Gänge treu. Lediglich den als Crème interpretierten Salat auf dem Löffel hätten wir in dieser vegetarischen Dreifaltigkeit aus Wohlgeschmack nicht gebraucht.

Ein vegetarisches "Haschee" aus gebratenem Pilzhack, schaumiger Gemüseeinmachsauce sowie oxidiertem und gedörrtem Kopfsalat kann uns nicht so recht begeistern. Die Kälte des Gerichts – allen voran der Salat – will den roten Faden des Menüs nicht so recht weiterspinnen. Die Pilze als Fleischersatz funktionieren geschmacklich prima, bieten aber keinerlei Textur. Natürlich nicht ungenießbar, fällt dieses Gericht gegenüber den anderen Gängen stark ab.

Das Wintergemüse, eine Eiscrème von gekochten Topinambur, Kohl-"Slushy" und geeister Kümmelschnapsmarinade, befasst sich dann etwas konsequenter mit dem Thema Kälte und bringt uns wurzelige, leicht kümmelige, durchweg cremig-kühlende Erfrischung. Ein unerwartet moderner Muntermacher für die Küche des Restaurants.

Spätestens mit dem Hauptgang macht Sebastian Frank klar, woher er kommt: Der Kalbstafelspitz rosé mit Emulsion von Blattspinat und Suppenfett, in Gemüsesuppe gekochtem Strudelteig und knusprigen Kalbsfettgrammeln bringt nicht nur Wiener Lokalkolorit, sondern auch eine üppige Portionierung auf den Tisch - jede Beschwerde, dass man im "Horváth" nicht satt wird, ist damit obsolet (wir nehmen alles zurück!). Das Kalb ist derart zart, dass wir es mit dem Löffel teilen können, das angegossene Fett potenziert den Schmelz noch. Die Idee, den Strudelteig gekocht – eine Art ungerollte Cannelloni – zu servieren und in fettigem Schweinehaut-Glanz erstrahlen zu lassen, ist grandios. Wir verneigen unser Fresser-Haupt vor dieser hervorragenden Interpretation eines Klassikers, die nicht nur die lokalen Wurzeln, sondern auch die kulinarischen Gedankengänge des Kochs nachvollziehen lässt.

Gebratene Karotte, Punsch-Sorbet mit Essig und Gewürzen, Essenz vom Quittenauszug, geröstete Karottensaat und Früchteteebutter liest sich nicht wie ein Dessertgang, und doch birgt die bis zur Grenze der Karamellisierung gebratene Karottenschale derart viel rauchige Süße, dass sich die eher bitter-sprittigen Begleiter dem Nachspeisen-Diktat beugen und die Butter für "Vollmundigkeit" sorgt. Die Wirkung der Karotte – modern, einfallsreich und absolut köstlich auf die Spitze getrieben.

Als wohl komplexestes Gericht entpuppt sich gedämpfte Aubergine, Minzläuterzucker und Petersiliensorbet. Der Teller erinnert uns an den Sebastian Frank, den wir aus unseren letzten Berichten kennen: Mit jedem Löffel isst man sich weiter in die eher ungewöhnliche Dessert-Kreation, bei der die Dominanz der Petersilie erst sehr spät vom süßlichen Schmelz und anschließender, die Aromen im Mundraum verteilender Wässrigkeit der in Läuterzucker eingelegten Eierfrucht abgelöst wird. Ein sehr ausgeklügelter wie anspruchsvoller, in Summe aber schmackhafter Puristen-Teller, in den wir uns das erste Mal an diesen Abend reinessen müssen.

Einen Klassiker der Wiener Kaffeehauskultur interpretiert das Röstgemüse "Maria Theresia": cremiges Baiser mit Röstgemüsereduktion, Kaffeeauszug aus gerösteten Rüben, Orangen-Grand-Marnier-Reduktion, halbgeschlagene Sahne und gefrorene Milch. Die Küche zerlegt die Bestandteile des alkoholischen Muntermachers in ihre Einzelteile, inmitten derer vor allen Dingen der Kaffeeauszug die Süße ins Spiel bringt, die sich bei den vorherigen Desserts eher zwischen den Zeilen versteckte. Eine sehr cremige, schmackhafte und stringente Kreation, die in ihrer streitbaren Eindimensionalität einen doch überraschend runden Abschluss für das Menü schafft.

In nahezu jeder Tripadvisor-Bewertung wie eine Art touristische "Mutprobe" erwähnt: Die spektakuläre Blutpraline als Petit Four, die dem Digestif schon seit Jahren Gesellschaft leistet und durch initiale Süße sowie lange anhaltendes, dezent metallisches "Blutaroma" begeistert.

Vergleicht man die obigen Zeilen mit denen aus unserem letzten Artikel, könnte man meinen, wir wären heute im falschen Restaurant gewesen. Vorbei scheint die Zeit der Fermentationsexperimente, der wilden Kombinationen, der teils überbeanspruchenden, komplizierten Gemüsereduktionen. Was Sebastian Frank heute auf den Tisch gebracht hat, war - und das formulieren wir nicht ganz ohne Verwunderung - eine zu Ende gedachte, spektakulär ideenreiche Austria-Wohlfühlküche. Es scheint, als wäre das kulinarische Hirn des Wahl-Berliners an einen Punkt gekommen, an dem es die handwerkliche Kompetenz mit der kreativen Originalität zu verbinden sowie den Wettbewerbsdruck um "reduzierte Lokalküche" gekonnt auszublenden weiß. Jeder Gang, allen voran der Tafelspitz als neue Blaupause des Küchenchefs, schmeckte rund, ohne zu langweilen, hatte keine Ecken, dafür aber köstliche Kanten. Hier und da blitzte noch ein bisschen puristischer Übermut (Pilz-Haschee, Aubergine) auf, der an diesem Punkt nicht so recht in die neue Menü-Dramaturgie passen will. Wir sind uns aber mehr als sicher, dass auch diese - keinesfalls schlechten, sondern eher irritierenden - Ausreißer dank des niemals schlafenden kulinarischen Hirns Sebastian Franks in eine passende kulinarische Ebene gedrückt werden.

Ein paar Worte zu den Pairings: Die Weinbegleitung stammte heute fast ausschließlich von Natural-Gütern und hat trotz der ansonsten generellen Eignung solcher Weine nicht immer mit den Gerichten harmoniert – zu häufig spielten sich die Weine in den Vordergrund oder waren schlichtweg zu anstregend. Viel passender dagegen die in Deutschland wohl einzigartige alkoholfreie Begleitung, die ebenfalls vom Chef konzipiert und auf die Gerichte abgestimmt wird und die wir in dieser Qualität und Raffinesse bisher nur im AOC in Kopenhagen erlebten.

Fazit

Sebastian Frank ergibt sich im "Horváth" der österreichischen Produkt-Wohlfühlküche und serviert ein spektakuläres, bis (fast) in die Ecken zu Ende gedachtes, ideenreiches Menü.

Wein

Die Weinauswahl im Restaurant Horvath in Berlin

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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