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Restaurantkritik 23.Januar 2020

DAS STOCKHAUSEN-SYNDROM

"Noch in die Cordo?" Mit dieser rhetorischen Frage endeten in den vergangenen Jahren so einige gängereiche Berlintrips in wohliger nächtlicher Benommenheit. Die "Bar" strichen wir zeitsparend aus unserem Vokabular – jeder wusste, dass damit nur die schummerig-gemütliche österreichische Gastlichkeit in Berlin-Mitte gemeint sein konnte, in der sogar der hartgesottenste Fresser noch seinen Betthupferl-Snack vertilgen konnte. Die Zeiten scheinen nun nach internen Umstrukturierungen vorbei – seit Ende 2018 sind die Neonröhren mit Klebeband um den "Bar"-Aspekt beraubt. Der ehemalige Aqua-rianer Yannic Stockhausen führt nun weiter, was Lukas Mraz vor fast sechs Jahren mit seiner Blutwurstpizza begann, und transformiert die hippe Kneipe in ein Casual-Dining-Restaurant. Zwar fällt der Eingangssatz noch immer in alter, phantomschmerzartiger Regelmäßigkeit, nur diesmal müssen wir uns etwas mehr konzentrieren, um folgenden Bericht in die Tastatur hämmern zu können.

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Gudrun und Christoph Ellinghaus sowie Gerhard Retter sind immer noch federführend bei der gastronomischen Ausrichtung des Etablissements. Nach dem Abgang Willi Schlögls, der sich mit der "Freundschaft" ein eigenes Standbein aufgebaut hat, schwante uns zunächst ein kleines Vakuum. Doch die Atmosphäre ist gut und um das nächste Glaserl Wein muss man auch nicht fürchten.

Die "-Bar" ist jedenfalls Geschichte; wie so oft war es der Berliner Anwohner, mit dem man sich nicht auf einen annehmbaren Lärmschutzpegel einigen konnte, so dass eine Refokussierung weg vom Wein, hin zur Nahrungsaufnahme nahelag. Da kam der gerade mal 28-jährige Hamburger Yannic Stockhausen genau richtig, der sich zu dieser Zeit nach einer Stelle in der Hauptstadt umschaute, der Liebe wegen. Das Manoir de Rétival in der Normandie, Rüffers Haerlin in Hamburg sowie das renommierte Aqua in Wolfsburg gaben ihm das nötige Rüstzeug, die eigenen Fußstapfen konturenreich zu formen. Drei bis acht Gänge stehen im Menü, noch dazu fair kalkuliert, und für den kleinen Fresserhunger gibt es ein paar Snacks. Von der Neuausrichtung bekommen wir ansonsten – von ein paar marginalen Änderungen in der Einrichtung sowie den fehlenden enthusiastischen Fußballkommentaren des für die Österreicher legendären Spiels von Córdoba 1978 auf der Toilette abgesehen – im ersten Moment gar nicht so viel mit, alles fühlt sich vertraut an. Das große Menü, das es heute zu vertilgen gilt, ist in Anspielung auf die Straßenlage "Große Hamburger" tituliert und passt durch legere Namen wie "Auf die Faust" hervorragend zur Grätsche Vorher-Bar-jetzt-Restaurant. "Dit is Berlin, wa?" – auf geht's!

Die ersten Apéros, ein etwas zu salziges Beef-Tatar mit Salzpflaume, Hollandaise und Amaranth sowie das sehr gute, lauwarme, cremige und erst sehr spät "fischige" Labskaus-Knäckebrot mit Räucheraal, Roter Bete, Meerrettich-Eiersalat und gebranntem Schinken geben schon mal ordentlich Gas.

Ein weiterer Gruß bringt gebeizten Stör, Tapioka und schwarzen Knoblauch als Chip und führt den hochintensiven Einstieg fort. Ein fischig-fettiges Aromengemenge füllt den gesamten Mundraum aus. Wir fühlen uns an die enorm hochgezüchteten Fischgänge eines Mraz erinnert.

Der Hammer gleich im ersten Gang: Die Karotte mit Kimchi, Basilikum-Öl und Koriandercrème ist schlichtweg exzellent. Die Arbeit mit verschiedenen Texturen der Pfahlwurzel harmoniert mit den Temperaturgefällen und den unterschiedlichen Aromen: Wie eine koreanische Eis-Karottensuppe auf Speed bietet jeder Löffel eine andere Gewichtung des Tellers, es wird weder langweilig noch überfrachtend, der Ingwer und die dezente Schärfe bringen das Gericht immer wieder auf eine neutrale Bahn. Eine – und das ist überaus selten – vegetarische Götterspeise im ersten Gang!

Da kann der Matjes mit Dill-Kartoffeln, Senfcrème, Pumpernickel-Crème, Apfel, Röstzwiebeln, Dill und Gurke nicht mithalten. Ein etwas überfrachteter Teller, von dem wir nicht wissen, wohin uns diese Kombination führen soll, zumal der Matjes hier durch seine Begleiter ins Abseits gestellt wird. Es fehlt an Stringenz - besonders die Brotcrème irritiert. Wenn das ein dekonstruiertes Smörrebröd sein soll, dann würden wir uns selbiges wohl reduzierter belegen.

Die niedersächsische Forelle aus Jelmstorf mit Sellerierauchfisch-Brandade, Petersilien-Öl, Amalfi-Melonenschaum, Forellenkaviar und Sauerteig gefällt uns schon besser. Etwas geradliniger, ordnet sich diese Kreation in die süß-säuerliche Fischwelt ein und führt – wenngleich natürlich ein Stück weniger originell – die Idee der Karotte gelungen weiter.

Dem ehemaligen Bar-Food-Konzept zollt Maishuhnkeule mit Eigelbcrème, Kapernmayonnaise, Sauerteig-Speck-Crunch, gebranntem Salat, Parmesan, Anchovis, Speckemulsion und Salat Tribut. Rustikal, mit leichter Schärfe, knuspert dieser Caesar-Salad-ähnliche Gang herzhaft vor sich hin. Eine schöne Idee, die uns gekonnt aus der Welt der marinierten Fische der vorherigen Gänge raus- und an die Broiler-Stände der Hauptstadt ranholt.

Eine Spur zu pfeffrig ist dann der Kabeljau mit schwarzem Senf, Tomaten-Erbsen-Ragout, Himbeer-crème und gepufftem Reis, dazu der omnipräsente schwarze und langer Pfeffer. Eine derbe Szechuan-Schärfe macht sich breit, sodass wir den hervorragend gegarten Fisch davon befreien müssen. Ist dies gelungen, funktioniert die Kombination aus Fisch Ragout und den texturell passenden Puffreiskügelchen sehr gut.

Im Hauptgang bringen Schweinekinn mit Macadamia-Crème, Schnittlauchöl, Rote-Bete-Meerrettich und Sauerteig ordentlich Grillraucharomen an den Tisch. Die harmonieren in diesem Fall vortrefflich mit der erneut merklichen Schärfe dieses äußerst schweinelastigen Ganges, der in seiner Rustikalität gut zur Neuausrichtung des Lokals passt; ein unkomplizierter, toller Fleischteller, nicht mehr und nicht weniger.

Das erste Dessert liest sich avantgardistisch: Speck, Banane und Shiso lässt vorerst nicht auf eine Nachspeise schließen, kriegt die Kurve aber dennoch. Die Fruchtsüße der Banane behält zu jeder Zeit die aromatische Oberhand, die fettige Speckigkeit hält sich zu unserer Erleichterung eher dezent zurück. Das Texturenspiel aus Crème und Crunch bestimmt das Gericht, das sich – ähnlich wie Karotte, aber weniger ausgefeilt – moderner liest, als es schmeckt.

Die "Hamburger Rote Grütze" entlässt uns aus dem Menü: Beeren, weiße Schokolade, gewürztes Vanilleeis und Nussbutter sind gut gearbeitet, hübsch anzusehen und eine gelungene Lösung für die nicht-existente Pâtisserie, denn: Viele ambitionierte Köche treten in solchen Momenten die Flucht nach vorn an und enden in einem Gemenge aus oft originellen, aber zu vielen Ideen. Dann doch lieber ein solider, gelernter Klassiker.

Ebenso einfach wie funktional: die Petits fours zum Kaffee. Franzbrötchen und Canelés de Bordeaux versüßen die "Fluchtachterl".

Yannic Stockhausen scheint sich schnell eingefunden zu haben. Bereits wenige Monate nach der Neueröffnung tischte er uns ein Menü auf, das den herausfordernden Spagat zwischen "alter" Bar und "neuem" Restaurant auf weiten Strecken zu meistern versteht. Wir jedenfalls können uns nur schwer vorstellen, in diesen Räumen ein fünfstündiges, 18-gängiges Aromen- oder Nova-Regio-Menü zu verspeisen; dazu ist die Atmosphäre – und das ist ausdrücklich positiv gemeint – immer noch zu lässig. Dass wir heute bereits im ersten Gang mit einer vegetarischen Götterspeise beglückt wurden, ist Fluch und Segen zugleich, denn unser Bewertungsrahmen ging fortan mit einer enormen Messlatte in die folgenden Gerichte. Fluch, weil die Erwartungshaltung unerwartet hoch ist, Segen, weil man diesem jungen Koch bereits in seiner ersten Küchenchef-Station mehr zutraut, als manch anderem Berliner Neuzugang, der sich trotz jahrzehntelanger Erfahrung schon mit klassischer französischer Landküche schwertut. Blitzsauber war natürlich nicht alles, was weniger am handwerklichen Können, sondern viel eher an den hohen Ambitionen liegen mag. Hier gilt es wie zum Beispiel im Matjes-Gang oder beim Kabeljau, weiter am gustatorischen Kern der Gerichte zu schrauben. Denn so banal es klingen mag: Das Macaron darf unseres Erachtens durchaus für eine geniale Karotte und die hochklassige Rustikalität eines Brathuhns oder Schweinekinns gezückt werden.

Fazit

Das Team der "Cordo" hat die Bar erfolgreich in ein Restaurant überführt und liefert bereits kurz nach Eröffnung ein aromenintensives Menü. Ab und an ist es überfrachtet, an anderer Stelle wird der Gast aber mit einer waschechten Götterspeise belohnt. Unbedingt auf dem Zettel haben!

Wein

Die Weinbegleitung im Restaurant Cordo in Berlin

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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