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Restaurantkritik 20.Dezember 2017

Rätselhaft gut

Reden wir nicht lange drumherum: Das Enigma in Barcelona war eine der heißesten Neueröffnungen des Jahres 2017. Das hat natürlich auch mit dem dahinterstehenden Namen zu tun - Albert Adria. Der Bruder und langjährige Küchengefährte von Ferran Adria hat sich nach der Schließung des El Bulli ein kleines Gastro-Imperium in Barcelona aufgebaut. Es umfasst das moderne Tapas-Lokal "Tickets" (1 Stern), die mexikanische Taqueria "Nino Viejo", das modernistisch-mexikanische "Hoja Santa" (1 Stern), die Wermut-Bar "Bodega 1900" und das ebenfalls besternte "Pakta", wo die peruanisch-japanische Nikkei-Cuisine zelebriert wird.

Zwischenzeitlich gab es auch noch das "41°", in dem der Avantgarde-Stil des El Bulli fortgesetzt wurde. Aber es schloss 2014 für immer die Türen - bald gefolgt von der Ankündigung eines Nachfolgerestaurants: dem Enigma. Allerdings wurde die Eröffnung über zwei Jahre hinweg immer wieder mit dubiosen Begründungen verschoben, sodass wir uns bald fragten, ob wir es hier mit einem elaborierten Hoax zu tun haben.

Ende 2016 war es dann aber soweit: Man könne reservieren! Für Termine ab Januar 2017. Diese Neuigkeit ließ unseren Puls deutlich ansteigen - da mussten wir hin! Die Euphorie wich allerdings sehr schnell der Erkenntnis, dass die Plätze im Enigma ähnlich begehrt sind wie einst im El Bulli. Egal, wie oft und für welche Termine wir im Online-Reservierungskalender suchten: Außer einem Platz auf der Warteliste war nichts zu holen. Schließlich kamen uns das Glück - und ja, auch ein paar gute Beziehungen - zur Hilfe: Ein Zweiertisch zum Abendessen rückte in greifbare Nähe. Nach einer Anzahlung erhielten wir per E-Mail die Bestätigung sowie einen Türcode, den wir bei der Ankunft bereithalten sollten. Außerdem der Hinweis, dass man bitte pünktlich erscheinen solle. Sehr "enigmatisch" das alles. Aber die Euphorie war zurück und für einen von uns auch die Erinnerung an zwei legendäre El Bulli-Besuche mit einer illustren Reisegruppe in den Jahren 2006 und 2007. So schnell waren die Flüge selten gebucht ...

Am Abend der Reservierung stehen wir um Punkt 20 Uhr 30 vor einem gesichtslosen Bürogebäude in der Innenstadt von Barcelona. Nur ein kleines Schild mit schwer leserlicher Schrift weist auf das Enigma hin. An der schmucklosen, stahlgerahmten Glastür befindet sich ein Code-Schloss, in das wir unsere persönliche Kombination eingeben müssen. Aber nichts passiert. Wir probieren es nochmal. Wieder nichts. Inzwischen sind weitere Gäste eingetroffen. Auch sie haben mit ihrem Code keinen Erfolg. Zusätzlich erschwert wird der Zutritt zum Gebäude durch das Fehlen eines Griffs an der Tür. In der Theorie mag das alles sehr amüsant sein, in der Praxis weicht die freudige Erregung recht schnell einer gewissen Genervtheit. Erst durch den geschickten Umgang mit der hakelnden Tür löst sich das Problem.

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Einmal drin, führt eine geschwungene, spärlich beleuchtete Treppe zu einer Art Empfangsraum, wo man an Stehtischen über den weiteren Verlauf des Abends informiert wird. Im Wesentlichen erfahren wir, dass es im Enigma eine Reihe unterschiedlicher "Stationen" gibt: La Cava, La Barra, La Planxa, Dinner und 41°. Unsere aktuelle Station heißt "Ryokan", nach den traditionellen japanischen Herbergen. Den Bezug verstehen wir nicht, aber egal, denn es gibt zwei erste Snacks: Frühlingssprossen und Erdbeere, dazu ein Pinientee. Der Tee ist recht mild im Geschmack, das Sprossentartelett nahezu geschmacksneutral, und die Erdbeere sieht zwar frisch aus, schmeckt aber seltsam, irgendwie fermentiert. Hier springt keine Begeisterung über.

Danach geht in den Bereich La Cava, wo wir an kleinen Tischen und bei kleinen Drinks (im Menü inklusive) die Weinkarte studieren (es gibt auch eine ‒ nicht sonderlich ansprechende ‒ Weinbegleitung). Dazu serviert der ungemein freundliche Service weitere Snacks. Sehr gut gefallen uns die süßlichen Babybohnen in einem Crisp von würzigem Manchego-Käse (Foto) sowie die sehr rein und klar schmeckenden Spargelspitzen mit Pesto.

Ebenfalls sehr gut sind die Nori-Würfel mit Kaviar (Foto), bei denen sich die jodigen Meeresaromen und die Texturen prima ergänzen, und der sushiartig aussehende Tintenfisch mit Kokosnuss, bei dem nussige Süße und feines Pulpoaroma eine elegant-exotische Liaison eingehen.

Nachdem die Weinauswahl getroffen ist, führt man uns zur Station La Barra. Hier werden für uns mehrere Miniatur-Drinks gemixt, darunter ein sehr frischer und kräftiger Mispel-Cocktail. Zu Essen gibt es auch hier kleine Happen, ganz im Sinne der spanischen Tapas- und Pintxos-Kultur: einen ungemein kräftigen und komplex schmeckenden Himbeer-Chip mit wildem Fenchel, eine knusprige Parmesan-Kugel und eine Scheibe getrockneten Ingwer mit Kumquatgel. Letztere reinigt zum Ende dieser Station den Gaumen mit fruchtiger Schärfe und bringt zugleich die Papillen auf Touren. Sehr gut, all diese Petitessen.

Während wir die Aromen nachwirken lassen, schauen wir uns ein wenig um. Die diversen Stationen scheinen sich ringförmig um einen Hauptraum mit richtigen Tischen zu gruppieren. Milchige Glas- oder Kunststoffwände trennen die Sektionen. Alles mutet etwas labyrinthisch an, grau und silber sind die dominierenden Farben. Auch durch die teils organische Formgebung hat die Atmosphäre im Enigma etwas von einem Raumschiff. Die künstliche Coolness der Gestaltung wird glücklicherweise durch die warme Herzlichkeit der Servicecrew ausgeglichen: Trotz der artifiziellen Umgebung fühlen wir uns sehr schnell sehr wohl.

Aus der Bar werden wir an unseren Tisch geführt, wo der erste Teil der Station "Dinner" serviert wird. Los geht es mit gefrorenem Kaviar auf Joghurt-Molke. Die Eiskügelchen haben einen sehr schön dichten Kaviargeschmack, der von der mildsüßen Säuerlichkeit der Molke fein komplimentiert wird. Gefällt uns gut.

Danach wird uns eine Salat-Suppe serviert. Wir sollen vermuten, aus welchem Blattsalat sie besteht. Nicht einfach, denn sie schmeckt zwar wirklich ausgezeichnet, aber was es ist - wir können nur raten: Kopfsalat?

Danach kommt Steak-Tatar auf den Tisch: eine dünne Scheibe Rindfleisch von herausragender Qualität, gut fettdurchzogen, sehr intensiv im Geschmack, bestrichen mit einer leicht scharfen Marinade. Das ist zwar eher ein Carpaccio als ein Tatar, aber wen interessieren Begrifflichkeiten, wenn es so gut schmeckt.

Weiter geht es mit einem kleinen Schälchen der von uns so heiß geliebten Baby-Mandeln. Pur genossen sind diese zart-knackigen Teilchen schon eine Wucht. Dazu gibt es einen Fond aus Spargel-Miso, Kaffee und Estragon, sehr ungewöhnlich, komplex und gut.

Nun werden wir zur nächsten Station gebracht, dem Grill (La Planxa). Wie bei der japanischen Teppan-yaki-Küche sitzen hier mehrere Gästegrüppchen an einer Art Tresen um einen heißen Tisch herum und schauen den Grillmeistern bei der Arbeit zu.

Als erstes werden Blini auf der heißen Platte gebacken für Blini-Cannelloni mit geräucherter Crème und Fischrogen - das ist ein Knaller! Ein perfekt fluffiger, aber auch leicht krosser Teig, gefüllt mit einer perfekt mildgeräuchten Crème (eine Art Crème fraîche), obenauf der jodig-ploppende Kaviar. Besser geht's kaum.

Oder doch? Als nächstes gibt es eine Variation des mittelamerikanischen Klassikers Tamal ‒ ein gedämpfter Maisteig, gefüllt mit Fleisch und Käse. Im Enigma ist der Tamal so fluffig und leicht wie ein Soufflé, die Füllung minimal in der Menge, aber maximal geschmackvoll wie eine Umami-Wolke, die über den Gaumen rollt. Unfassbar gut.

Nun gibt es einige Scheiben von in Kombu eingelegtem Makrelenfilet. Durch den Seetang bekommt der ohnehin schon kräftige Fisch eine zusätzliche Umami-Intensität. Das ist Produktküche allererster Güte. Und hier zeigt sich sehr deutlich, wie wenig molekular die Kreationen bisher sind, sondern puristisch und nah am Produkt.

Auch der Makrelenbauch in Safran-Escabeche ist eine Wucht: zarter, fetter Fisch in einer gaumenschmeichelnden Sauce. So simpel, so gut. Mehr braucht es nicht.

Während wir essen, werden am Grill immer schon Vorbereitungen für die nächsten Gänge getroffen. So brutzelte gerade eine Garnele auf dem Grill, deren Kopf nun in einem speziellen Gerät ausgepresst wird - aus den Säften entsteht eine kurze, extrem verdichtete Sauce. So ist auch die Garnele vom Grill ein Stück brutal reduzierter Produktküche. Und es schmeckt grandios.

Während im Hintergrund der nächste Gang zubereitet wird, präsentiert man uns die spanische Abalone, welche die Basis für die nun folgende Köstlichkeit bilden. Schon hübsch.

Die Abalone in Sherrysauce gehört dann auch zu den besten, die wir je hatten. Zart und knackig, geschmacksstark und von einer sehr dicken, aber eleganten Sauce eingehüllt. Zu gerne hätten wir eine zweite Portion.

Zum Abschluss dieser Station gibt es Käsebrot: Frisch geraspelter Parmesan wird auf dem Grill geschmolzen und dann um eine Art Brioche gewickelt. Dieser heiße Würfel ist knusprig und weich, Umami und buttrig - ein toller Happen!
Zu gerne würden wir den restlichen Abend hier am Grill verbringen, wo wirklich magische Dinge auf die Teller kommen. Aber wir müssen weiter, ...

... zurück zum Dinner an unseren Tisch. Dort serviert man uns auf Holzkohle gegrillte Artischocken in Artischocken-Fondant. Nennen wir es "Artischocke in Potenz" - einmal mehr haben wir hier ein auf das Produkt fokussiertes Gericht, bei dem das besondere Aroma der Artischocke wundervoll ausgespielt wird. Die ganzen Stücke haben Biss und schmelzen trotzdem auf der Zunge, vermischen sich mit dem dichten Fondant. Köstlich.

Bei der Krabbe in Hühnersaft wird es etwas augenfällig modernistischer - und siehe da: Dieser Gang schmeckt ordentlich, spielt mit dem Thema "Mar y Muntana", hinterlässt aber keinen größeren Eindruck.

Etwas besser gefällt uns Tucupí mit Pequí-Öl und Kürbisgnocchi. Tucupí bezeichnet eine traditionelle brasilianische Sauce aus Bittermaniok, deren leicht säuerliche Würzigkeit hier mit der feinen Süße von Kürbis und dem blumigen Duft vom Öl der Pequí-Nuss kombiniert wird. Das schmeckt sehr subtil und fein, wäre mit einem Stück Fleisch oder Geflügel aber sicher noch eindrücklicher.

Als eine Art erfrischende und neutralisierende Petitesse gibt es ein Stück eingemachten Daikon-Rettich. Leicht frisch, saftig, weich und kühl. Das tut an dieser Stelle des Menüs gut.

Auf zum Hauptgang, einem Bruststück von der Wildtaube mit Birne und schwarzer Johannisbeere. Das Fleisch ist von einer Intensität, wie man sie üblicherweise kaum erlebt. Durch die Kombination mit der fruchtig-süßen Birne und den leicht bitteren Johannisbeeren ergibt sich ein sehr eingängiger Wohlgeschmack. Die dichte Rotweinsauce tut ihr Übriges, um dies zu einem sehr klassisch anmutenden Fleischgang zu machen. Gut, aber nicht sehr spannend.

Wesentlich besser schmeckt uns der zweite Teil dieses Gerichts: ein Stück hervorragender Taubenterrine in Escabeche-Sauce, dazu eine Innereiencrème auf einem winzig en Cracker. Das hat Tiefe und zeigt speziell bei der Terrine vom Keulenfleisch und bei der Sauce ein hervorragendes Handwerk.

Nun geht es zum süßen Teil des Menüs - und zwar mit einem Knaller: Das Kartoffel-Millefeuille mit Kaffee-Eis und Vanille ist texturell von betörender Filigranität und geschmacklich sehr elegant. Der hauchzarte Knusperteig, das cremige Eis und die federleichte Vanillecrème bieten einerseits klassisches Pâtisserie-Handwerk in Bestform, wirken durch die enorme Leichtigkeit aber auch sehr modern. Klasse.

Ebenfalls sehr gut gefällt uns der Aprikosen-Pflaumenkuchen mit Yuzu, vor allem wegen des tiefen Fruchtgeschmacks, des knusprigen Teigs und der elegant integrierten Säure. Ein schöner Abschluss für das Menü.

Wobei die Show noch nicht zu Ende ist. Zu guter Letzt wird man nämlich zu der finalen Station namens 41° geleitet - eine urige Cocktailbar, in der noch einige Petits Fours auf den kleinen Tisch kommen, nämlich: die Perle und die Birne (beide im Bild), Mato-Joghurt und Popcorn-Bonbon, Shiso-Blätter mit Ugli und Passionsfrucht sowie Apfel mit rotem Curry, Thai-Kräutern und Kokosnuss. Durch die Bank gut, ohne spektakulär zu sein. Nicht ganz stimmig finden wir es, dass man hier quasi obligatorisch einen Cocktail bestellen muss, der aber extra berechnet wird. Aber das soll uns in diesem Moment nicht stören - wir lehnen uns zurück und lassen den Abend Revue passieren...

Das war ein Erlebnis! Man kann von Albert Adrias mannigfaltigen Projekten halten, was man will - aber wenn der Mann etwas anpackt, macht er keine halben Sachen. Und wenngleich es im Enigma zu Beginn des Abends ein paar Holprigkeiten gab (das Öffnen der Tür, die lange Wartezeit am Empfangstisch), haben wir selten erlebt, dass ein derart durchkomponierter Abend so reibungslos abläuft. Wobei es natürlich auch kaum ein Restaurant gibt, in dem diese Idee so konsequent und über das ganze Menü hinweg durchgespielt wird. Andere kommen schon ins Straucheln, wenn es um ein wenig Show für die Apéro-Happen geht – wir sagen nur: Azurmendi.

Was das Essen betrifft, so gibt es bei einem so umfangreichen Menü natürlich immer ein paar Kreationen, die uns weniger gut gefallen - bemerkenswert finden wir aber, dass es nach den beiden Minihappen zum Empfang im Enigma keinen einzigen richtigen Ausreißer gab. Umgekehrt war das absolute Highlight der Grill. Dort jagte ein großartiges Gericht das nächste. Die anderen Stationen konnten da naturgemäß nicht ganz mithalten, so gut Kreationen wie die Salatsuppe und die Artischocken auch schmeckten.

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Tatsächlich haben die einzelnen Stationen im Enigma auch dramaturgisch Sinn: Man beginnt in einer Art Bar, geht zu Tisch und an den Grill und nimmt am Ende noch einen Absacker in der Bar. Der Kreis schließt sich. Über das Interieur kann man durchaus streiten - muss es tatsächlich eine solche Kunstwelt sein? Wir denken: ja! Auch wenn man sich hier und da des Kulissencharakters allzu bewußt wird, etwa wenn man die Bürowände zwischen den angeschraubten Glasfassaden wahrnimmt, trägt der Kunstcharakter der Innengestaltung dazu bei, dass man sich von den konventionellen Erwartungen eines Restaurantbesuchs verabschiedet. Man befindet sich in einem expliziten Performance-Raum, und die Darbietung funktioniert für uns ganz ausgezeichnet. Bliebe die Frage, ob das auch bei einem wiederholten Besuch so wäre. Aber angesichts der Reservierungslage werden wir wohl kaum in die Verlegenheit kommen, das zu überprüfen ...

Fazit

Erlebnisgastronomie, die diesen Namen auch verdient: Ein Essen im Enigma bindet kulinarische Hochgenüsse in einen komplett durchkomponierten Abend ein - und es funktioniert ganz hervorragend.

Weine

Weinauswahl im Restaurant Enigma in Barcelona

Champagne De Sousa et Fils, Brut Tradition

2006 Viré Clesse, Domaine Valette, Burgund

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