Restaurantkritik 21.Dezember 2014

Augenschmaus

Den geneigten Lesern unter Euch ist es vielleicht schon aufgefallen: Ein Bericht über das Restaurant Überfahrt von Küchenchef Christian Jürgens, dem jüngsten Neuzugang in der Riege der deutschen Drei-Sterne-Restaurants, fehlte bisher. Zwar haben wir uns beim Erscheinen intensiv mit Jürgens' Kochbuch auseinandergesetzt, der Besuch des Restaurants stand aber noch aus – und das trotz unseres Drei-Sterne-Komplettierungswahns, zu dem wir gerne stehen. Um diesen Missstand abzustellen, machten wir uns auf den Weg an den wunderschönen Tegernsee in die gut betuchte Gemeinde Rottach-Egern, knapp 50 Autominuten südlich von München.

Seit 2008 verantwortet der 1968 in Unna in Nordrhein-Westfalen geborene Christian Jürgens das Gourmetrestaurant im Althoff Seehotel Überfahrt. Nach einer Kochlehre in Bad Homburg ging es ab 1988 von Feinkost Käfer über wahrlich renommierte Stationen der deutschen Küche aufwärts: Das Tantris, die Residenz Heinz Winkler, Jörg Müller auf Sylt, Eckart Witzigmanns Aubergine und nochmals Winkler. 1998 leuchtete dann der erste eigene Stern über dem Münchener Restaurant am Marstall. Wenige Jahre später und nur ein Jahr nach Eröffnung folgte der zweite für das Schaffen im Restaurant Kastell der Burg Wernberg in Köblitz. Sein offen ehrgeiziges Streben nach den höchsten Weihen belohnte der Guide Michelin im Jahre 2013 mit dem heißbegehrten dritten Macaron für das Restaurant Überfahrt.

Während rund um den Tegernsee der Wohlstand überaus deutlich zur Schau getragen wird und das Hotel recht mondän daherkommt, geht es im mit Naturtönen dezent und natürlich gehaltenen Restaurant legerer zu. Als es eröffnete, wurden gar kritische Stimmen laut, die sich über die blanken Holztische echauffierten. Diese Stimmen wurden oft mit der gewollt nordischen Konzeption gekontert, wenngleich diese sich allein auf die Raumgestaltung beziehen kann, nicht aber auf das Essen. Wir jedenfalls fanden eine weitere (und schlüssigere) Erklärung: Wie sich im Verlauf des Menüs zeigen sollte, ist das Fehlen der gestärkten Tischwäsche aus feuerschutztechnischen Gründen durchaus sinnvoll....

Dem Restaurant fehlt zwar der direkte Seeblick, aber die Berge entschädigen durchaus. Die blühenden Alpenwiesen, die sich uns bei der Anfahrt offenbarten, nimmt auch die Küche bei der ersten Kleinigkeit zum Aperitif auf. Selten kam uns ein Kräuteraufstrich zum knusprigen Brot als Einstimmung optisch derart apart unter. Sehr hübsch!

Beim ersten Gruß aus der Küche, King Crab mit Tobiko und Apfel, bleibt es mild und frisch zugleich. Die Fruchtsüße der etwas künstlich schmeckenden Apfelzubereitung ist schön eingebunden, die Königskrabbe allerdings bleibt optisch wie geschmacklich, sagen wir mal "unauffällig".

Der Tomaten-Schneeball mit flüssigem Kern erinnert an ein kleines Blumengesteck – wunderschön und mit hohem handwerklichen Aufwand zubereitet. Wer dies am heimischen Herd nachbasteln möchte: Der Ball ist von einer Kakaobutterschicht ummantelt und der äußere Schaum besteht aus einer Tomatenessenz. Das Innere besticht ebenfalls durch eine intensive Tomatenfüllung, die zusammen mit Kräutern und Crunch-Elementen sehr natürlich und transparent schmeckt. Ein wahrhaft spektakulärer Auftakt.

Nahezu herrschaftlich fühlen wir uns dann beim Zarenfrühstück am See, wenngleich natürlich „nur“ die dünne, obere Schicht in der Dose aus Kaviar besteht. Eine Crèmefraîche-Lage trennt den Kaviar von der Roten Bete und den Perlzwiebeln, die die Kreation abrunden – zusammen mit der getoasteten Brioche schmeckt das sehr gut. In der separaten Petrischale geht es wesentlich bürgerlicher, aber nicht minder schmackhaft zu. Die Küche versteht es, bei den Gurken und ihrem Gel das Aroma zu definieren; in Kombination mit der Rauchnote des mild geräucherten Saiblings und dem gerösteten Brot bleibt es bei einem erfrischenden und leichten Eindruck. Kräuter und kleine, geeiste Perlen setzen ergänzende grün-säuerliche und cremige Akzente, die das Gericht vervollständigen.

Ähnlich stimmig bleibt es beim marinierten Gemüse mit Rauchcrème - trotz oder gerade wegen des Verzichts auf Luxusprodukte und der vermeintlichen Reduktion. Dafür lässt die Küche jedem Gemüse eine zuvorkommende Behandlung zuteil werden (gegart oder roh belassen, Marinade und Proportionen), die die individuellen frischen und säuerlichen Stärken der Rüben und Beten hervorbringt. Abschließend bringen Kräutercremeperlen eine schöne Spur Vegetabilität ins Spiel, während die Rauchcrème alle Komponenten auf elegante Art verbindet.

Schon zum vorherigen Gericht hat der Service eine abenteuerliche Apparatur – eine Mischung aus doppelter Teekanne und Gerätschaft aus dem Chemieunterricht – auf unserem Tisch platziert. Für den Hong Kong Crayfish Tea wird eine Langostino-Essenz in der Kaffeemaschine von Cona mit diversen Zutaten wie Gemüse, Blüten, Pilzen, Krustentierteilen und Kaffir-Limetten-Blättern qua Unterdruck aromatisiert und nach einem überkochenden Auftritt in dem Gefäß über unsere Teller mit rohen Langostino-Stücken, Shiitake und Soja ergossen. 

Vom idyllischen Tegernsee in die pulsierende asiatische Metropole – ein Gang wie eine spontane Fernreise. Und für uns überraschend: Das deutliche Show-Element, das wir sehr ähnlich bereits im Osloer Maaemo und im Chicagoer The Aviary erlebt haben, tut dem Geschmack keinen Abbruch, im Gegenteil: Das Ergebnis ist von eine würzig-säuerlichen Finesse, die bei aller Tiefe deutlich mehr Transparenz bringt, als der befürchtete asiatische Mischgeschmack.

Weiter geht es mit noch mehr Tableside-Action: Trotz des strengen bayerischen Rauchverbots hatten wir bereits zuvor schon Qualm vom Nachbartisch in der Nase – nun steht der großzügig dimensionierte Kugelgrill in Laubfrosch-Grün auch vor uns. Darin finalisiert der Service den grünen Spargel bretonischer Art, der mit einer Sauce Mousseline und Meeresfrüchten serviert wird.

Die klassische Schaumsauce wurde in der Küche mit Seeigel angereichert, was wunderbar mit den Grillnoten des Spargels korrespondiert. Dem harmonischen Zusammenspiel mit Stücken von Pulpo und Artischocke steht allerdings ein Zuviel an (Zitrus-)Säure in der Marinade entgegen, wodurch wir die grandiose Gesamtwirkung nur erahnen können. Ein sehr guter Ansatz, der etwas enttäuschend endet. 

Auf einen cineastischen Zusammenhang zwischen dem gleichnamigen Thriller und dem folgenden Gang, Von den purpurnen Flüssen, können wir nur hinsichtlich der Optik und der gelungenen kulinarischen Spannung schließen. Ein großes Stück Wild-Huchen ist mit einer Scheibe Kalbskopf und geröstetem Blumenkohl mit intensiv-kohligem „Wie-bei-Oma“-Aroma belegt und gewürzt. Der Purpur-Fond – ein Zwiebelfond, dessen rötlich-violette Farbe von Blaukrautauszügen herrührt – hält das Gericht süßlich-tief zusammen. Gelungen süffig.

Die Kartoffelkiste ist dann ein sicherer Home Run: Die Teamzusammenstellung aus einem mit Eigelb gefüllten Kartoffelwürfel, einer Perigord-Trüffelmousseline, einer Madeirasauce und einem Trüffelsalat ist schlüssig und köstlich intensiv. Da die eingängige „Box“ texturell zwischen kross und zartschmelzend changiert und Süße sowie Säure eines alten Balsamicos kleine Akzente setzen, wirkt dieses Gericht im Mund substanzieller und ausgefeilter als die Optik vermuten lässt. Zu recht ein Klassiker des Hauses.

Eine nette und würzige Einstimmung auf den Hauptgang ist die mit Rehpfeffer gefüllte Zwiebel. Eine regionale Spezialität, die uns derart fein umgesetzt außerordentlich gut gefällt.

Sogleich wird am Tisch schon wieder mit Hitze gespielt: Aus dem Feuer kommt das Reh auf unsere Teller. Das mit einem schützenden Mantel aus Spitzkohl umwickelte Fleisch hat durch die Finalisierung in der Holzkohle und den daraus resultierenden rauchigen Noten an Geschmack gewonnen, kommt ausgepackt allerdings nicht auf jedem Teller ausreichend temperiert an; und kaltes Reh ist nicht wirklich ein Vergnügen.

Was uns aber weitaus mehr irritiert: Erst kürzlich haben wir einen konzeptionell nahezu identischen Gang bei Grant Achatz im Alinea in Chicago genossen. Eine derartig offensichtliche „Inspiration“ gilt es eigentlich fairerweise als Hommage zu kennzeichnen und ist in dieser Form unangemessen – zumal in der Drei-Sterne-Liga. Da hat sich Christian Jürgens ein wenig die Finger verbrannt...

Weiter geht es im Menü: Hinter dem Namen Schazi verbirgt sich ein schön interpretierter Käsegang aus Schafs- und Ziegenkäse. Aprikosen-Süße fängt die leichte Säure und Schärfe auf, Nüsse und karamellisierter Quinoa bringen knackige Spannung.

Unser "Glücksbringer" des heutigen Menüs besteht aus Manjari, weißem Kaffeeeis und Goldnüssen. Das schmeckt in Summe wie ein hervorragender Mokka mit konzentriertem Schokoladengeschmack. Ein intensiver und gelungener Dessertauftakt.

Beim Erdbeergarten mit Ananaserdbeere, Himbeererdbeere, Walderdbeere und Zitronencrème will sich hingegen keine rechte Begeisterung einstellen. Bei aller Frische und trotz des netten Gags mit Tegernseer Kieseln ist uns dieser Gang etwas zu simpel gestrickt. Zudem stört das Grün an den vollreifen Beeren die Essbarkeit deutlich und mindert somit den Genuss. 

Die Pâtisserie – hier ersetzen Törtchen die Petits fours – versöhnt uns schnell wieder, und wir sind froh, dass die beiden Desserts doch leicht waren und noch Platz für die Charlotte mit Beeren und Orangen-Buttermilch-Crème bleibt. Optisch wie geschmacklich gelungen.

Der Service ist im gesamten Menü richtig gefordert: Aufbrühen, Grillen und die Kohlen, oder besser: Das Reh aus dem Feuer holen. Die Gästebetreuung leidet jedoch in keiner Weise. Charmant kann uns das Team von Restaurantleiter Mathias Blum jede (und das waren einige) auch noch so kleine Detailfrage zu Waren und Zubereitungen beantworten.

Die aus dem Hamburger Restaurant Jacobs an den Tegernsee gewechselte Sommelière Stefanie Hehn bereitete uns mit einer gut abgestimmten Weinbegleitung und ihrer zugleich passionierten wie charmant zurückgenommen Art Freude. Nicht nur die naheliegenden „großen“ Namen, sondern auch bemerkenswerte Nischenspieler kommen ins Glas, wobei sich die Kalkulation der Weine arg an Tegernseer Maßstäben orientiert. Bei der von ihr verabreichten Schluckimpfung hätten wir auch glatt ein Tegernseer Hell akzeptiert...

Wie schon beim Kochbuch fehlt uns auch nach dem Restaurantbesuch ein letztes entscheidendes Quäntchen zur bedingungslosen Begeisterung. Auf der einen Seite sind wir von der Optik der meisten Gerichte schlichtweg hingerissen und attestieren Christian Jürgens in dieser Hinsicht die deutsche Speerspitze. Andererseits liegt der Fokus manchmal einfach zu sehr auf der Bildsprache und einer möglichst spektakulären Inszenierung. Ganz davon abgesehen haben wir mit einigen Gerichten erhebliche Probleme, da sie uns direkt oder entfernt an Kreationen anderer renommierter Köche erinnern wie bei „Aus dem Feuer“ oder „Hong Kong Crayfish Tea“. Es ist sicher nicht verwerflich, sich inspirieren zu lassen und auf dieser Grundlage Rezepte weiterzuentwickeln. Doch sollten derartige Weiterentwicklungen klar erkennbar sein, um sich nicht mit fremden Federn zu schmücken.

In jedem Fall sind wir froh, mit Jürgens einen weiteren Wandler zwischen den Welten gefunden zu haben, der einem die heutzutage oft gestellte Entweder-oder-Entscheidung zwischen Klassik und Avantgarde abnimmt, indem er in vielen Bereichen gekonnt moderne Küche auf klassischer Basis forciert. Auch die amüsanten bis skurrilen Titel der Gänge passen hier noch. Die oft prägnante Inszenierung endet zumeist in einem soliden, bisweilen gar herausragenden Geschmackserlebnis. Letzteres wird von regionalen bis weltläufigen Einflüssen und nicht zwangsläufig von Edelprodukten geprägt. 

Fazit

Ein Mann für alle Fälle und fast alle Gäste: Beeindruckende Optik und ausgezeichnetes Handwerk erfreuen Spitzengastronomie-Einsteiger mit Verständlichkeit und Geschmack ebenso wie fortgeschrittene Esser. Letztere sollten allerdings ab und an ihre kulinarischen Erinnerungen ausblenden. 

KOMMENTARE

Eure Meinung?

Wie wichtig ist die Optik für den Genuss?

 

WEINE

NV Champagne Bruno Paillard

2012 Scheurebe Spätlese Katzenkopf Weingut Then, Franken

2011 Riesling Kabinett Blauschiefer Edition BEE Weingut Römerkelter, Mosel

2005 Quintaine Emilian Gillet, Burgund

2008 Grüner Veltliner Lindberg Weingut Salomon Undhof, Kremstal

2010 Savagnin Domaine Tissot, Jura

2009 Spätburgunder Recis Rudolf May, Franken

2010 Cuvée Hügelland Weingut Seehof, Rheinhessen

2009 St. Laurent Beerenauslese Rosé Weingut Frey, Pfalz 

Fragen an die Suffmeisterin (a.k.a. Sommelière) Stefanie Hehn

1. Anzahl der Positionen
Ca. 450 plus 20 offene.

2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Deutschland ist der Schwerpunkt der Weinkarte. Außerdem Österreich, Frankreich und Südtirol.

3. Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche?
2012 Silvaner Katzenkopf, Weingut Then Sommerach für 39 Euro.
1961 Mouton-Rothschild für 3.500 Euro

4. Die ungewöhnlichste Rarität? 
1995 Riesling Spätlese Saarburger Rausch von Forstmeister Geltz Zilliken

5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
2011 Nr. 1 Christian & Horst Weißweincuvee, Weingut Horst Sauer & Restaurant Überfahrt

6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
2007 Pinot Noir, Drachenstein Chat Savage

7. Ihr Lieblingswein...
Ebenfalls der 2007 Pinot Noir, Drachenstein Chat Savage

8. Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie konfrontiert wurden? 
Ein Stammgast organisierte ein Feuerwerk zwischen Hauptgang und Dessert anlässlich des Hochzeitstages für seine Ehefrau.

HINWEIS

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

Fressfreunde

Küchenreise

"Die bayrischen Sterne am Tegernsee überzeugen mit einzigartiger, ein wenig verspielter Präsentation und einem breiten Spektrum von filigranen Gerichten bis zu intensiven Geschmäckern. Nicht ganz günstig, doch eine Reise wert!"

Trois Etoiles

"Mein Essen dort war hervorragend. Souveräne und zugängliche Kombinationen, eine winterlich passend "tiefe" Aromenwelt, hervorragende Produkte, keine kreativen Entgleisungen und dennoch modern. Für Genusssüchtige."

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