Restaurantkritik  3.September 2016

Der Grenzgänger

Müssen wir Christian Hümbs wirklich noch vorstellen? Zumindest regelmäßige Besucher unserer Plattform dürften seinen Namen schon oft gelesen haben. Zweimal kürten wir ihn zu unserem "Desserteur des Jahres“. Denn wie kein anderer deutscher Pâtissier seiner Generation hat Hümbs unsere Vorstellungen davon, was ein Dessert sein und leisten kann, komplett umgekrempelt: Kräutern und vor allem den unterschiedlichsten Gemüsesorten gewinnt er faszinierende "süße Seiten" ab. Zugleich gestaltet er seine Desserts zwar nicht "würzig" im herkömmlichen Sinne, aber durchaus herb. Konservative Esser sowie jene, die ihr Mahl immer und ohne Ausnahme ordentlich zuckrig abschließen mögen, werden bei Christian Hümbs vermutlich nicht glücklich. Anders gesagt: Begeisterungsfähige Aufgeschlossenheit, und sei es nur für den Moment, muss man bei ihm mitbringen – was übrigens auch ohne größere Ess-Erfahrung möglich ist. Umgekehrt schützt allerdings auch viel Erfahrung nicht vor eingeschränkten Urteilen.

Zum nunmehr vierten Mal präsentierte Hümbs sein "Aromenmenü", bei dem er stets die Grenzen zwischen würziger und süßer Welt auslotet. Zum zweiten Mal fand die Veranstaltung in seiner aktuellen Wirkungsstätte statt, dem Hamburger Zweisterner "Haerlin" im Hotel Vier Jahreszeiten, wo normalerweise Küchenchef Christoph Rüffer eine präzise modernisierte Klassik servieren lässt. Doch an zwei Abenden im August und September übernimmt Hümbs das Steuer – Avantgarde im ehrwürdigen Grandhotel, das macht die Sache umso spannender. Los geht’s...

Das erste Amuse besteht aus Weinbergpfirsich mit Mohn, Beurre Blanc und Vanilleessig. Das klingt tatsächlich wie ein modernes Dessert und die Verblüffung beim Verkosten ergibt sich daraus, dass Hümbs hier gewissermaßen umgekehrt vorgeht: Er verschiebt nicht Zutaten der "salzigen Welt" in den Süßbereich, sondern gibt der klassischen Dessert-Kombination aus Pfirsich und Mohn einen würzigen Einschlag. Dies gelingt einerseits natürlich durch den Essig, vor allem aber durch die Beigabe von Beurre Blanc (als Eis und Espuma) und durch die Behandlung des Mohn, der nicht verzuckert wird, sondern als Creme, Sand und Chip seine herb-röstigen, fast erdigen Aromen freigibt. Sehr clever auch der Einsatz von Vanille als eine Art Bindeglied: Ein Gewürz, das schon sehr lang jenseits von Desserts zum Einsatz kommt (etwa bei Krustentieren). Hier trägt es dazu bei, dass man beim Essen ständig überlegt: "Schmeckt es wie ein Dessert... oder eher doch nicht?"

Gemüsig wird es dann bei Topinambur mit Lardo, Fenchel, Nussbutter und Holunderblüte. Hier kitzelt Hümbs die natürliche Süße der Knolle heraus, feingliedrig abgestuft durch das Servieren in vier verschiedenen Formen: als Eis, als Crème, als Chips und als Ragout. Das leicht Erdige frischt er mit Varianten von Fenchel auf, der mit seinem Anisaroma ein idealer Grenzgänger ist. Insbesondere die an Streuselkuchen erinnernden, absolut köstlichen Fenchel-Nussbutter-Crumbles rücken diese Kleinigkeit in die Dessertrichtung – was aber schon im nächsten Moment von der Würzigkeit das naturbelassenen Fenchelgrüns konterkariert wird. Und über allem liegt – ganz fein, aber doch präsent – das Wechselspiel zwischen der süßsäuerlichen Holunderblüte und dem Fett des Lardo. In diesem kleinen Kniff steckt ein enormer Aufwand, aber man schmeckt, dass nichts davon fehlen dürfte. Grandios.

Amuse Nummer drei besteht aus Banane mit Erbse, Verveine und Petersilie. Wie gut Petersilie und Banane zusammenpassen, haben wir in den letzten Jahren in diversen, hippen Eissalons zwischen Berlin und München erschmecken dürfen. Diese bewährte Verbindung ergänzt Hümbs mit der zitronigen Frische der Verveine und der Süße der Erbse. Die zweigeteilte Kreation besteht aus einem Erbsen-Verveine-Bonbon mit Erbsencrème, frisch eingelegter Erbse und einem Jus von gebackener Erbsenschale (vorne im Bild). Das ist ein Happen, der im ersten Moment durch seine ziemlich intensiv-herben Röstaromen irritiert, bis plötzlich die leichte Verveine-Frische und die Süße der Erbsen durchkommen. Sehr spannend.

Auf dem Brotchip sitzt ein Sammelsurium aus Bananen- und Petersiliencrème, gerösteter Bananensauce, Verveinegel und Vinaigrette sowie gekeimter Lupine (Wolfsbohne oder auch Feigbohne). Man verspeist ihn in einem Biss, wodurch sich ein sehr dichter Mischgeschmack aus "fetter", mundfüllender Banane, Getreidenoten vom Chip, "grüner" Würze von Petersilie und dem Süße-Säure-Spiel von Erbse und Verveine ergibt. Allein bei Öl und Staub von Petersilie sind wir nicht sicher, ob man sie wirklich bräuchte, denn geschmeckt haben wir sie nicht. So oder so bleibt das ein schöner Gaumenkitzler, der am Ende nicht ganz so spannungsreich ausfällt, wie er zunächst klang.

Nun startet das eigentliche Menü, und zwar mit einer Kreation auf die wir besonders neugierig sind: Himbeere mit Sandelholz, Kaisergranat, Heu und Weizengras. Kaisergranat im Dessertkontext? Das ist eine Verbindung, die wir uns so nie hätten träumen lassen. Aber es funktioniert – und wie! Im Grunde macht es perfekten Sinn, da auch Krustentiere eine natürliche Süße mitbringen, die sich wunderbar unterstreichen lässt. Insbesondere die Moschusnoten der Himbeere (hier als Parfait, Bonbon und frische Frucht) empfinden wir zur leicht jodigen Süße des kleinen Hummers hochspannend und überraschend harmonisch. In diese Idee passen auch die karamellisierten, mit Weizen und Paprika knusprig zerbröselten Fischschuppen, in denen der Granat gewissermaßen "paniert" wurde. Heu und Weizengras, unter anderem als Öl und Pulver, gleichen mit ihrer herben Aromatik die Süße aus, entwickeln dabei aber auch eine Bindeglied-Funktion zwischen Beere und Meeresfrucht. Gleiches gilt für den geschmacksintensiven Sauerteigcannello, der das säuerliche Himbeerparfait nicht nur umhüllt, sondern auch geschmacklich einbindet. Und obwohl punktuell immer wieder eine erstaunliche Süße von Himbeeren zum Tragen kommt, haben wir nie den Eindruck eines "zu süß geratenen Fischgangs", weil im nächsten Moment schon wieder etwas Neues, Würzigeres am Gaumen passiert. Großartig.

Weiter geht es mit Kirschblüten und Kirschen aus dem "Alten Land" mit Gänseleber, Kerbel und Knäckebrot. Bei Gänseleber hat man leichtes Spiel, denken wir uns, denn schließlich schmecken viele herkömmliche Foie-Gras-Kreationen mit ihren parfümierten Frucht- und Süßweinbeigaben sowieso wie Desserts. Aber wie schon beim Pfirsich nimmt Hümbs den umgekehrten Weg und fasst die Leber nicht gefällig süß, sondern herb ein. So liegt die Terrine auf einem Kerbelbiscuit und wird von einer Kerbelcrème und einem süßlich-getreidigen Knäckebroteis getoppt. Einige weitere Spielarten von Kerbel und Knäckebrot sowie Hirse (gepoppt und gesalzen) tragen dazu bei, dass die Leber eher im Hintergrund steht. Je länger wir die einzelnen Bissen auf der Zunge schmelzen lassen, desto stärker kommen die Getreidearomen nach vorne, dazwischen blitzen die Kirschen und der leicht pfeffrige Kerbel auf. Am Ende steuert die Gänseleber vor allem süßlich-fetten Schmelz zu der Kombination aus Kraut, Brot und Frucht bei – diese Nebenrolle steht ihr gut, der Gang schmeckt hervorragend. Ob das nun eher ein Dessert ist? Diese Frage stellen wir uns schon längst nicht mehr...

Etwas schwieriger wird es beim über Buche geräucherten Kartoffelstampf mit Sauerampfer, Burrata, schwarzem Knoblauch und Zwiebelhonig. Wir sind keine großen Freunde des Räucherns, da intensive Raucharomen sehr schnell dominant werden. Hümbs setzt den Rauch zwar vergleichsweise dezent ein, dennoch müssen wir aufpassen, nicht zu viel Kartoffel auf die Gabel zu bekommen. Bei richtiger Dosierung ergibt sich ein feines Zusammenspiel mit der salzig-süßlichen Würze von schwarzem Knoblauch und der belebenden Frische des Sauerampfers. Die milde Burrata hat allerdings keine Chance, da sie zwar etwas schmelzende Textur beisteuert, geschmacklich allerdings komplett untergeht. Umso wichtiger sind dafür der Zwiebelhonig und die karamellisierten Zwiebelringe: Der Zwiebelgeschmack passt einerseits bestens zur Kartoffel, zugleich verschieben Honig und Karamellisierung das Ganze deutlich in die Dessertrichtung. Letztlich hängt es davon ab, wie viel von der geräucherten und heißen Kartoffel man beimischt. Daraus resultiert, ob das Gericht eher als würziger Zwischengang oder als Dessert empfunden wird.

Vor dem Hauptgang ein Sorbet vom Waldsauerklee – ganz exzellent und bei aller Säuerlichkeit wohltuend süß.

Im Hauptgang gibt es eine Variation des Gerichts vom letztjährigen Aromenmenü: Tomate gegrillt mit Zartbitterschokolade, Sojasauce, roter Shiso und Lärche. Wie gut Tomaten sich für Desserts eignen, hat vor 25 Jahren schon Alain Passard mit seiner karamellisierten "Tomate aux 12 saveurs" gezeigt. War diese Kreation noch eindeutig "süß", geht es bei Hümbs um ein Spiel aus Süße, Bitterkeit und Säure. Karamellnoten, zugleich aber auch eine deutliche Würze, Bitterstoffe und "dunkle" Aromen kommen von der Sojasauce (als Sauce, Bonbon und Pulver). Süßliche Säure kommt von einem Chardonnayessig-Gelee. Dazwischen immer wieder die Fruchtigkeit von Tomaten. Das ist in Summe alles recht "streng" in der Säure, so dass man die Lärchencrème und die Zartbitterschokolade als mildernde Gegenpole braucht.
Was das Zusammenspiel der Aromen betrifft, empfinden wir diese Kreation als sehr spannend. Nur dass die Tomate lediglich in "abstrahierter" Form – als Marmelade, Mousse, Eis und Crème – auf dem Teller ist, finden wir bedauerlich. Ein paar Stücke naturbelassener Tomate würden dem Gericht Substanz und mehr Naturnähe geben.

Nun gibt es das Dessert im Dessertmenü: Wald mit Apfel und Buchweizen. Die Bezeichnung "Wald" ist hier wörtlich zu verstehen, auf dem Teller finden sich Zubereitungen von Douglasie (als Crème) und Fichte (Granité), darunter ein "Waldboden", bei dem unter anderem Moos aus einem Demeter-Betrieb verarbeitet wurde. Außerdem Buchweizen in diversen Formen (unter anderem als Espuma und karamellisiert) sowie Apfel als Granité, Gel, Vinaigrette und Ragout.

Tatsächlich wird dieses Dessert seinem Titel gerecht: Man meint, die Aromen eines urwüchsigen Waldes in extrem verdichteter und süßester Weise zu erschmecken. Man kann sich das auch wie ein tiefes Inhalieren in einem dichten Nadelwald nach einem Regenguss vorstellen – frisch und erdig und ungemein belebend. Dabei sind die süßen Akzente so gesetzt, dass man sich hier klar in der Dessertwelt befindet. Exzellent.

Abschließend noch drei ebenso ungewöhnliche wie köstliche Petits Fours. Macaron mit Käsecrème, Rindertatar mit Brotchip, Brotbällchen mit einer Flammkuchen-Crème. Allesamt im süßen Spektrum, was vor allem beim Tatar eine sensationelle Wirkung hat: das Umami scheint wie ein Katalysator für die Süße zu wirken.

Wir müssen es ganz deutlich sagen: Dieses Aromenmenü war ein geradezu bewusstseinserweiterndes Erlebnis. Besser als je zuvor ist es Christian Hümbs gelungen, den Gaumen für feinste Nuancen zu schärfen und herkömmliche Geschmackszuordnungen in Frage zu stellen. Denn genau darum geht es hier, um eine Herausforderung, die zugleich eine Erweiterung des Horizonts ermöglicht. Das ist nicht nur für den Moment extrem spannend, sondern hat auch Auswirkungen auf künftige Restaurantbesuche – wir werden viele Dinge, gerade auch im Bereich der würzigen Küche, künftig anders wahrnehmen. Daher ist für uns das Aromenmenü auch ein Pflichttermin für jeden neugierigen Esser. Man muss natürlich bereit sein, sich darauf einzulassen. Und dass nicht jeder Gang eines solchen Menüs gleich gut gefällt (oder funktioniert), liegt wohl in der Natur der Sache. Aber, so verrückt es klingen mag, darum geht es auch erst in zweiter Linie. Zuvorderst geht es um ein Austesten radikaler Perspektiven, und das gelang Hümbs so gut – und paradoxerweise so harmonisch – wie selten zuvor. Wie hier die Koordinaten zum Beispiel für Kaisergranat, Gänseleber oder Kartoffel verschoben werden, sollte (nein: muss!) jeden Fressverrückten interessieren.

Ein schwieriges Thema bleibt die Getränkebegleitung zu einem solchen Menü. Gut funktionierten diesmal die meist eher säuerlichen Mischungen von Ales, Essig und Soda; zu mächtig finden wir Fruchtsäfte (diesmal nur Banane) da diese allzu schnell überbordernd werden. Am besten gefielen uns gleichwohl die Kombinationen mit Wein, Sekt oder Craft-Bier: Sie dominierten nie, setzten Gegenpole zur Süße und der Alkohol kitzelte als Katalysator aromatische Nuancen hervor.

A propos Nuancen: Das Wunderbare am Aromenmenü 2016 war auch, dass es für uns auf zwei Ebenen funktionierte – wir konnten hochanalytisch jede Nuance herauszuschmecken (manche Happen "lutschten" wir förmlich aus), zugleich ließ sich jedes Gericht auf einer sinnlichen Ebene und somit instinktiv erschließen. Oder anders gesagt: Wenn wir uns einfach vom dichten Wohlgeschmack verzaubern ließen, funktionierten die Gänge genauso gut. So muss es sein. Dazu passt auch, dass sich Hümbs weitgehend und auf sehr positive Weise von jener modischen Anrichteweise emanzipiert hat, bei der sämtliche Komponenten separat auf dem Teller verteilt liegen. Hier ist alles sehr dicht und kompakt angerichtet, man soll nicht sezieren, sondern am besten alles zusammen essen, denn wie so oft ergibt erst die Mischung das optimale Erlebnis. Die Aromenverläufe stellen sich dabei ganz von selbst ein. Hoffen wir, dass andere Pâtissiers (aber auch Köche) seinem Vorbild folgen.

Fazit

Es geht immer weiter, und immer nach oben – Christian Hümbs begeisterte uns mit einem Aromenmenü, das nochmals radikaler und ausgefeilter wirkte. Die hochkomplexen Kreationen sind sicher nichts für jeden Tag, aber verpassen sollte man sie keinesfalls.

Wein

Weine im Restaurant Haerlin in Hamburg

Pinot Blanc Brut, Clement Klur, Crémant d'Alsace

Doktorenhof Vanilleessig & Alain Milliat Orlienas Nectar Peche Vigne & Soda (zum Amuse)

St. Germain & Thomas Henry Spicy Ginger (zum Topinambur)

Verbene Vila Nova de Gaia Eistee & Bananennektar (zur Banane)

2015 Cuvée Prestige, Feraud, Côtes de Provence mit Eichenchips verfeinert (zur Himbeere)

Red Pepper Sparkling Shiraz Brut, Pfneisl, Burgenland (zur Kirsche)

Sierra Nevada Pale Ale (zur Kartoffel)

2014 Zinfandel, Founders Estate, Beringer, California (zur Tomate)

Fichtensaft & Soda (zum Wald)

Fichtensaft, Gin Sul & Fever Tree Tonic (zu den Petits Fours) 

Hinweis

Unser Besuch wurde vom Restaurant unterstützt. Details zum Umgang mit Pressekonditionen findet Ihr hier.

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