Restaurantkritik 18.April 2025

Matthias – Opulente Reduktion

Von Chris Lippert

Zwar liegt Weihnachten gut ein Vierteljahr zurück, doch wird Berlin am heutigen Abend überrumpelt von spätem Schnee. Damit haben weder Straßen noch Bürgersteige gerechnet, und wo mich sonst nur wenige Gehminuten von Silvio Pfeufers und Janine Woltaires neuem Restaurant „Matthias“ trennen würden, dauert die Schlitterpartie nun deutlich länger. Doch nicht nur ich, sondern der gesamte Prenzlauer Berg rutscht wie Figuren in einem hakeligen 90er-Computerspiel ulkig vor sich her.

Mitten im mondänen Kollwitzkiez – hier hatte Silvios Großvater Hans Matthias eine namensgebende Fleischerei – strahlt sie nun seit Oktober 2024 an der Ecke vor sich her, die neue kulinarische Heimat des Urberliners. Dessen Karriere verfolge ich bereits seit Jahren, angefangen beim ersten Küchenchef-Posten im besternten „Einsunternull“. Drei Jahre lang drehte er dort die vom Vorgänger Andreas Rieger auf links gezogene Küche zurück in Richtung französischer Zugänglichkeit. Ich bin also neugierig, was sich auf dem Weg auf die eigenen gastronomischen Beine getan hat.

Zuletzt begeisterte mich Pfeufer mit einem souveränen Pop-up-Menü in den Räumen des Restaurants „UUU“; seine Lebensgefährtin und Pâtissière Marie Mang bringt seit Corona unter ihrem Label „MUYA“ exzellente Pralinen auf den heimischen und auswärtigen Tisch. Doch erst mit seiner Geschäftspartnerin und Gastgeberin Janine Woltaire (im Bild) – mit ihrem Sommelière-Portfolio von „Rutz“ bis „Horvath“ ein bekanntes Gesicht der Berliner Sterneszene – kam der Schritt zu den eigenen, geschmackvoll-holzbetonten und legeren Räumlichkeiten. Komplettiert wird das Team „Front of House“ durch Sommelier Michi Stiel, ebenfalls ein alter Bekannter aus dem „Horvath“, der sich der Weinkarte des Restaurants angenommen hat.

Geboten wird ein fleischhaltiges oder vegetarisches Menü in fünf bis sechs Gängen, und erfreulicherweise hat auch hier der À-la-Carte-Trend Einzug gehalten. Ich gehe wie fast immer mit der Speisefolge und nippe erwartungsvoll an einem Glas Louis Roederer „Collection 245“, als die ersten Kleinigkeiten serviert werden.

Eine heiße Consommé aus geröstetem Gemüse mit Rapskernöl pariert den plötzlichen Wintereinbruch mit würziger Hitze.

Es folgen ein paar Snacks (von 3 Uhr gegen den Uhrzeigersinn): Das Topinambur-Körbchen mit geschmolzenen Zwiebeln & geeister Johannisbeere kühlt und erfrischt, die Crustade mit Kaisergranat, XO-Sauce & Forellenkaviar schmeckt gut, ist aber einen Ticken zu groß, ein Choux mit Algenkäsecreme & Kombualge dagegen vollmundig, käsig und äußerst appetitanregend.

Prompt ein mutiger Einstieg dann mit Wolfsbarsch mit Pflaume, Shiso und Dill. Die dichte Süße vom Sud des fermentierten Steinobstes ist gut dosiert und erschlägt das Sashimi zu keiner Zeit. Etwas aromatischen Schwung steuert das Tatar vom Räucheraal bei. Modern, kreativ, funky!

Die handgetauchte Jakobsmuschel mit Karotte und Forellenkaviar ist deutlich komplexer, als sie scheint: Das Möhrensößchen ist mit Muschelbärten aromatisiert, dezent jodig und paired damit „wie gelernt“ mit den bissfesten, heißen wie schmelzigen Muschelabschnitten. Das Tricolore von Zitrussäure – Bergamotte, Fingerlimes und Limette – bricht das Opulent-Meerige unregelmäßig, aber deutlich akzentuiert.

Sehr schön auch das Pairing: Der 2023er Sauvignon Blanc „It’s Like A Jungle Sometimes“ von Simon Haag bringt frische, naturale Frucht und Mineralik in die fischig-saure Melange.

Texturenspiel dann beim vegetarischen Gang: Grünkohl, Roscoff-Zwiebel und Herbsttrompete. Die Kohlblätter sind durch die Garung in Pilzsud einerseits sehr süffig, bleiben aber auch deutlich bitter, was durch die cremige Süße von Schmorzwiebel und kleinen Perlzwiebeln daneben die nötigen Sidekicks bekommt. Wunderbar der duftig-heiße, an Dashi erinnernde Schmorsud aus Kombualgen und Shiitake-Pilzen.

Dekadenz im Zwischengang: Zu Kartoffel, Spinat, Trüffel-Vinaigrette & -Espuma sowie frischem, gehobelten Trüffel braucht man eigentlich nicht viel sagen. Hier hat sich ein All-Star-Team aus Umami-Hochleistungsprodukten versammelt – fettig, samtig, nicht zu salzig (oft ein Problem bei solch aromastarken Wonneproppen), warm und köstlich. Fehlt eigentlich nur noch ein Eigelb.

Der Hauptgang wird eingeleitet von einer heißen Enten-Consommé, in der ein Ravioli mit Entenragout von der Keule und ein paar Scheiben – da ist er wieder – Trüffel schwimmen. Ich möchte behaupten, dass man an sauber reduzierten und abgeschmeckten Brühen gut erkennen kann, ob ein Koch was taugt, oder nicht: Diese hier ist nicht zu dicht, nicht zu salzig, sondern eher komplex, enorm röstig, leicht wurzelig und nur dezent fettig. Ein schöner Einstieg in den fleischigen Hauptteil des Menüs.

… und die Consommé war dann auch das „Klassischste“ des Hauptgang-Duos, denn mit einem gutbürgerlichem Geflügelgericht hat Ente mit Rotkraut und Radicchio nichts zu tun: Die in Koji gebeizte, saftige Brust ist sauber rosé (an der Grenze zu „blutig“) gegart, der Rotkohl versteckt sich roh mariniert unter einem mit Gewürzen – darunter deutlich schmeckbarer Sancho-Pfeffer – bedeckten Blatt Bittersalat. Komplettiert wird das Quartett von einer dichten Demi-glace von der Ente; that’s it. Diese ungewohnte Reduktion könnte man an „brutal lokalen“ Berliner Tresen verorten. Das schmeckt in Summe prima, wenngleich ich mir – besonders nach den bereits recht reduzierten Gerichten zuvor – hier durchaus etwas mehr Komplexität vorstellen könnte, um den Hauptgang wirklich strahlen zu lassen.

Ein „Uriger Bergler“-Käse (versteckt im Baskischen Küchlein oben rechts) leitet die „Magenschließung“ ein, dazu gibt es Haselnüsse und Kumquat. Die eingelegten Scheiben der kulinarisch eher, sagen wir mal, „sperrigen“ Zitrusfrucht müssen mit Bedacht dosiert werden – die Bitterstoffe sind ordentlich –, dann funktioniert’s aber prima. Sehr reichhaltig, sehr käsig.

Das Pre-Dessert – Sauerrahm- & Sanddorn-Eis mit Vanille-Zitrus-Basier – erfrischt, wie es soll: kalt, sauer und süß. Auch der sonst schnell nervende Sanddorn integriert sich prima.

Die Dessertküche ergibt sich offenbar der Selbstkasteiung: Nach Kumquat und Sanddorn folgt nun ein drittes Produkt, an dem man sich schon mancherorts verhoben hat: Die Quitte, hier begleitet von Safran und Estragon ist das letzte Gericht des Abends. Grundlegend nicht schlecht: kalt, cremig, leicht bitter und durch den Estragon dezent kräutrig, ist das sicherlich vieles, aber kein „Sweet Pleaser“. Lediglich die doch sehr feste Konsistenz der Quittenscheibe zu Boden irritiert, weshalb sich am Ende kein rechtes „Nachspeisengefühl“ einstellt.

Fruchtige, wie erwartet exzellente Pralinen (Details zur Füllung bleiben meine Notizen mir schuldig) von Marie Mangs „MUYA“ entlassen uns zum Absacker.

Das war ein wunderbarer, herzlicher wie köstlicher Abend. Während verirrte Berliner draußen weiterhin durch das spiegelglatte Winter-Wonderland taumeln, schaue ich in meine Berichte und Notizen zu Silvio Pfeufers Küche der letzten Jahre und stelle fest: Es hat sich viel getan.

Die Gerichte waren heute (abseits des letzten Desserts) durch die Bank souverän, modern und – da darf sich der Gast nicht durch die legere Atmosphäre des Restaurants und Personals täuschen lassen – über weite Strecken ziemlich anspruchsvoll.

Dabei oszilliert der offensichtlich niemals alternde Koch gerne zwischen deftiger Opulenz – Jakobsmuschel, Grünkohl, Kartoffel, Bergkäse – und überraschender Reduktion, die bei Gerichten wie dem Wolfsbarsch und Grünkohl wunderbar aufgeht, im Hauptgang allerdings zu kurz greift. Das tut dem Glanz des Menüs aber keinen Abbruch, handwerklich sitzt hier jeder Griff, auch aromatisch wie sensorisch ist Pfeufer ein Könner, dem dieser Standort auf eigenen Beinen ganz offensichtlich gut zu tun scheint – genau so wie dem Bezirk, für den das „Matthias“ eine echte Bereicherung ist.

Ich jedenfalls komme im Sommer wieder, da kann man nämlich draußen sitzen. Hoffentlich schneit’s dann nicht!


Wein

Die Pairings von Sommelier Michi Stiel

Hinweis

Der Besuch war eine Einladung. Details zum Umgang mit Einladungen und anderen Pressekonditionen findet Ihr hier.

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