Restaurantkritik 15.Juni 2025

Le Louis XV – Heute ein König

Von Kai Mihm

Unsere Historie mit den Restaurants von Alain Ducasse ist eine wechselhafte. Die Bandbreite reicht von Euphorie im ‹Alain Ducasse au Plaza Athenée› im Jahr 2011 bis zu herber Enttäuschung einige Jahre später am selben Ort. Manchmal erlebten wir sogar beide Pole innerhalb eines Menüs. In den besten Momenten waren die Erlebnisse kulinarisch prägend, in den schwächsten ein bisschen prätentiös. 

Auch deshalb schob ich den Besuch in Ducasses Flaggschiffrestaurant jahrelang vor mir her. Es wurde 1987 in Monte-Carlo eröffnet, trägt den ausufernden Namen ‹Le Louis XV - Alain Ducasse à l’Hôtel de Paris› und ist seit 1990 mit drei Michelin-Sternen ausgezeichnet. Es war Ducasses erstes Drei-Sterne-Restaurant und bildet gewissermaßen das Epizentrum seines weltumspannenden Gastro-Imperiums.

Nun also sind Chris und ich hier, im mondänen Monte-Carlo, wo an der pompösen Place de Casino reihenweise Luxusautos vor Luxushotels stehen und staunende Touristen versuchen, ein Selfie mit Maserati und Oligarchengattin zu erhaschen. Absperrungen halten Pöbel und (Geld)Adel auf Distanz – Monarchien des 21. Jahrhunderts. 

Was uns zum ‹Le Louis XV› zurückführt. So sehr man den vulgären Luxus draußen auf dem Casinoplatz bespötteln mag, so beeindruckend ist die Atmosphäre hier drin. Prunkvoll, ja, sehr sogar. Aber auf märchenhaft-feudale Weise. Opulent, aber nicht obszön. Ein gewaltiger, kreisrunder Kronleuchter schwebt wie ein futuristischer Halo über den Tischen und verleiht dem Raum einen Kubrick-Touch zwischen »2001« und »Dr. Seltsam«. Fast ein bisschen surreal.

Bemerkenswert ist der Service, der vom ersten Moment eine entspannte Wohlfühlstimmung vermittelt – in diesem formellen, für weniger erfahrene Gäste womöglich etwas »einschüchterndem« Ambiente ein nicht zu unterschätzender Aspekt. Dass die Restaurantleiterin Claire Sonnet zuletzt mit dem »Michelin Service Award« geehrt wurde, überrascht mich nicht.

Hinsichtlich des Essens hat man, wie immer bei Alain Ducasse, die Wahl zwischen einer à-la-Carte-Selektion (91 bis 195 Euro) und verschiedenen, sich daraus zusammensetzenden Menüs. Wir entscheiden uns für das sechsgängige Menü »Agape« (420 Euro). Die Auswahl der Gerichte übernimmt laut Speisekarte der Küchenchef, wobei Wünsche und Vorlieben selbstverständlich abgefragt werden. 

Mit dem Champagner wird Gebäck in Form einer großen Crackerscheibe serviert, in die hauchdünn plattierte Zucchiniblüten eingearbeitet sind. Die Textur des Gebäcks erinnert an das sardische Hirtenbrot Pane Carasau. Der Reiz liegt in der Knusprigkeit, geschmacklich ist das »unauffällig«. Eine zweite Scheibe aus dunklerem Teig ist würziger, ohne spektakulär zu sein. 

Jedenfalls bereiten die Cracker in keiner Weise auf die Amuses vor, fünf Kleinigkeiten, eine besser als die andere. Eine hauchfeine Tartelette mit kleingeschnittenen Grünen Bohnen in Bohnen-Kräuteremulsion besticht durch saftigen Biss, grüne Frische und eine phänomenal abgestimmte Würze. Ein geschichtetes Törtchen aus geräucherter Fischhaut mit Rettich, Zucchini, Thunfisch und Kiwi begeistert mit feinsinnigem Texturspiel und einem aromatischen Verlauf von maritimem Umami zu gemüsiger Frische und fruchtiger Säure. Wohltuende Hitze spendet eine Krokette aus Sardine und Kumquat – meisterlich balanciert zwischen deftigem Grundcharakter und filigraner Umsetzung.

In einer Silberschale findet sich eine dünne Scheibe marinierter Tintenfisch mit Champignon-Duxelles und schwarzer Johannisbeere – auch dies ein ungewöhnlicher Genuss, nur leicht getrübt durch die etwas zu feste Textur des Tintenfischs. 

Ohne Umschweife exzellent schmecken kleine Quader gepresster Fischkopf-Sülze mit sanft nachgebender Textur und überraschend feinem Geschmack. Eingelegte Koriandersamen und pfeffrige Korianderblüten verleihen dieser eleganten Zubereitung den entscheidenden Kick.

Alles in allem eine mehr als staunenswerte Eröffnung. 

Es folgen weitere Küchengrüße: für Chris eine Auster von fabelhafter Güte, die über Holzfeuer leicht erwärmt, mit zartem Champagnerschaum bedeckt und mit einem Hauch Pfeffer gewürzt wurde. Ein fantastischer Dreiklang aus fleischiger Meeresfrucht, eleganter Säure und Pikanterie.

Für mich gibt es eine dünne Scheibe Thunfischrücken mit frischen Himbeeren (!) und sanfter Tagetes-Bearnaise – so ungewöhnlich wie betörend. In einer Extraschale (nicht im Bild) serviert man ein wohlig-warmes Kircherbensenragout von einer Produktqualität, wie ich sie mir bei dieser Hülsenfrucht gar nicht vorstellen konnte. Weltklasse. 

Erst später lese ich, dass der junge Küchenchef Emmanuel Pilon noch gar nicht so lange im Amt ist. Erst 2022 übernahm er das Zepter von Dominique Lory. Im Ducasse-Imperium ist er gleichwohl kein Unbekannter, sondern arbeitete bereits im Plaza Athenée, als dort 2014 das Konzept der »Naturalité« ausgerufen wurde. Damals konnte uns das nur wenig begeistern, aber die ersten Kleinigkeiten deuten darauf hin, dass Pilon die Philosophie auf sehr genussbringende Weise umsetzt. 

Das Niveau lässt jedenfalls beim ersten »offiziellen« Menügang nicht nach. Scheiben von Mittelmeer-Rotbarbe wurden leicht abgeflämmt und ruhen in einer Emulsion aus Mandelmilch und Tannensprossen, darunter verbergen sich kleine Stücke von weißen Erdbeeren, Rettich und Piemonteser Mandeln. Das klingt wild und schmeckt im ersten Moment auch etwas gewöhnungsbedürftig – doch dieser Eindruck verwandelt sich sehr schnell in außergewöhnlichen Hochgenuss: je intensiver der Geschmack des nahezu rohen, festfleischigen Fischs sich mit der süßsäuerlichen Sauce und den nussig-fruchtigen Beigaben verbindet, desto mehr erschließt sich diese Kreation als feinsinnige Interpretation mediterraner Sommeraromen. Insbesondere der herbe Geschmack der Rotbarbe und die fruchtige Süße der Erdbeeren erweisen sich als kongeniale Kombination. Sensationell.  

Gleichzeitig steht die Variation eines Ducasse-Klassikers auf dem Tisch: Leicht marinierte Gamberoni aus dem nahen San Remo ruhen in einem delikaten, mit Safran gewürztem Gelee von Felsenfischen. Bedeckt ist das Ganz mit Goldkaviar. Die Krustentiere sind von herausragender Qualität, haben zarten Schmelz und nussige Süße. Das kühle Gelee wirkt dank seiner unerhörten Geschmackstiefe als Katalysator der maritimen Aromenwelt, und der großzügig portionierte Kaviar verleiht mit seiner jodigen Nussigkeit einen zusätzlichen Kick. Krustentiere, Felsenfische, Rogen: das Meer verdichtet in all seinen Facetten.

In seiner vermeintlichen Schlichtheit, einer Schlichtheit, die beste Produkte und größte handwerkliche Souveränität erfordert, ist dieses Gericht nicht weniger als ein Meisterwerk. 

Und weiter … Am Tisch wird eine provenzalische Artischocke »alla giudea« (»nach jüdischer Art«, sprich: frittiert) mit einem Löffel Kaviar vollendet. Erst beim Anschneiden zeigt sich, dass das perfekt knusprige Gemüse mit einer zarten Mischung aus Seeanemone und Burrata gefüllt ist – ein Traum aus Cremigkeit und Knusprigkeit, Umami und Salz, »dunkler« Erdigkeit und frischer Meeresbrise. Vollmundig und federleicht.

Vor zwei Tagen hatte ich im ‹Chèvre d'Or› in Èze ein sehr ähnliches und ähnlich begeisterndes Artischockengericht – doch der Direktvergleich zeigt entscheidende Unterschiede in Sachen Verfeinerung, Handwerkskunst und aufwühlender Intensität. Sie sind minimal, markieren aber die Trennlinie zwischen »Weltklasse« und »Götterspeise«.   

Man mag kaum glauben, dass das immer so weitergehen kann …

… Und das tut es auch nicht. Der Fischgang präsentiert confierten Saint-Pierre (aus dem Mittelmeer), dessen schiere Produktqualität zwar über jeden Zweifel erhaben ist, dem es jedoch an etwas Salz fehlt. Das schneeweiße Filet ist mit rohen Grünspargel drapiert, der fächerartig aufgeschnitten und komplett ungewürzt ist. Stattdessen sind rohe, hauchdünn geschnittene Messermuscheln auf den Spragel appliziert, deren glibberige Textur wenig appetitlich ist und die Wirkung des gleichfalls sehr zarten Fischfilets ausbremst. Den Mangel an Würze, Säure und Pep können eine cremige Pil-Pil-Sauce aus Fischköpfen und ein dunkles Spargelkaramell nur bedingt ausgleichen.  
»Objektiv« betrachtet mag dieses Gericht immer noch sehr gut sein, doch mich erinnert es an die spröden Anfänge der »Naturalité«-Idee. 

Der Hänger hält nicht an, mit den Hauptgängen geht es wieder steil bergauf.

Einmal haben wir da über Holzfeuer gegartes Quercy-Lamm, perfekt rosé, kernig-zart, mit knusprig gebräuntem Fettdeckel. Ein Referenzprodukt in Referenz-Zubereitung. Es ruht in einem dichten (aber nicht klebrigen!) Lammjus mit gehackten Pistazien, dazu etwas Erbsenpüree und ein elegant-bitterer Wildkräutersalat, in dem sich zwei fabelhafte kleine Ravioli mit saftigem Lammragout verbergen. 

Den Clou bildet allerdings ein unscheinbarer Tiegel neben dem Hauptteller: darin findet sich ein Ragout aus süßlich-krachenden, nach frischem »Grün« schmeckenden Tränenerbsen und zarter Seegurke, gehüllt in sattgrüne Persillade (eine Sauce aus Petersilie, Schalotte und Knoblauch) mit Meerfenchel. Auf dem Foto rutscht dieses Aperçu leider aus dem Fokus, in der Realität ist es eine gestochen scharfe Götterspeise

Gleichzeitig steht ein denkbar unscheinbar aussehendes Gericht auf dem Tisch: ein tiefer Teller mit einer bräunlich-kupfern glänzenden Flüssigkeit – eine Suppe? Mitnichten. Es handelt sich um ein Civet von frischen Morcheln und Kräuteseitlingen in einer dunklen, dicht eingekochten Schmorsauce von unergründlicher Vielschichtigkeit. Der erste Löffel – ich muss kurz innehalten, denn mein Gaumen wird von überwältigendem Wohlgeschmack geflutet, der für Gänsehaut im Nacken und Glückstränen in den Augen sorgt. Sauerampfer und pikant-süßliche Malvenblätter frischen das tiefe Umami dieses Eintopf-Wunderwerks auf, kleine Zedernkerne knacken neckisch und verstärken die Assoziation an nebelfeuchte Wälder. So habe ich Morcheln noch nie gegessen. Mit jedem Löffel wird es besser. Ein süchtig machendes Gemisch – und zweifellos eine weitere Götterspeise.

Ich habe mich gerade wieder gefangen, da werden wir in die Küche gebeten (keine Sonderbehandlung, das ist jedem Gast möglich) … 

… dort serviert man das Pré-Dessert, ein Sorbet von Bitterorange, Campari und Fenchel mit geeistem Crunch aus Bitterorange. Herb, süß, verführerisch bitter und absolut köstlich. 

Zurück am Platz wird der Käsewagen an den Tisch gerollt. Die Auswahl der Sorten ist klug zusammengestellt, die Qualität erwartungsgemäß famos. Mehr muss man dazu gar nicht sagen … 

… Außer vielleicht, dass man uns unmittelbar nach dem Käse ein Broteis auftischt, das auf betörende Weise zwischen dunklen Getreidenoten und schmeichelnder Süße oszilliert. Ich habe schon öfter Eis auf Brotbasis probiert – doch dieses hier spielt in einer Liga für sich. 

Sodann die Desserts. Provenzalische Erdbeeren wurden leicht abgeflämmt, in Scheiben geschnitten und akkurat fächerartig auf einem Erdbeerbaumhonig-Eis angerichtet. Dazu gibt es eine Creme aus Bienenwachs mit Pollen und Bergminze. Ein sommerlicher Genuss zwischen perfekt gereiften Erdbeeren und ideal austarierter Süße, zwischen kühler und »warmer« Cremigkeit. Keine kleinteiligen Basteleien, sondern souverän auf den Punkt inszenierter Dessertgenuss. Das geht, wenn man es kann

Parallel dazu gibt es ein Dessert um Schokolade »aus unserer Manufaktur in Paris«. Was gehaltvoll aussieht, erweist sich als federleichte Kreation aus wolkenzartem Schaum und cremigem Eis, aus schmeichelnder Schokoladensauce und luftigem Milcheis-Crumble. Irgendwo ist Buchweizen verarbeitet, der dem Ganzen Komplexität und Fülle verleiht, Bird's Eye Chili steuert kitzelnde Pikanterie bei, fein gehackte Kakaonibs eine dezente Knusprigkeit. Dieses Dessert könnte ein Death-by-Chocolate sein – tatsächlich führt es direkt in den siebten Desserthimmel. 

Und als wäre das alles nicht schlaraffig genug, steht plötzlich noch der Ducasse-Dessertklassiker auf dem Tisch: Baba au rhum mit leicht geschlagener Sahne, die in ihrem Tiegel kleine Teufelshörnchen formt. Das passt, denn diese Götterspeise ist ein sündhaft gutes Vergnügen.

Petits Fours müssen natürlich ebenfalls sein, ich mache inzwischen keine Notizen mehr, doch dass sie allesamt exzellent sind, erinnere ich auch so. 

Dass zum dringend notwendigen Espresso noch ein Stückchen italienischer Brioche (»Pandoro«) mit Marsala-Sahne serviert wird, ist dann endgültig zu viel des Guten.

Das ist alles eigentlich kaum zu glauben. Sowohl das Menü als auch das Gesamterlebnis gehören zum Spektakulärsten, was ich je erleben durfte. Wie konnten wir nur je an Alain Ducasse zweifeln? Wobei es wohl auch zur Wahrheit gehört, dass er in Emmanuel Pilon einen Chef de Cuisine gefunden hat, der die grundlegende Philosophie der »Naturalité«, also den Fokus auf unverfälschte Produkte, in einer Weise umsetzt, die nicht spröde wirkt, sondern kongenial, nicht asketisch, sondern sinnlich.

Das einzig Bedauerliche an diesem Mittag ist, dass er nun abrupt endet, denn wir müssen zum Zug. Draußen stolziert der Geldadel, aber hier im ‹Louis XV› haben wir uns für ein paar Stunden gefühlt wie Könige. 

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