Restaurantkritik 10.September 2025

Geranium – 15 Jahre!

Von Kai Mihm

Das Kopenhagener Restaurant ‹Geranium› gehört seit dem ersten Besuch im Mai 2011 zu unseren ewigen Favoriten – regelmäßig besucht, nie enttäuscht. 2016 erhielt es vom Guide Michelin den dritten Stern; 2022, kurz nach unserem damaligen Besuch, landete es bei den »Worlds 50 Best« auf dem ersten Platz. Dieses Jahr nun feiert das Restaurant sein 15-jähriges Bestehen am aktuellen Standort im Parkstadion (von 2007 bis 2009 befand es sich im Königsgarten). Dass wir in Kopenhagen sind, ist zwar reiner Zufall, aber ein passender Anlass für einen Wiederbesuch ist das Jubiläum allemal.

Es hat immer noch etwas eigentümliches, den Seiteneingang eines Fußballstadions zu nehmen, um in ein Spitzenrestaurant zu gelangen (und leicht skurril ist der Kontrast zum ursprünglichen Standort im barocken Königsgarten ebenfalls). Andererseits passt das Unprätentiöse dieser Location gut zum Flair im Restaurant.

Im achten Stockwerk angekommen, erwartet uns an diesem Donnerstagmittag ein nahezu voll besetztes Restaurant. Wenig später wird jeder Tisch belegt sein, ausschließlich mit Paaren und Familien, viele davon offenbar Einheimische. Angesichtes des Preisniveaus – das Menü mit dem Titel »Sommeruniversum« kostet umgerechnet knapp 600 Euro – ist dieser Andrang zum Wochentagslunch durchaus bemerkenswert.

Der Empfang fällt ungezwungen herzlich aus, der Service agiert gewohnt kosmopolitisch, aber unprätentiös und gleichermaßen verbindlich und professionell. Es fühlt sich gut an, wieder hier zu sein. In den letzten Jahren wurde es um das ‹Geranium› etwas ruhiger, was sicherlich auch mit spektakulären Newcomern wie dem ‹Alchemist› und dem ‹Jordnaer› zusammenhängt. Gefragt ist es offensichtlich nach wie vor. Gespannt sind wir nun auf den Stand der Küche.

Zum Champagner (Nicolas Maillart, 2019 »Jolivettes«) wird eine Tartelette aus knusprigen Algen mit gesalzenem Hering (alternativ: Auster), Gurke, Dill und Aquavit serviert, ein frischer, filigran-vollmundiger Happen, der eine klassisch-dänische Aromenwelt sehr gekonnt modernistisch interpretiert.

Bemerkenswerterweise folgt nach diesem Auftakt kein weiteres Fingerfood, wie sonst meist üblich, sondern man geht direkt zu Teller- bzw. Schälchengerichten über.

Auf zwei massiven Untertellern, deren gewellte Ränder an Sonne und Meer denken lassen, steht eine Schale mit einer Art Milchemulsion, in der sich eine üppige Menge leicht geräucherter Maränenrogen findet; am Tisch wird noch etwas »knuspriger Dashi« obenauf gelöffelt (ich vermute hinter der Umschreibung getrockneten Bonito). Geschmacklich ist dieses schlicht anmutende Gericht erstaunlich komplex, mit sanft rauchigen Noten, feiner Jodigkeit und milchiger Frische; texturell changiert jeder Löffel zwischen seidiger Emulsion und der »Perlage« des ultrafeinen Rogens. Sowohl von den Produkten als auch der Aromenwelt mutet das erneut sehr »dänisch« an. Stark.

Der folgende Gang wirkt optisch »japanisch«, schmeckt aber ebenfalls so, wie man sich Dänemark vorstellt. In einer Schale ruhen schmale Streifen gesalzener Makrele in einer Essenz von gebackenen Tomaten. Fertig. Zwei herausragende, sorgfältig präparierte Produkte werden hier mit beeindruckender Reduziertheit inszeniert, wobei das Salz und das Umami des Fischs direkt in das dunkle und zugleich fruchtige Umami der Tomatenessenz übergehen. Dicht und stark. 
Nur die Portionierung ist an dieser Stelle im Menü mit sechs Scheiben Fisch vielleicht etwas zu großzügig.

Es bleibt klar, reduziert und auf exzellente Hauptprodukte fokussiert: Eine Schale mit einer beinahe einschüchternden Menge Osietra »Gold« Kaviar wird mit ultrakrossen Waffeln aus Kartoffelteig und Bucheckern sowie einer Creme aus saurer Sahne und gepickelten Walnussblättern serviert – für mich unverträglichkeitsbedingt mit Pinie (vielleicht auch ein anderes Nadelholz, ich habe es nicht notiert). Diese Information ist entscheidend, denn während die »Originalversion« mit Walnuss dem Vernehmen nach ganz hervorragend funktioniert – ein elegant-luxuriöser Dreiklang nussig-salziger Aromen, knusprig und cremig, klassisch und doch modern – schmeckt meine Variante der sauren Sahne so parfümiert und dominant, dass ich sie homöopathisch dosieren muss, um vom Kaviar überhaupt etwas zu schmecken. Das wiederum bringt die Komposition um Frische und Cremigkeit. Köstlich das trotzdem, nur fehlt es an einer Stellschraube.

Oder anders gesagt: Wenn bei einem Drei-Komponenten-Gericht eine Komponente quasi wegfällt, ist das fatal. Grundsätzlich haben wir hier sicherlich ein großartiges Gericht, nur an der Allergikervariante – die bei Walnuss nicht selten gefragt sein dürfte – sollte man arbeiten.

Den Abschluss der – laut Menükarte – »Vorspeisen« bilden zwei prachtvolle Exemplare Grüner Spargel, perfekt bissfest und intensiv aromatisch, die man in einen Dip aus geräuchertem Käse und eingelegter Pinie tunkt – hier nun kein bisschen parfümiert, sondern elegant und umami. Einmal mehr, und das ist offensichtlich der rote Faden des ersten Menüteils, wird hier ein exzellentes Produkt mit entschiedener Simplizität inszeniert. Rückblickend kann man sich fragen, ob das für ein Drei-Sterne-Restaurant nicht etwas zu schlicht ist. Hier und jetzt funktioniert es jedoch ganz ausgezeichnet.

Der zweite Menüabschnitt nennt sich »Herzhafte Gerichte« und startet mit hauchdünnen Streifen süßsäuerlich marinierter Zucchini, die mit Zitronenverbene, weiteren Kräuterblättchen und geschmolzenem Ziegenkäse angerichtet sind. Hier haben wir sie nun par excellence, jene schwebende Feingliedrigkeit und Eleganz, die Rasmus Kofoeds Küche so magisch macht. Man verspeist etwas vermeintlich profanes wie Zucchini – und hat das Gefühl, etwas völlig Neuartiges zu probieren. All die erwartbaren Eigenschaften wie Saftigkeit, Biss, Süße und Säure sind vorhanden, und doch schmeckt das Zusammenspiel ganz anders, als man es kennt. Göttlich.

Die Stimmung im Restaurant ist bemerkenswert gelöst, es wird viel gelacht und lustvoll geschlemmt, ein paar Kinder sind auch da … so soll das sein. Zwischendurch bekommen wir zudem überraschenden Besuch am Tisch, von dem Deutschen Johannes Hell, der hier als Sous-Chef am Herd steht, nachdem er bei Edip Sigl tätig war. Das freut uns umso mehr, da es noch immer relativen Seltenheitswert hat, deutsche Köche im Ausland zu sehen.

Weiter geht es mit einem neueren Signature dish. Wellenförmig geschnittene Streifen von gepickeltem Kohlrabi sind wie Sonnenstrahlen angerichtet und werden mit einer Sauce aus leicht geräuchertem Frischkäse, Lappentang und Kaviar serviert. Das hat Frische und Umami, elegante Jodigkeit und saftigen Biss, der von nussigen Samen (ich tippe auf Bucheckern) reizvoll erweitert wird.

Eigentlich gehören noch rohe Apfelstreifen zu der Komposition, die man auf meinem Teller unverträglichkeitsbedingt weggelassen hat – und zwar ersatzlos, obwohl sie mit ihrer fruchtigen Säure einen bedeutsamen Akzent setzen würden. Ähnlich wie bei der Waffel mit Kaviar ist das bedauerlich, und bei so präzise austarierten Gerichten auch nicht recht nachvollziehbar. Trotzdem bleibt das mehr als sehr gut.

An dieser Stelle folgt der Brotgang. Wir erinnern uns noch genau, dass wir es im ‹Geranium› 2011 erstmals erlebten, Brot und Butter so spät im Menü und als eigenen Gang serviert zu bekommen – eine der vielen Ideen, mit denen Kofoed neue Akzente setzte, und die im Lauf der Jahre weltweit übernommen wurden.

Neben köstlichen Körnerbrötchen, hauchfeinem Getreideknusper und hervorragender Steinpilzbutter serviert man einen fluffigen Brotpfannkuchen, dem karamellisierte Zwiebeln sattes Umami, und diverse Kräuter und Blüten duftige Frische verleihen. Ich muss aufpassen, mich nicht jetzt schon satt zu essen. In Summe ist diese Darbietung nicht weniger als Weltklasse.

Der erste warme Gang des Menüs – vorher war mir das gar nicht aufgefallen – präsentiert eine Suppe von gegrilltem Spargel, die man durch Beigabe von Seetang zu einer regelrechten Umami-Kraftbrühe aufgepimpt hat. Am Tisch wird dieses vollmundige Elixier mit reichlich geriebenem Trüffel verfeinert. Für gewöhnlich bin ich kein Freund davon, Trüffel mit der Microplane zu traktieren, weil er dadurch gleich mehrere seiner reizvollen Eigenschaften verliert. Hier aber macht diese Darreichung Sinn, denn die feinen Späne lösen sich in der heißen Brühe förmlich auf und geben ihren ganzen Geschmack an sie ab. Ein Hochgenuss, von dem es gerne ein, zwei Schlucke mehr sein dürften.

Bisher war das Menü weitgehend vegetarisch, was mir erst jetzt auffällt, als man eine Jakobsmuschel serviert. Das Prachtexemplar ist auf einer Seite in Form einer Seeanemone aufgeschnitten und sanft gegrillt, sprich: mit dezent ausgesteuerten Röstspuren. Diese Darreichungsform habe ich erstmals vor zehn Jahren im Amsterdamer ‹Bord'Eau› kennen und schätzen gelernt, seither begegnete sie mir allerdings kaum je wieder.

Hier nun serviert wird man die Muschel lediglich mit einer leichten Emulsion aus mildgeräucherter Butter; laut Menükarte ist auch Johannisbeere im Spiel, aber davon sehe und schmecke ich nichts.

So oder so: Minimalistischer kann man ein Produkt kaum inszenieren. Und funktionieren kann dieser Ansatz nur, wenn ein Produkt so herausragend ist, wie hier – saftig, fleischig, mit leichten Grillaromen und markantem Eigengeschmack, der durch das Butterfett unterstrichen wird. Sehr stark.

Deutlich kleinteiliger wird es beim Fischgang. Filet vom Zander ist mit einer Farce aus eingelegten Holunderblüten und einer kräutergrünen Ummantelung zu einer appetitlich aussehenden Schnitte geformt, die mutmaßlich gedämpft oder pochiert wurde. Doch so gut das aussieht, kann es geschmacklich und vor allem texturell nicht recht überzeugen: die Farce driftet etwas zu sehr ins Süßliche, während der indirekt gegarte Fisch eine zwar weiche, aber leicht gummiartige Textur aufweist (was vermutlich auch mit dem »medium-rare«-Garpunkt zusammenhängt).

Ganz hervorragend ist dafür die Beilage, eine Schale mit einem Ragout aus frischen Erbsen und gebräunter Butter, verfeinert mit Kräutern und Holunderblüten. Ein absoluter Hochgenuss, warm und üppig, präzise auf den Punkt und für sich genommen nur haarscharf an der Götterspeise vorbei.

Glücklicherweise war der Fisch noch nicht der Endpunkt des würzigen Menüabschnitts. Der kommt jetzt, ist erneut rein vegetarisch und trägt den Titel »Die heutige Ernte aus dem Pflanzenreich«. Die Produkte dieser Ernte wurden bereits im Vorfeld präsentiert, auf dem Teller liegen nun Stücke von weißem Spargel, Kartoffeln und weißen Zwiebeln, alles von außerordentlicher Güte, ausdrucksvollem Geschmack und idealen Garpunkten – vor allem die Kartoffeln gehören zu den besten, die ich je gegessen habe.

Hinzu kommen diverse Kräuter und Blüten, die keineswegs nur Zierrat sind, sondern unterschiedliche Akzente setzen. Außerdem ein neckisches, hauchdünnes Knuspergespinst sowie nicht zuletzt eine samtige, mit Kräuteröl angereicherte Sauce. Das schmeckt nach Sommer und grünen Wiesen, nach frischen Kräutern und flirrender Hitze, leichtfüßig und vollmundig. Hier ist sie nun wieder, diese schwebende Eleganz, dieser ätherische Zauber, der charakteristisch für Kofoeds Küche ist. Man fragt sich, wie der Mann das macht, nur um sich direkt wieder dem Genuss hinzugeben, ganz vorsichtig, um der Sanftheit der Tellerkomposition gerecht zu werden. Eine weitere Götterspeise.

Das erste Dessert kombiniert Buttermilch mit Kamille und grünen Erdbeeren. Federleicht und frisch, changiert diese Kreation zwischen sommerlicher Süße, anregender Säure und feinherben Noten, ein Hauch Vanille scheint mir ebenfalls im Spiel zu sein. Magisch.

Voluminös wird es beim zweiten Dessert, das vielgestaltig um Schokolade, Topinambur, Pflaumen und Getreidekaffee rankt. Den Mittelpunkt bildet eine Art Törtchen mit wolkenzarter Mousse und geeister Pflaume, das handwerklich und geschmacklich absolute Weltklasse darstellt. Flankiert wird dieses Meisterwerk von einer Art Magnum-Eis am Stiel, gefüllten Pralinen sowie Trüffeln aus Topinambur-Reduktion und dunkler Schokolade – alles sehr gut, allerdings auch sehr gehaltvoll und auf Dauer eine recht »dunkle« Geschmackswelt, insbesondere für ein Sommermenü. Alles schaffe ich nicht, und der tolle Eindruck des Mousse-Törtchens geht in dem Sammelsurium beinahe unter. Hier wäre weniger mehr.

Anstelle der üblichen Petits fours – die gab es im Grunde ja schon vorher – bildet den Abschluss des Menüs eine knusprige Tarte mit glasiertem Rhabarber, Zitronenthymian und Sonnenblumenkernen, dazu Vanillejoghurt. Ein kleines Stück probiere ich, dann geht beim besten Willen nichts mehr.

15 Jahre ‹Geranium›, wie oft wir inzwischen hier waren, wissen wir gar nicht mehr genau. Heute jedenfalls präsentierte sich die Küche von Rasmus Kofoed in einigen Gängen von einer ungewohnten Seite – reduzierter, weniger verspielt und geradezu »klassisch französisch« im Umgang mit Kaviar und Fisch. Man könnte sagen: gelassener. Hier muss einer nichts mehr beweisen. Es gab diesmal allerdings auch ein paar kleine Schieflagen, und am bezauberndsten waren einmal mehr jene Gerichte, die in ihrer ungreifbaren Feinsinnigkeit wie Kreationen aus einem Elfenreich anmuten.

Sehen wir es so: Das ‹Geranium› war das erste Drei-Sterne-Restaurant Skandinaviens, jetzt scheint es sich allmählich in die Phase des souveränen »Klassikers« zu begeben. Ein bisschen Entdeckerdrang, das zeigten die besten Gerichte heute, hat man sich dennoch bewahrt. Es bleibt spannend. Für heute: herzlichen Glückwunsch!

Wein

2019 Jolivettes, Nicolas Maillart, Champagne, Frankreich
2012 Alexandra, Laurent-Perrier, Champagne, Frankreich
2022 Sauvignon Blanc, Maribor, Vino Gross, Podraja, Slowenien
2021 Palladius, Sadie Family Wines, Swartland, Südafrika
NV Renaissance, Eric Faillet, Champagne, Frankreich
2020 Chassagne Montrachet 1er Cru Les Vergers, Caroline Morey, Burgund, Frankreich
2021 Pinot Noir Estate, Bass Phillip, Gippsland, Australien
2022 Au Gapcéu, Camin Larredya, Jurançon, Frankreich
2021 Padre della Vigna, Passito de Pantelleria, Marco de Bartoli, Sizilien

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