
La Chèvre d'Or – Sonne, Meer und Sterne
Von Kai Mihm
Man kann es drehen und wenden wie man will, kann versuchen, eine abgeklärte Coolness zu bewahren – doch am Ende lässt sich die Lage des Fünf-Sterne-Hotels Château de la Chèvre d'Or nur mit Superlativen umschreiben. Absolut spektakulär thront das historische Anwesen in gut 400 Metern Höhe im französischen Küstenbergdorf Èze, auf Augenhöhe mit den Wolken und mit einem geradezu surrealen Weitblick über die Côte d'Azur. Einzigartig. Es ist die erste Station eines Trips zwischen Nizza und Menton, heute noch allein, morgen wird Chris dazustoßen.

Èze selbst ist ziemlich touristisch, am langen Feiertagswochende meines Besuchs platzt das Dorf aus allen Nähten. Umso mehr wirkt das weitläufige Château wie eine Oase der Ruhe, ein »Dorf im Dorf«, mit romantischen Gärten, sonnigen Terrassen und kleinen Poolbereichen, die sich an die felsigen Hänge schmiegen, verbunden durch ein labyrinthisch anmutendes Treppengeflecht (während meines kurzen Aufenthalts verlaufe ich mich gleich ein paar Mal).
Cannes ist nicht weit, und auf der Hotel-Webseite schmückt man sich mit den Namen prominenter Gäste, von Marlene Dietrich bis Leonardo Di Caprio, wobei Roger Moore und Sean Connery am besten zum altmodisch-glamourösen James-Bond-Setting dieses Ortes passen. (Dass hier tatsächlich schon Filme gedeht wurden, zum Beispiel der etwas verkitschte »The Bucket List« mit Jack Nicholson und Morgan Freeman, verwundert nicht).

Ich selbst bin allerdings nicht wegen der Stars hier, sondern wegen der Sterne. Seit vielen Jahren wird das Restaurant ‹La Chèvre d'Or› vom Guide Michelin mit zwei Macarons ausgezeichnet. Wirklich gereizt hat es mich trotzdem nie. Das änderte sich erst, als man 2024 ein blutjunges Talent ins Haus holte: den 30-jährigen Tom Meyer, der 2022 die in Frankreich hochangesehene Auszeichnung »Meilleur Ouvrier de France« errungen und danach im Pariser ‹Granite› für Aufsehen gesorgt hat.

Passend zur Atmosphäre im Hotel ist der Gastraum des Restaurants sehr klassisch gediegen eingerichtet und versprüht einen Retro-Charme, der für mich fast nur noch in Frankreich funktioniert (und manchmal in Italien). Der atmosphärische Bringer ist allerdings der atemberaubende Blick aus den gewaltigen Panoramafenstern. Wie in einem Adlernest überblickt man die Küste. Vergleichbar spektakulär, wenn auch dem Meeresspiegel viel näher, kenne ich das nur aus dem ‹Le Petit Nice› und der ‹Villa Madie›, beide bezeichnenderweise ebenfalls an der Côte d'Azur gelegen.
Anders als dort ist mir aufgrund der Reiseplanung diesmal kein Mittagsbesuch möglich. Doch das Dinner beginnt früh, die Sonne strahlt noch. Beim Menü ist lediglich die Wahl zwischen sechs (270 €) oder acht Gängen (340 €) zu treffen (acht bitte, naturalement). Dazu gerne die Weinbegleitung – wenn ich allein speise fühlt sich das für mich vitaler an, als auf ein einsames Glas zu starren, wenngleich die Weinkarte mit einer bemerkenswerten Auswahl exzellenter und bestellfreundlich kalkulierter Positionen aufwartet.

Das erste Amuse kombiniert frische Zuckererbsen mit cremigem Brousse du Rove, einem Ziegenkäse aus dem Bergdorf Le Rove bei Marseille. Die Kombination süßlicher Erbsen mit feinherbem Käse ist ein Hochgenuss von bestechender Schlüssigkeit, hier noch erweitert um ein federleichtes Minz-Granité, einen Hauch Lavendel und einen Spritzer Olivenöl. Ein klar in der Region verankerter Auftakt. Sehr stark.
Dazu serviert man ein buttrig-fluffiges, mit Tomate und Oliven aromatisiertes Blatterteigbrioche, auch dies von hervorragender Güte.

Fast zeitgleich erreicht ein Küchengruß-Trio den Tisch, das man in beliebiger Reihenfolge verspeisen soll (Essensanleitungen würden sich an diesem Ort auch deplatziert anfühlen). Ich beginne mit einer feinen Gurken-Tartelette mit Schalotte und diversen Blüten, die sommerlich-leicht, durch die Beigabe von Liebstöckel aber auch befriedigend vollmundig schmeckt. Weiter geht es mit einem Happen aus in Butter glasiertem Rettich mit Sardelle, Radieschen und Basilikum, der mit knackigem Biss erfreut und am Gaumen eine betörende Kraft zwischen jodiger Salzigkeit und feinherben Noten entwickelt. Den Abschluss bildet eine hauchdünne Croustade aus Lauch mit Pinie und Kräutern – duftig, knusprig, umami, mit einer Spur Süße.
In ihrer unprätentiösen, geschmacksstarken Souveränität sind bereits diese drei Happen ziemlich beeindruckend.

Den Aperos folgt ein Amuse bouche: drei dickere Streifen roher Meeräsche sind auf cremiger Garnelensauce angerichtet, garniert mit dunkelgrünem Püree aus Ringelblume sowie verschiedenen Kräuterölen. Das Tellerbild erinnert an ein Aquarell, dem entsprechend ist das Geschmacksbild trotz der Creme verblüffend leicht, klar und durchscheinend. Der qualitativ exzellente Fisch bleibt der Star, sanft untermalt von maritimen und kräuterigen Noten, aufgefrischt durch etwas Limettenabrieb und einen Hauch Chilli. Dazu der Blick über die Küste … exzellent.

Apropos Küste: Inzwischen hat die Blaue Stunde eingesetzt, die untergehende Sonne taucht alles in ein träumerisches goldenes Licht. Magic hour nennt man diese Zeit im Englischen, und das ist es hier fürwahr.

Der erste Menügang kombiniert in Streifen geschnittenen weißen Spargel mit einer geschäumten Sauce von Zitronen (aus dem hauseigenen Garten), die exakt so ausgesteuert ist, dass ihre fruchtige Bitterkeit mit den süßlichen Bitternoten des Spargel in idealem Einklang steht. Ein Hauch schwarzer Salbei und essbare Blütenblätter verleihen dem Ensemble Duftigkeit, knackige Pistazienstücke in der Sauce erweitern die Texturpalette. Sogar ein federleichtes Zitronen-Spargelsorbet macht in diesem Umfeld besten Sinn, da es nicht süß und verblüffenderweise auch nicht »eiskalt« ist, sondern mit seidiger Frische an das Gemüse und die Sauce andockt. Ein außergewöhnliches – und außergewöhnlich gutes – Spargelgericht.

Auf den kühlen, frischen Start folgt eine Speise von »dunklem« Umami: Eine gegrillte Artischocke ist mit einer Parmesan-Kräutermischung gefüllt, mit Parmesan gratiniert und mit Tintenfisch-Tagliatelle belegt. Das sieht ein bisschen trocken aus, erweist sich beim Anschneiden jedoch als filigrane Konstruktion aus hauchdünn knuspernder Hülle und butterzartem Innenleben. Es schmeckt heiß und vollmundig nach Artischocke und Parmesan, nach Röstaromen und pfeffriger Würze. Zusammen mit einer leichten Kräutersauce und den Sepia-Nudeln ergibt das eine herrliche Reminiszenz an das nahe Italien (der Service merkt später an, dass Tom Meyer hier eine Art »Cacio e Pepe« im Sinn hatte). Ein begeisterndes Highlight.

Von Italien geht es in Richtung Japan. Ein Rückenstück Roter Thun wird am Tisch auf nur einer Seite kurz über Holzkohle gegrillt, was ihm leichte Wärme und dezente Rauchnoten verleiht. Sodann bettet der Service ihn auf eine Assemblage aus Kiwi, Gurke, Shiso und rohen Thunfischstreifen, und gießt eine mit Holzkohle aromatisierte Teriyaki-Sauce an. Die hochfeinen Beigaben dienen in erster Linie dazu, den exzellenten Fisch bestmöglich nach vorne zu bringen, ohne dabei trivial zu wirken. Letzteres wird allein schon durch die Kiwi verhindert, eine Frucht, der man in der avancierten Küche kaum je begegnet, und noch seltener in herzhaften Kontexten.
Hier nun lässt sie das Gericht mit ihrer feinherben Fruchtigkeit nicht einfach »japanisch« erscheinen, sondern macht es frisch und originell. Vor allem aber bekommt der zartschmelzende Thun durch die Grundierung mit »grünen« Geschmacksbildern eine überraschende Originalität – es schmeckt vertraut und doch ganz »anders«. Am Ende kann man dieses Gericht mit gespitzter Zunge analytisch angehen, oder sich ganz unverkopft einem luxuriösen Genuss hingeben. Genau dieser Dualismus macht große Küche aus.

Ungewöhnlichen Genuss verspricht auch der nächste Gang. Einige ausgelöste Miesmuscheln von bemerkenswerter Größe sind da in einer aufgeschäumten Morchelsauce angerichtet. Auf diese Kombi muss man erst mal kommen. Und gerade, als ich mich frage, warum die Muscheln so aufgetürmt sind, entdecke ich darunter ein Ragout aus kleingeschnittenen Morcheln in einer voluminösen XO-Sauce, am Boden noch ein sattgrünes Kiefernextrakt. Hier muss man zum Löffel greifen und beherzt in die Vollen gehen. Saftige Muscheln und saftige Morcheln, Jodigkeit und Erdigkeit, leichter Schaum und üppiges Umami – jeder Löffel ist höchster Genuss, kraftvoll und trotzdem elegant.
Das konstant hohe Niveau des bisherigen Menüs ist erstaunlich, zumal Tom Meyer an diesem Abend gar nicht im Haus ist, sondern ein Gastspiel in Paris gibt. Umso beeindruckender, was hier passiert.

Beim nächsten Gang schickt der charmante Service eine Warnung voraus: das Gericht sei sehr »speziell« und nicht jedermanns Sache. Ziel erreicht: Nun bin ich umso neugieriger. Was dann kommt, sieht eher harmlos aus. Ein auf der Haut knusprig gebratenes Rotbarbenfilet wurde mit einer Orangensauce glaciert und ist lediglich mit etwas Cime di rapa und verschiedenen Kräutern angerichtet. Zum Schluss wird eine Sauce aus Orangen (aus dem eigenen Garten) und Mezcal angegossen. Letzterer ist denn auch für die »Vorwarnung« verantwortlich und sorgt mit seinem strengen Geschmack tatsächlich für Irritation – doch nur im ersten Moment. Schon bei der zweiten Gabel, nun mit etwas mehr Fisch, macht die Kombination besten Sinn, knüpft der herbe Agavenschnaps an den speziellen Geschmack der Rotbarbe an. Noch besser wird es, wenn man zwischendurch etwas Rapa nascht, der eine weitere feinherbe Facette beisteuert.
So erschließt sich dieses Gericht mit jedem Bissen etwas mehr, öffnet sich, wird immer besser – und am Ende wische ich die letzten Saucenreste mit einem Stück Brot vom Teller.

Auch beim Hauptgang wagt die Küche eine mir vollkommen unbekannte Kombination: Lamm und Erdbeeren. Der Lammsattel ist mit seinem Fettdeckel zu einer kleinen Rolle geformt und liegt mit einem fein gehackten Ragout aus Erdbeeren und Oliven auf dem Teller. Daneben finden sich zwei mit Korianderpüree gefüllte Erdbeerhälften samt essbarer Blüten (deren lila Farbton sich mit dem Rot der Erdbeeren beißt). Am Tisch wird ein mit Senf und Feigenessig aromatisierter Bratjus angegossen, der sich wild auf dem Teller verteilt. Sagen wir so: Einen Anrichte-Wettbewerb gewinnt diese ganze Präsentation nicht.
Geschmacklich aber ist das Gericht über jeden Zweifel erhaben. Das Lamm begeistert mit selten erlebter Güte, kernig-zart und mit deutlichem Eigengeschmack zwischen roséfarbenem Fleisch und gerösteter Fettschicht. Die kräftigen Oliven (aus dem nahen Nizza) und die süßen Erdbeeren bilden dazu ein etwas schräges, aber sehr reizvolles Duo – man sich darauf einlassen, dann wird es – wie bei der Rotbarbe – mit jeder Gabel besser. Gourmetspießer könnten Probleme haben.
Dazu serviert man in einer Extraschale …

… confierte Lammschulter, sanft orientalisch gewürzt, butterzart, mit Kichererbsenragout von außergewöhnlicher Güte. Das schmeckt »dunkel«, üppig, süffig – und in seiner selbstbewussten Rustikalität ohne Umschweife hervorragend. Ein zutiefst befriedigender Hauptgang.

Nach einer kleinen Käseauswahl vom Wagen (kein Foto) bin ich auf die Desserts gespannt. Über den langjährigen Pâtissier hatte ich immer wieder sehr Positives gehört. Das erste von zwei Desserts besteht aus Zitrusfrüchten »aus unserem Garten«. Im Wesentlichen hat man hier eine Meringue-Hülle, die mit verschiedenen Zitronenzubereitungen und einem fluffigen Schafsmilchschaum gefüllt ist. Das ist handwerklich tadellos und angenehm leicht. Eine mit Meerfenchel aromatisierte Zitrussauce verleiht dem Ganzen Spannung. Doch auf Dauer wird mir das Ganze vor allem wegen der Meringue etwas zu süß.

Deutlich balancierter ist die Süße beim zweiten Dessert, das Erdbeeren aus der Region mit Champagnergranité und Orangenblüteneiscreme kombiniert. Die Erdbeeren finden sich als marinierte Früchte, als Sauce, Creme und Sorbet sowie als pure Früchte auf dem Teller – und sind von einer kaum je erlebten Güte: saftig, mit hochintensivem Eigengeschmack, der selbst bei den marinierten Früchten im Vordergrund steht. Allein das macht diese Nachspeise zu einem Gewinner. Das Eis-Dreierlei gefällt ebenfalls sehr gut, wenngleich mir das Erdbeersorbet eine Spur zu süß ausfällt.
Es fällt auf, dass beide Desserts sich im Wesentlichen auf ein Hauptprodukt konzentrieren (Zitrone, Erdbeere), welches auf unprätentiöse Weise dekliniert und durch ein paar klug gewählte Mitspieler zum Strahlen gebracht wird. Keine kleinteiligen Verspieltheiten, sondern ein klarer Fokus.

Die Mignardises bestätigen den positiven Eindruck der Pâtisserie: auf kleinen Löffeln finden sich eine zarte Dulcey-Schokoladenpraline sowie ein mit Jasmin gefüllte Himbeere auf Rhabarber, in einer Schale eine besonders köstliche Deklination von Orangenblüten (als Eiscreme und Schaum).

Am folgenden Morgen lasse ich den Aufenthalt auf einer der zahlreichen Terrassen ausklingen. Die Sonne strahlt, die Erinnerung an den Vorabend leuchtet. Welch ein Ort, was für ein Menü. Tom Meyer gelingt der Balanceakt zwischen Klassik und Kreativität, zwischen süffiger Wohlfühlküche und fordernder Andersartigkeit. Dass er ganz hoch hinaus möchte, ist deutlich spürbar – und wenn man das gestrige Menü als Maßstab nimmt, auch kein unerreichbares Ziel.
Für mich heißt es Aufbrechen, raus aus dem Adlernest, runter vom Berg, Menton und Monaco warten. Ein letzter Espresso, ein letzter Blick. Dem Himmel so nah – und ja, ich bemühe das nahe liegende Sprachbild: die zwei Sterne leuchten hier oben besonders hell.
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