Trattoria Trippa – Kult vs Realität
Es gibt ein Mailänder Restaurant, das von ausnahmslos jedem Szenekenner empfohlen wird: die Trattoria ‹Trippa›, ein einfaches Lokal, das für seine rustikale Küche mit Schwerpunkt auf Innereien und raren Traditionsrezepten berühmt ist. Solche Restaurants reizen mich immer ganz besonders, denn auch nach dreißig Jahren mit, sagen wir: »engen Kontakten« nach Italien (»Maria, ihm schmeckt‘s!«) bilde ich mir nicht ein, die Küche dieses Landes wirklich erschlossen zu haben.
Jede Region, jedes Dorf und jede Familie pflegt hier ganz eigene Traditionen. Unvergessen, wie mir ein Sizilianer einst ein Omelette nach einem uralten Rezept seines Dorfes servierte: sorgfältig und langsam während des Garens in der Pfanne zu einer flaumigen Rolle geformt, ganz wie ein japanisches Tamagoyaki, nur mit etwas Parmesan und Minze verfeinert. Die italienische Küche gibt es nicht, und am absurdesten ist zugleich die Abgrenzung einer »italoamerikanischen« Küche (zwei oder drei Klassiker-Abwandlungen konstituieren keine Küche), denn sogar die als amerikanisierte Unart verspotteten »Spaghetti with Meatballs« wurden nicht in den USA erfunden, sondern in den Abruzzen.
Aber zurück zur Trattoria ‹Trippa›. Der Laden genießt Kultstatus weit über Mailand hinaus (inzwischen gibt es sogar die unvermeidliche Dependance in Hongkong). Eine Reservierung zu ergattern erscheint nahezu unmöglich, das Online-Buchungssystem zeigt auf Monate kein freies Datum an. Am Ende gelingt es uns über die Warteliste, für einen Tisch zur zweiten Belegung um 21:30 Uhr.
Das Lokal befindet sich in einem belebten Stadtviertel etwas außerhalb des Zentrums. Der Gastraum ist denkbar schlicht gestaltet, mit diffuser Beleuchtung und eng stehenden Holztischen samt Platzdeckchen aus Papier. Die Speisekarte listet fünfzehn Gerichte zwischen zwölf und zwanzig Euro. Mit beratender Unterstützung des freundlichen Kellners fällen wir eine Wahl – und nur soviel: einmal mehr wird sich zeigen, dass man als erfahrener Gast stets am besten weiss, wonach einem wirklich der Sinn steht.
Auf der Weinkarte finden sich etliche reizvolle Optionen zu gastfreundlichen Preisen. Ich liebäugele mit einem 2020er Pecorino von Emidio Pepe zu unschlagbaren 90 Euro, aber am Ende reizt mich das Unbekannte mehr: ein kräuterfrischer Trebbiano d'Abruzzo der Cantina Valle Reale (»Vigneto di Popoli« 2020, 58 Euro), eine schöne Neuentdeckung.
Mit dem Wein kommt das erste Gericht zum Teilen auf den Tisch, eine Empfehlung des Kellners: Eine knusprige Scheibe Sauerteigbrot mit cremiger Milzpastete, die irgendwie »dunkel«, leicht nach Leber und vor allem üppig schmeckt. Etwas Zitronenmarmelade und einige Spritzer Saba (eingekochter, süßsäuerlicher Traubenmost) frischen das sehr rustikale Geschmacksbild auf. Das ist gut, aber keine Offenbarung.
Ein Wucht sind dafür die frittierten Kutteln, ein weithin bekannter Klassiker des Hauses, den ich unbedingt probieren wollte. Die in Streifen geschnittene Innerei ist heiss, aber nicht fettig, perfekt knusprig, aber zugleich von einer gewissen »Weicheit«. Der typische Eigengeschmack der Kutteln ist noch minimal vorhanden. Gewürzt mit ordentlich Salz, Pfeffer und duftendem Rosmarin wird daraus ein verführerischer, ebenso appetit- wie durstanregender Snack. Sehr stark.
Ein weiteres prominentes Gericht von Küchenchef Diego Rossi ist seine Version des Vitello Tonnato. Beim »Italiener an der Ecke« kennt man dieses Standardgericht in der Regel als graubraune Pampe, unter der sich graue, geschmacksneutrale Fleischscheiben verbergen. Hier nun sind dünne Scheiben von perfekt rosé gegarter Kalbsoberschale locker auf einem tiefen Teller drapiert, garniert mit einer fluffigen Emulsion aus Thunfisch, Sardellen, Kapern und frischer Senfmayonnaise.
Das zarte Fleisch zerfällt beinahe, hat dennoch Biss und vor allem deutlichen Eigengeschmack – selbst bei qualitativ hochertigem Kalbfleisch ist das nicht die Regel. Zusammen mit der samtigen, maritimen Emulsion ergibt sich ein komplexer und süffiger Wohlgeschmack zwischen Berg und Meer. Säuerliche Kapern und brauner Kalbsjus runden das Ganze ab. Viel besser kann man diesen Klassiker nicht zubereiten.
Ein italienisches Abendessen wäre ohne Pasta nicht komplett. Ich habe, auf Anraten des Kellners, hausgemachte Passatelli bestellt, eine typische Nudelsorte der Emilia-Romagna: kleine, geriffelte Teigwürstchen, die aus Semmelbröseln, Eiern und Parmesan hergestellt werden. Traditionell kocht und serviert man sie in kräftiger Fleischbrühe.
Hier nun kommen sie mit Eselragout auf den Teller, das klingt spannend. Die aromatische Fremdartigkeit der Sauce ist überraschend: irgendwo zwischen Wild und Innereien (die vermutlich verarbeitet wurden), und sehr, sehr intensiv. Die kleinen Fleischstücke sind ziemlich weich, wie auch die Nudeln, was bald zu einem etwas breiigen Mundgefühl führt. Sagen wir es so: Die Portion ist mir am Ende zu groß, was bei Pastagerichten etwas heißen will.
Beim Hauptgang handelt es sich um ein Traditionsgericht aus Apulien: Marro, in Streifen geschnittene Lammdärme, mit Lamminnereien zu einer Roulade geformt und im Ofen geschmort. Ich kann nicht sagen, was genau man hier alles verarbeitet hat, aber das Resultat ist... heftig. Weniger wegen des Geschmacks, der überraschend mild ausfällt, sondern wegen der etwas trockenen und faserigen Textur der verschiedenen Innereienstücke. Manche Marro-Rezepte sehen zusätzlich Hackfleisch vor, was das Ganze geschmeidiger machen dürfte. Hier nun sorgen Kartoffelpüree, Rucolasalat und eingelegte Sauerkirschen für etwas Frische und Saftigkeit. Im Sinne einer kulinarischen Horizonterweiterung ist das Gericht sehr spannend (in Apulien ist mir Marro noch nie untergekommen). Doch ob ich es (hier) noch einmal bestellen würde, bleibt fraglich.
Bei den Desserts gibt es zwei Optionen, die wir alle beide bestellen: Eine exzellente, überraschend leichte und nicht zu süße Panna Cotta mit Erdnüssen und eingekochtem Traubenmost, sowie eine Tiramisu, deren etwas zu schaumige Mascarponecreme vermutlich aus dem Isi-Spender kommt. Trotzdem sehr gut. Beide Süßspeisen sind üppig portioniert. Mehr geht jetzt beim besten Willen nicht mehr rein.
Das war schon alles gut bis sehr gut, heute, aber so ganz lässt sich der immense Kult um die ‹Trattoria Trippa› nicht nachvollziehen. Man kann hier ungewohnte und seltene Gerichte probieren, was bereits eine Qualität für sich darstellt. Nur hat man das »Bauchgefühl«, dass die Zubereitungen nicht immer optimal ausfallen. Vielleicht hatten wir bei den Passatelli und dem Marro auch nur Pech. Einen Besuch lohnt diese Mailänder Trattoria mit Sicherheit. Nur die Kirche sollte man im Dorf lassen.
Kai Mihm