
Terroir am Tresen
Kurz vor der Präsentation des ersten landesweiten Guide Michelin für Österreich im Januar 2025 waren wir in Tirol und Vorarlberg unterwegs, um uns ein paar potenzielle »Sternekandidaten« genauer anzuschauen. Die Auswahl war relativ klar, und um es vorwegzunehmen: wir hatten den richtigen Riecher, alle besuchten Lokale wurden am Ende mit zwei Sternen ausgezeichnet.
Von Innsbruck aus führt unser Weg über Ischgl (Bericht zum ‹Stüva› folgt) nach Zug bei Lech, ins geschmackvoll gestaltete Designhotel Rote Wand, ein familiengeführter Betrieb, der sich über mehrere Gebäude erstreckt. Unser Ziel: das Restaurant ‹Rote Wand Chef's Table›. Wir waren schon mehrfach hier, aber die Lage am Dorfrand, mitten im Schnee, die Berge vor Augen, ist jedes Mal bezaubernd. Komplettiert diesmal durch einen Himmel, den van Gogh nicht besser hinbekommen hätte.
Der Hotelinhaber Josef Walch ist ein weltreisender Essverrückter, genau wie wir, und im Lauf der Jahre hat er sein Hotel zu einer Art kulinarischem Forschungszentrum ausgebaut, samt gewaltiger Versuchsküche und regelmäßigen Veranstaltungen mit Köchen aus aller Welt. Sehr beeindruckend.

Zum kompakten Hotelkomplex gehört auch das pittoreske historische Schulhaus des Dorfes. Dort eröffnete man 2017 den ‹Chef's Table›, wo zunächst der blutjunge Österreicher Max Natmessnig die Küche leitete – abgeworben aus dem New Yorker ‹Chef's Table at Brooklyn Fare›, der nicht nur dem Namen nach als Blaupause für das Restaurant diente.
Nach Natmessnigs Wechsel ins Münchner ‹Alois› (und schließlich zurück ins ‹Brooklyn Fare›) übernahm Ende 2022 der damals 28-jährige Julian Stieger die Küchenchefposition. Auch er mit beachtlichen Stationen, unter anderem im ‹Geranium› und im ‹Eleven Madison Park›. Anders als Natmessnig, so viel wissen wir bereits, kultiviert Stieger eine alpine Regionalküche. Klingt erstmal abgedroschen, macht angesichts der Umgebung aber durchaus Sinn.

Den grundsätzlichen Besuchsablauf am ‹Chefs Table› kennen wir von früher. Das Menü (225 Euro) beginnt für alle Gäste (maximal 15) zeitgleich, man versammelt sich in der Lobby im Haupthaus und wird über einen unterirdischen Tunnel ins »Schualhus« geleitet. Dort nimmt man zunächst in einem kleinen Vorraum Platz, wo erste Snacks serviert werden. Von unserem Tisch aus haben wir einen direkten Blick auf den Pass, wo ein junger Koch gut gelaunt mit dem Trüffelhobel hantiert.

Bevor aber der Trüffel ins Spiel kommt, gibt es zum Auftakt eine kleine Schale Rindersuppe, angereichert mit Butter, Kräuteröl und Rind-Pilz-Garum. Das sieht unspektakulär aus, doch der erste Schluck dieses heißen, sämigen Elixiers trifft mich wie eine Mischung aus Gongschlag und Streicheleinheit: enorm intensiv, dabei von seelenwärmender Samtigkeit. Beim zweiten und dritten Schluck (mehr ist es leider nicht) tun sich immer neue Facetten auf. Kräuter, Pilze, kräftiges Rind und gute Alpenbutter – selten hatte ich das Gefühl, so schnell in der Aromenwelt einer Landschaft angekommen zu sein. Bewegend.

Noch etwas benommen beobachte ich die Fertigstellung des nächsten Snacks, bei dem der oben erwähnte weiße Trüffel auf einem appetitlich gebräunten Kartoffelteig-Krapfen drapiert wird. »Das kann nur grandios sein«, denke ich noch, »da kann man nichts falsch machen«. Aber … man kann. Denn völlig unerwartet erweist sich der Krapfen beim ersten Bissen nicht als wohlig-warm, sondern als kalt. Diese Irritation wird durch eine Füllung aus – ebenfalls kaltem– Zwiebelkompott noch verstärkt. Zur Hilfe kommen ein Klecks geräucherter Crème fraîche und etwas N25 Kaviar, denn hier macht die Kühle natürlich Sinn. Alles zusammen schmeckt auch nicht »schlecht« und ist handwerklich tadellos. Nur erschließt sich mir die aromatische »Logik« der Serviertemperatur nicht, oder anders gesagt: mit etwas Hitze könnte das ein Highlight sein.

Glücklicherweise geht es danach wieder steil bergauf. In einer kleinen Steingutschale verbirgt sich unter dünn aufgeschnittenen Portobellopilzen und Kohlrabi ein Tatar von Tiroler Wagyu, aromatisiert mit fermentiertem Pfeffer und Schnittlauch. Hier haben wir sie wieder, diese außergewöhnliche Mischung aus Intensität und Sensibilität. Das Tatar hat Kraft, bleibt aber »transparent«, die Pilze unterstreichen das Umami, während der Kohlrabi eine gewisse Frische einbringt. Den Clou bildet indes ein angegossenes Beef-Dashi, in dessen aromatischer Klarheit sich die anderen Aromen wie in einem Prisma auffächern. Stark. Sehr.

Es folgt die unvermeidliche Tartelette, belegt mit Bayrischer Garnele und Saiblingskaviar, gewürzt mit leicht schärfendem Meerrettich und säuerlichen Apfel-Pickles, obenauf knusperndes Lauchstroh. Das changiert sehr angenehm zwischen Garnelensüße, Erdigkeit und ätherischer Würze, alles ist aromatisch wie texturell gut ausbalanciert. Ein sehr schöner Happen, nicht mehr, nicht weniger.

Ein geräucherter Choux (Brandteig) mit wilden Blaubeeren und feinst geriebener Entenfettleber gefällt mit fluffiger Textur, dezenten Raucharomen, subtiler Fruchtigkeit und einem Fettschmelz, so hauchzart wie winzige Schneeflocken. Originell, stimmig, sehr schön. Überhaupt fällt bisher auf, wie gut die kleinen Speisen zum alpinen Setting passen – alles irgendwie rustikal und doch von anmutiger Eleganz.

Den Abschluss der Amuses – so fasse ich die Kleinigkeiten einfach mal zusammen – bildet ein Zweierlei: In einem Tiegel findet sich heißer, mit geräuchertem Knochenmark angereicherter Kartoffelschaum, gewürzt mit einem Hauch frischen Thymians und ein paar Tropfen Thymianöl. In dieser köstlichen, warmen, flaumigen Masse versteckt sich ein weiches Wachteleigelb, dazu knuspert gepuffte Leinsaat – ein gänsehautiger Hochgenuss. Dazu isst man, entweder vorab oder zwischendurch, eine hauchdünne Tartelette mit kühlem N25 Kaviar, dessen luxuriöse Jodigkeit diese Götterspeise noch vollmundiger, noch komplexer, noch genussreicher macht.

Es folgt das obligatorische Intermezzo zur Präsentation und Erläuterung einiger Produkte des Menüs (wir befinden uns schließlich im »Schulhaus«) …

... bevor es an den eigentlichen Chef's Table geht, der u-förmig die offene Küche umschließt. Nach und nach laufen die Gäste dort ein, während die Crew bereits eifrig mit dem Finalisieren der ersten Gänge beschäftigt ist. Natürlich gibt es eine Vorbereitungsküche, aber auch hier, im offenen Bereich, wird »richtig« gekocht und gebraten, anders als in manch anderen Lokalen mit vergleichbarem Aufbau. Die Atmosphäre ist gelöst, das Publikum recht bunt gemischt, von jungen Pärchen bis hin zu etwas älteren Freundesgruppen. Gelegentlich kommen wir mit Sitznachbarn ins Gespräch, aber alles bleibt auf lässige Weise diskret. Sehr angenehm.

Das erste Gericht am Tresen stellt Saibling in den Mittelpunkt. Der in schmale Streifen geschnittene, angenehm festfleischige Fisch wurde gesalzen und geräuchert, ist mit einem Hauch Lavendel gewürzt und ruht in einer transparenten Sauce aus fermentiertem Gemüsefond, Tomatenwasser und geräuchertem Öl. Wenn man derart reduziert arbeitet, muss alles stimmen, und der Geschmack des Ensembles ist so glasklar wie die Sauce. Fisch, Fond – fertig. Fantastisch. Ein Gericht wie ein Laserschwert.

Opulenter wird es bei einem Steckrübengratin. Das Gemüse ist mit gereiftem Bergkäse, konfiertem Knoblauch, Steckrübenknusper und gebackenen Bärlauchsamen gratiniert, für Würze sorgen Ingwersaft, frischer Kren sowie Holunder- und Senfsaat. Ales sehr dicht, sehr kompakt. Beim Servieren wird noch eine aufgeschäumte Meerrettich-Beurre-blanc angelöffelt. Für ein, zwei Gabeln ist das dank der vielfältigen Texturen und Aromaten spannend. Dann aber tritt die sehr weich gegarte, stärkereiche Steckrübe in den Vordergrund und dominiert das Mundgefühl mit einer voluminösen »Mehligkeit« und ihrer natürlichen Süße. Dadurch wirkt das Gericht auf einmal schwer und etwas plump. Mit einem anderen Hauptprodukt könne ich mir das wesentlich runder vorstellen (ich denke an ähnliche Gerichte von Sven Wassmer mit Bete und Sellerie).

Filigraner und frischer wird es bei dünn aufgeschnittenem Zander von herausragender Qualität, der mit diversen Bittersalatbättchen bedeckt ist. Eine sattgrüne Sauce aus Salat und Jalapeño spendet tiefe Würze, fermentierte Sonnenblumenkerne erweitern das Textur- und Geschmacksspektrum. Dieses Gericht ist mit den fein ausgesteuerten Fisch- und Bitteraromen von einer dezenten Eleganz, die man leicht »überschmeckt«. Man muss sich dem öffnen – dann knallt es. Hier haben wir sie jedenfalls wieder, die präzise Klarheit, bei der alles Hand in Hand geht.

Etwas wuchtiger kommt das Buttermilch-Blutwurstbrot daher, üppig belegt mit Schalottenmarmelade, Trüffelmayo, Hefe-Crumbles, Bärlauchsamen und weißem Trüffel. Ein Wonneproppen von einer Stulle, intensiv Umami, aber auch (etwas zu) süßlich (von Schalotte und Blutwurst) und texturell ein bisschen zu sehr auf der soften, cremigen Seite – und mir deshalb eine Nummer zu mächtig. Beim ersten Bissen ist das ganz groß, danach ist es zu groß.

Es folgt ein weiteres Fischgericht. Eine gegrillte Tranche Störfilet mit Farce von Bayrischen Garnelen wird am Tresen mit einem Wacholderzweig kurz geräuchert und sodann mit einer sämigen Sauce aus Pilzen, Pastinaken, Grünen Erdbeeren, Dill und Kaviar überzogen. Die Sauce ist denn auch der Star dieses Gerichts. In ihrer aromatischen Üppigkeit blüht das naturgemäß recht feste Fleisch des Störs regelrecht auf, die zarte Füllung schmiegt sich dazwischen. Ein abwechslungsreicher Genuss, in dessen wohliger, wärmender Vollmundigkeit man sich verlieren kann.

Weintechnisch ist der Abend einigermaßen schnell eskaliert, mit einer unkomplizierten Mischung aus Pairing, Probierschlucken und Sidebottle... Schon immer - und zum Spott mancher Mitstreiter - genieße ich es, im Lauf des Abends wechselnde Gläser zu »sammeln« und immer wieder einen Schluck hier und da zu nehmen. Appetit macht das auch …

… Insbesondere auf dunkle Umami-Aromen, wie beim ersten Fleischgang des Abends, der Kapaun zum Thema hat. Das Geflügel wurde geschmort und in einer Hefekruste gebacken. Das klingt jetzt genau richtig. Leider ist die Kruste etwas zu dick und das Fleisch etwas trocken geraten, das ließe sich justieren. Eine kräutergrüne Sauce gleicht die fehlende Saftigkeit zwar halbwegs aus, ebenso ein Belag aus appetitlich glänzenden Topinamburschuppen, die man in Baconfett confiert hat. Trotzdem bleibt dieser Gang am Ende hinter seinen Möglichkeiten.

Vor dem nominellen Hauptgang wird noch ein bemerkenswert gutes Sorbet von Kapuzinerkresse über den Tresen gereicht, das irgendwo zwischen Süße und Herbheit oszilliert und an dieser Stelle des recht gehaltvollen Menüs genau richtig kommt.

Bereits eine Weile zuvor hatte man reihum eine ganze Ente präsentiert, trockengereift, nun appetitlich gebräunt, die Haut mit diversen Gewürzen aromatisiert (u.a. Szechuanpfeffer, Koriandersaat, Langpfeffer) und verführerisch duftend …

Auf den Teller kommen drei Tranchen der Entenbrust, die knuspernde Gewürzhaut mit dünner Fettschicht unterfüttert, das Fleisch saftig rosé gegart. Man muss sich nur die Struktur des Fleisches anschauen, um die herausragende Qualität zu erkennen. Dazu gibt es noch einen Löffel vom saftig geschmorten, gezupften Keulenfleisch. Ente wird in europäischen Spitzenrestaurants nur selten serviert, man fragt sich warum. Jedenfalls ist dies neben den Exemplaren im ‹Sühring› und dem ‹Samrub Samrub Thai› in Bangkok die beste Ente, die ich je gegessen habe.
Nicht zu vergessen die Sauce: sie dürfte nicht nur uns bekannt vorkommen, und auch Julian Stieger zeigt sich amüsiert, als wir beim Angießen reflexhaft den Namen Sven Wassmer in den Raum werfen: das Ganze erinnert doch stark an dessen Saibling mit gebranntem Rahm. Doch der optische Eindruck täuscht, Stiegers Sauce gewinnt ihren Geschmack und ihr Aussehen aus Steinpilzen, Schnittlauch, Lavendel und dem »Gemüsekaviar« Tonburi, der auch texturellen Reiz verleiht. Nicht nur zusammen mit dem Entenfleisch ist das absolut grandios. Götterspeise Nummer zwei.

Der Käsegang besteht aus einer Crème von gereiftem Bergkäse (Jahrgang 2020), aromatisiert mit Feigenblatt und beträufelt mit dreißig Jahre altem Balsamico. So sehr sich hier an diesem Ort ein Käsebrett aufdrängen würde – diese minimalistische Zubereitung, die den kräftigen Charakter des Bergkäses unterstreicht und zugleich bändigt, schmeckt nicht weniger als exzellent.

Der süße Abschnitt des Menüs besteht überraschenderweise aus nur einem einzigen Dessert: Auf einer sahnigen Mousse von Apfelholz sind ein außergewöhnlich gutes Bratapfelsorbet und knuspernde Strudelteigblätter angerichtet. Süße kommt vor allem von einigen Spritzern Apfelkaramell, und irgendwoher schiebt sich auch der frische Geschmack von Zitronenmelisse dazwischen. Ein sehr stimmiger, auf unkomplizierte Weise hochkarätiger Abschluss.

Wobei es doch noch etwas Süßes gibt, ein »Petit Four« in Gestalt eines fluffigen Hefeknotens mit Szechuanpfeffer und Zimt, den ich mir als Frühstück einpacken lasse.

Wir können nicht sagen, dass uns das hohe Niveau des Menüs überrascht hat. In einem Haus, das sich seit Jahren so sehr der anspruchsvollen Küche verschreibt, hätte alles andere erstaunt. Es ist weniger das inzwischen oft anzutreffende Konzept eines »Chef's Tables«, das die Besonderheit ausmacht, sondern die unprätentiöse Lässigkeit, mit der man hier ein Terroir auf den Teller bringt. Dass manche Produkte wohl kaum aus der näheren Umgebung stammen dürften – geschenkt. Es geht hier nicht um Dogmen, sondern um ein Gefühl, um den Genuss.
Dass es auch weniger gelungene Gerichte gibt und man hier und da noch ein bisschen feilen und nachjustieren kann, trägt eher zum charmanten Gesamteindruck bei, den das junge Team in der offenen Küche vermittelt. Unter internationalen Essverrückten war der ‹Rote Wand Chef's Tables› schon lange ein Tipp; die zwei Sterne – nichts anderes haben wir erwartet – darf man als Bestätigung dieses Rufs betrachten.
Ein paar letzte Drinks in der Hotelbar, dann ab ins Bett. Morgen wartet eine gute Autostunde entfernt die nächste Station, die ich rein instinktmäßig eingeplant habe und über die wir kaum etwas wissen. Nur, dass wir dort auf einen alten Bekannten treffen werden. Es bleibt spannend.
Kai Mihm
Wein

Fragen an den Suffmeister (a.k.a. Sommelier) Dominic Lackner
1. Anzahl der Positionen auf der Karte
1.100 Positionen
2. Haben Sie einen besonderen Fokus bezüglich der Weinkarte?
Generell ist der Fokus bei uns auf »Naturwein«, also low-/non Interventions Wines. Hauptsächlich haben wir österreichische Weine auf der Karte.
3. Welche ist Ihre preiswerteste/teuerste Flasche und was kosten sie?
Preiswerteste: 2022 Rosi Schuster Furmint für 57,- €
Teuerste Flasche: 2000 Domaine Romanée Conti La Tache für 7.500,- €
4. Die ungewöhnlichste Rarität?
2001 Gobelsburg, Riesling Heiligenstein | Lyra Magnum
5. Welches ist Ihr meistverkaufter Wein der letzten 12 Monate?
Weingut Holzapfel Grüner Veltliner Federspiel
6. Ihre Entdeckung der letzten 12 Monate?
Wachstum König, Weissburgunder
7. Ihr persönlicher Lieblingswein? Weshalb?
2002 Nikolaihof Riesling Steinriesler: Ich mag die Ausgewogenheit zwischen Reifenoten, Frische und moderatem Alkohol, und auch die lange Geschichte des Weingutes finde ich faszinierend.
8. Der ausgefallenste (vinophile) Gästewunsch, mit dem Sie je konfrontiert wurden?
Ein Gast wollte von mir einmal, dass ich ihm den letzten Schuss eines Alten Bordeaux in der Flasche nochmal aufschüttele, da der Bodensatz am gesündesten bzw. da am meisten Geschmack drin sei.