
Potong: lange Geschichte
Es ist heiss in Bangkok, verdammt heiss. Nachmittags zeigt die App 36 Grad im Schatten an, die gefühlte Temperatur liegt noch ein paar Grad höher. Beim Streifzug zu den Garküchen von Chinatown schmore ich im eigenen Saft. Kein Wunder, dass die Straßen nahezu menschenleer sind. Am Ende fällt die Hälfte der Tour wortwörtlich ins Wasser, weil ich zurück an den Hotelpool im ›Four Seasons‹ flüchte. Sehr bedauerlich, denn Bangkok ist hinsichtlich Streetfood die wahrscheinlich spannendste Metropole Südostasiens – vielfältiger als Hongkong und nicht so geleckt wie Singapur. Abseits der Touristenströme ist hier alles noch etwas rauer, und wenngleich die Regierung in den letzten Jahren für mehr »Ordnung« gesorgt hat, sind Bangkoks Garküchen eher nichts für Gourmetspießer.
Ich selbst bin seit jeher der festen Überzeugung, dass man ohne tiefgreifende Kenntnis der Streetfood-Kultur auch die »gehobenen« asiatischen Länderküchen nicht wirklich begreifen kann. Davon abgesehen schmeckt es in Südostasien auf der Straße tatsächlich oftmals wesentlich spannender, als in den Sternerestaurants. Trotzdem habe ich in einem solchen für heute Abend reserviert, da komme ich – noch – nicht ganz aus meiner Haut...

Also bin ich am Abend per Shuttleboot erneut unterwegs nach Chinatown. Die Hitze drückt noch immer, aber zumindest der Fahrtwind spendet minimale Abkühlung. Mein Ziel ist das Restaurant ›Potong‹. Es gehört Pichaya »Pam« Soontornyanakij, einer thailändisch-chinesischen Köchin, die zu den prominentesten Stars der Bangkoker Gastroszene zählt.

»Chef Pam«, wie sie überall genannt wird, kommt aus einer gut situierten Familie und lernte das Küchenhandwerk unter anderem bei Jean-Georges Vongerichten in New York – für manchen mag diese frankophile Prägung ein gutes Zeichen sein, mich macht sie in diesem Fall eher skeptisch, gerade auch weil die verfeinerte chinesische Küchenkultur deutlich weiter zurückreichen dürfte, als die Französische.
So oder so: 2021 eröffnete Pam das ›Potong‹ im historischen Wohnhaus ihrer Vorfahren. Im Erdgeschoss befand sich einst die familiäre Apotheke für traditionelle chinesische Medizin.

In dieser ehemaligen Apotheke beginnt auch der Abend für die Gäste. Man sitzt an Tischvitrinen mit Familien-Memorabilia und schaut auf eine Theke mit allerlei Einmachgläsern und Apothekerutensilien. Zu einem Glas hausgemachtem Kombucha, der nicht uninteressant schmeckt, erzählt eine Kellnerin etwas über die Historie des Hauses und dessen aufwändigen Umbau zu einem Restaurant.
Auch sonst erfährt man über die familiären Bezüge im Lauf des Abends noch viel. Sehr viel. Dieser geschickt vermarktete Familienbezug dürfte dazu beigetragen haben, dass sogar deutsche Zeitungen, von SZ bis FAZ, ausführlich über das ›Potong‹ berichteten – das Essen selbst spielte dabei eine untergeordnete Rolle. »Storytelling« über alles.
Inzwischen habe ich Hunger. Es dauert allerdings recht lange, bis man zur nächsten »Station« des Abends gebeten wird, wo es hoffentlich etwas richtiges zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen gibt. Per Aufzug geht es ins vierte Stockwerk – eigentlich, denn in dem winzigen Fahrstuhl finden maximal zwei Personen Platz; wir sind dritt, also nehme ich die schmalen Holztreppen. Auf dem steilen Weg nach oben sehe ich nahezu das gesamte Restaurant, was eher nicht der vorgesehenen Dramaturgie entsprechen dürfte. Bedeutend ist das nicht, aber irgendwie bezeichnend.

Oben angekommen erwartet uns hinter einem weiteren Tresen eine junge Dame mit hausgemachter »Charcuterie«. Die französische Umschreibung ist charmant, aber auch amüsant, denn …

… die drei Scheibchen muten optisch und geschmacklich eher spanisch an: zwei Sorten roher Schinken sind von feinem Geschmack, einer davon mit ausgeprägtem Fettrand, außerdem eine ebenfalls fettreiche, leicht pikante Wurst. Zu jedem Stück gibt es einen passenden Cracker, nussig und säuerlich zum Schinken, eher neutral zur würzigen Wurst. Eine schöne Idee, hübsch umgesetzt.
Dazu serviert man einen leichten thailändischen Weißwein, der entfernt an Grauburgunder erinnert. Man muss sich das Getränk gut einteilen, bis man schlussendlich abgeholt und zu Tisch geleitet wird. Das richtige Timing, ich habe es schon öfters erwähnt, ist eine nur selten gemeisterte Herausforderung in Restaurants mit verschiedenen »Stationen«.

Die Gasträume erstrecken sich über zwei Etagen des schmalen, verwinkelten Altbaus; das Interieur ist in einem vornehmen chinesischen Stil gestaltet, mit viel dunklem Holz, Wandtapeten und gedämpftem Licht. Ein wenig kulissenhaft, aber atmosphärisch. Bei unserem Eintreffen sind wir nahezu die einzigen Gäste, aber das wird sich sehr schnell ändern. Die Weinkarte ist, sagen wir: ausbaufähig. Am Ende fällt die Wahl auf das Pairing, das dürfte in jedem Fall »spannender« sein.

Am Tisch wird zunächst ein Zweierlei vom Schwarzfederhuhn serviert: eine heiße, dichte Brühe und eine filigran gearbeitete Tartelette mit chinesischen Kräutern. Die Brühe ist in bester chinesischer Manier hervorragend, während das Törtchen weniger markant schmeckt, als erwartet. Trotzdem sehr gut.

Vor dem nächsten Gang, der Banane zum Thema hat, werden die rohen Segmente der Frucht auf den Tisch gestellt: Fruchtfleisch, Blüte, Stiel. Dazu ein kleines Comicbüchlein, das die Bedeutung der Banane in der thailändischen Esskultur verdeutlichen soll. Bemerkenswert ist, dass es diesen mehrseitigen Comic offenbar in verschiedenen Sprachen gibt, um jedem Gast das Verständnis zu erleichtern – die kleinen Übersetzungsfehler in den Sprechblasen sind dann auch das Charmanteste an diesem etwas forcierten Intermezzo. Ich würde jetzt einfach gerne etwas essen.

Schlussendlich kommt das Gericht zur Geschichte auf den Tisch: Gegrilltes, mit Klebereis und Hühnerleber gefülltes Fruchtfleisch schmeck sehr vollmundig, und verbindet Röstaromen, Umami und Süße. Stark. Etwas gewöhnungsbedürftiger schmeckt eine Art Sandwich mit Parfait von Bananenblüte, Fischgarum und Dill – das changiert zwischen streng, spröde und lieblich, hallt aber gerade durch die aromatische »Fremdheit« länger nach. Auf einer rechteckigen Tartelette bedecken dünnen Scheiben vom Bananenstiel eine Mischung aus Erdnuss und Limette, was zu einem ansprechenden, sehr »thailändischen» Geschmacksbild zwischen Herzhaftigkeit und Süßsäuerlichem führt. In Summe ist diese Trilogie mehr »interessant« als »köstlich«.

Nach einer weiteren kleinen Geschichte folgt unter dem Titel »Erinnerungen« eine Variation um Krabbe. Im Panzer einer Schlammkrabbe verbirgt sich eine köstliche, sehr pur schmeckende Emulsion vom Krabbenrogen sowie eine mehr als pikante Marmelade von Krabbe und schwarzem Pfeffer. Beides soll man mit Scheiben getoasteter Brioche essen, die mit Krabbenbutter zubereitet wurde. Aus dem separat servierten Scherenfleisch hat man ein (arg kleines) Krabbencurry zubereitet. Das ist alles nicht nur originell, sondern schmeckt in seiner süffigen Herzhaftigkeit auch ganz hervorragend.

Und noch ein lehrreiches Intermezzo in Form einer wortreichen Texttafel, diesmal zum Thema »Pad Thai«. Diesen Thai-Klassiker kennt wohl jeder, aber nur die wenigsten dürften wissen, dass er aus der Küche chinesischer Immigranten entstand (Nudeln!), und während einer Reis-Missernte in den 1940er-Jahren von staatlicher Seite »propagiert« wurde, um die Menschen zum Nudelessen zu bewegen. So zumindest die Legende. Zur Illustration stehen einige Grundzutaten des Gerichts auf dem Tisch.

Was folgt, ist leider nicht wirklich ein Pad Thai, denn bei Chef Pam wird das »Nationalgericht« gewissermaßen dekonstruiert: Eine Rayong-Garnele ist mit einer Paste aus eingelegtem Rettich, getrockneten Garnelen und Tamarinde belegt, und in Reisbandnudeln mit den Farben der thailändischen Nationalflagge güllt. Bei diesem Gang handelt es sich um ein oft fotografiertes »Signature dish« des Hauses, und dank der Qualität der saftigen Garnele mit säuerlich-pikanter Würzpaste schmeckt es »gut«. Die Nudeln wirken da fast störend. Ein handwerklich exzellentes Pad Thai in Originalversion wäre hier wesentlich befriedigender.
Hervorragend ist dafür eine Tasse mit Garnelensuppe, eine intensiv eingekochte, würzige Essenz, die von sorgfältigem chinesischem Handwerk zeugt.
Trotzdem bräuchte ich nun langsam etwas Substantielleres auf dem Teller.

Diese Hoffnung erfüllt sich mit dem nächsten Gang. Was zunächst aussieht wie eine große, gefüllte Morchel erweist sich als gewaltige Morchelscheibe, die schwarze und weiße Eiernudeln (»Yin-Yang-Noodles«) bedeckt, dazwischen Eigelb und geraspelte Schrimps, drumherum eine sämige Schweinefleischbrühe. Das schmeckt ohne Umschweife grandios: eine Mischung aus erdigen Pilzaromen, feiner Jodigkeit und dem süffigen Umami der Brühe, alles getragen von den hervorragend gearbeiteten Nudeln.
Dieses Gericht mutet sehr chinesisch an, und speziell in der fabelhaften Brühe zeigt sich einmal mehr, dass man massive eurozentrische Scheuklappen tragen muss, um derlei Handwerkskunst nur mit Frankreich oder Italien zu assoziieren. Man sollte nicht vergessen, dass die chinesische Küche nicht nur bei der Verfeinerung von Nudeln und Fonds sehr viel früher dran war, als die Europäer.

Ganz ähnlich verhält es sich beim Fischgang. »Mikan-dai«, chinesische Rotbrasse, wurde gedämpft, eine in China sehr verbreitete Garmethode für Edelfische. Das schneeweiße Filet ist auf einer Creme aus Kapi angerichtet, einer traditionellen thailändischen Garnelenpaste. Als Europäer könnte man diesen Teller rein optisch für »französisch« halten, dabei ist alles daran thailändisch-chinesisch, bis hin zum knusprig frittierten Lauch obenauf. Geschmacklich oszilliert das zwischen der Feingliedrigkeit des nussigen Fischs und der subtilen Intensität der zwischen Jodigkeit und Umami changierenden Creme. Sehr gut. (Eine deutlich rustikalere – und letztlich auch bessere – Version dieses Gerichts werde ich zwei Tage später auf einer Straße in Chinatown essen)
Die Atmosphäre im voll besetzten Restaurant ist lebhaft, aber nicht wuselig, an den Tischen wird gelacht und geschlemmt, die Menschen haben Freude, insbesondere eine sehr joviale Amerikanerin am Nachbartisch. Bemerkenswert allerdings, dass keineswegs nur westliche Touristen an den Tischen sitzen: bei mindestens der Hälfte der Gäste handelt es sich um Asiaten.

Der Hauptgang wird in klassischer Manier »Family Style« serviert. Diese Form der geteilten Freude verdeutlicht immer wieder die wesentlichen Unterschiede zwischen westlicher und asiatischer Esskultur: bei uns wird die Vereinzelung betont, hier in Asien das Gemeinschaftliche.
Im Mittelpunkt steht Ente. Das Zentrum bildet die goldbraun geröstete, in Scheiben geschnittene Brust, mit appetitlich glänzender, knuspriger Haut und zartem Fleisch. Daneben liegen Würfel von butterweich geschmortem, gepresstem und gegrilltem Keulenfleisch mit »Five Spices«-Würze – das Highlight des Ensembles. Außerdem prangt auf dem Servierbrett ein ganzer Entenkopf, aus dem man das gebratene Entenhirn löffeln soll. Der Eigengeschmack der cremigen Innerei ist nicht auszumachen, das Gehirn gewinnt vor allem durch eine pikante Würzmischung an Aroma.
Das ist natürlich noch nicht alles …

… In verschiedenen Schalen und Schüsseln finden sich pikante und süßsäuerliche Saucen und Dips, dazu gewürzter Reis und Gemüsezubereitungen: gegrillte, sehr aromatische Aubergine von buttrigem Schmelz, gebeizter und eingelegter Kohl, bissfest gedämpfte, marinierte Stiele von chinesischem Brokkoli, die Blätter knusprig frittiert. Man weiss gar nicht, wo man anfangen soll. Die Vielfalt ist eine Freude, alles schmeckt sehr gut, wenn auch nicht spektakulär, und am Ende ist alles weggeputzt.

Als Pre-Dessert wird auf einem gewaltigen Eisblock eine Kreation von marinierter und geeister Salak aufgetischt, auch »Schlangenfrucht« genannt, tatsächlich aber die Frucht der Salakpalme. Ihr Geschmack ist süßsäuerlich und erinnert an Litschi und Ananas. Sehr schön.

Das Hauptdessert rankt um Mais. Ein »falscher« Maiskolben besteht aus einer zarten Mais-Mousse mit knackenden Blättern aus weißer Schokolade, dazu gibt es eine cremige Sauce auf Maisbasis sowie ein Milch-Honigeis mit Popcorn-Streuseln. Mais ist aufgrund seiner natürlich Süße für eine Verwendung im Dessertbereich prädestiniert. Die hier servierte Variation schmeckt ansprechend und gefällig, aber auch etwas brav und zu süß. In Summe ist das solide, wenngleich das Potential des Gemüses nicht ausgereizt wird.

Die Petits fours haben thailändisch-chinesische Straßendesserts als Leitmotiv, wobei mir die Kenntnis der Originale fehlt. Die gar nicht so kleinen Kleinigkeiten bestehen aus Mandarine und Orange, Longan mit Taro, Süßkartoffel mit Ingwer, einem Tapioka-Fruchtgummi sowie einer Praline aus Ginkgonuss mit Milch. Alles sehr gut, vielleicht eine Spur zu klebrig-süß, was kulturellen Vorlieben geschuldet sein dürfte.

So geht ein durchaus interessantes Menü zu Ende, das allerdings unter dem Gewicht des »Storytellings« ächzte, wobei der Minimalismus vieler Kreationen in Kontrast zu den ausufernden Geschichten steht. Hier fehlt mir, außer bei der Ente, die Opulenz, die man mit einem chinesisch-thailändischen Festmahl verbindet. Am Ende, so der Eindruck, will Chef Pam dann doch der internationalen Klientel entgegen kommen. Insbesondere die verschiedenen »Stationen« und Produktpräsentationen entsprechen den vermeintlichen Konventionen westlicher Spitzenrestaurants. Man fragt sich, wozu.
Verschiedentlich hörte ich im Vorfeld vom ›Potong‹ als »bestem Restaurant Bangkoks«. Das ist es ganz sicher nicht. Dazu müsste der Fokus auf weniger Geschichten und mehr authentischer Kulinarik liegen, auf Herausforderungen im positiven Sinne, sprich: als Horizonterweiterung. Stellenweise gelingt das bereits. Aber da ginge noch erheblich mehr. Letztlich ist das ‹Potong› ein Restaurant für all jene, die tagsüber in den Luxusmalls der Stadt unterwegs sind und abends »Chinatown« erleben wollen, sich an die rauen Garküchen aber nicht herantrauen.
Apropos: Morgen Abend werde ich in das Viertel zurückkehren, es gibt auf den Straßen noch jede Menge zu probieren – und zu lernen. Vielleicht ist es bis dahin ja etwas abgekühlt.
Kai Mihm