Restaurantkritik  3.Juli 2024

Potong: lange Geschichte

Es ist heiss in Bangkok, verdammt heiss. Nachmittags zeigt die App 36 Grad im Schatten an, die gefühlte Temperatur liegt noch ein paar Grad höher. Beim Streifzug zu den Garküchen von Chinatown werden wir im eigenen Saft weich gekocht. Kein Wunder, dass die Straßen nahezu menschenleer sind. Am Ende fällt die Hälfte der Tour wortwörtlich ins Wasser, weil wir zurück an den Hotelpool im ›Four Seasons‹ flüchten. Sehr bedauerlich, denn Bangkok ist mit Blick auf Streetfood die wahrscheinlich spannendste Metropole Südostasiens – vielfältiger als Hongkong und nicht so geleckt wie Singapur. Abseits der Touristenströme ist hier alles noch etwas rauer, und wenngleich die Regierung in den letzten Jahren für mehr »Ordnung« gesorgt hat, sind Bangkoks Garküchen eher nichts für Gourmetspießer.

Ich selbst bin seit jeher der festen Überzeugung, dass man ohne tiefgreifende Kenntnis der Streetfood-Kultur auch die »gehobenen« asiatischen Länderküchen nicht wirklich begreifen kann. Davon abgesehen schmeckt es in Südostasien auf der Straße oftmals wesentlich besser, als in den Sternerestaurants. Trotzdem haben wir in einem solchen für heute reserviert, da kommen wir – noch – nicht aus unserer Haut...

Also sind wir am Abend per Shuttleboot erneut unterwegs nach Chinatown. Die Hitze drückt noch immer, aber zumindest der Fahrtwind spendet minimale Abkühlung. Unser Ziel ist das Restaurant ›Potong‹. Es gehört Pichaya »Pam« Soontornyanakij, einer thailändisch-chinesischen Köchin, die zu den prominentesten Stars der Bangkoker Gastroszene gehört.

»Chef Pam«, wie sie überall genannt wird, kommt aus einer gut situierten Familie und lernte das Küchenhandwerk unter anderem bei Jean-Georges Vongerichten in New York – für manchen mag diese frankophile Prägung ein gutes Zeichen sein, mich macht sie in diesem Fall eher skeptisch. 2021 eröffnete sie das ›Potong‹ im historischen Wohnhaus ihrer Vorfahren. Im Erdgeschoss befand sich einst die familiäre Apotheke für traditionelle chinesische Medizin.

Hier beginnt auch der Abend für die Gäste. Man sitzt an Tischvitrinen mit Familien-Memorabilia und schaut auf eine Theke mit allerlei Einmachgläsern und Apothekerutensilien. Zu einem Glas hausgemachtem Kombucha, der nicht uninteressant schmeckt, erzählt eine Kellnerin etwas über die Historie des Hauses und dessen aufwändigen Umbau zu einem Restaurant.

Auch sonst erfährt man über die familiären Bezüge im Lauf des Abends noch, viel, sehr viel. Dieser geschickt vermarktete persönliche Bezug dürfte dazu beigetragen haben, dass sogar die Süddeutsche Zeitung ausführlich über das ›Potong‹ berichtet hat – »Storytelling« zieht noch immer.

Es dauert recht lange, bis man zur nächsten »Station« des Abends gebeten wird, wo es hoffentlich auch etwas richtiges zu trinken und eine Kleinigkeit zu essen gibt. Per Aufzug geht es ins vierte Stockwerk – eigentlich, denn in dem winzigen Fahrstuhl finden maximal zwei Personen Platz; wir sind dritt, also nehme ich die Treppe. Auf dem steilen Weg nach oben sehe ich das gesamte Restaurant, was eher nicht der vorgesehenen Dramaturgie entsprechen dürfte. Bedeutend ist das nicht, aber irgendwie bezeichnend.

Oben angekommen erwartet uns hinter einem weiteren Tresen eine junge Dame mit hausgemachter »Charcuterie«. Die französische Umschreibung ist charmant, aber auch amüsant, denn …

… die drei Scheibchen muten optisch und geschmacklich eher spanisch an: zwei Sorten roher Schinken sind von feinem Geschmack, einer davon mit ausgeprägtem Fettrand, außerdem eine ebenfalls fettreiche, leicht pikante Wurst. Zu jedem Stück gibt es einen passenden Cracker, nussig und säuerlich zum Schinken, eher neutral zur würzigen Wurst. Eine schöne Idee, hübsch umgesetzt.
Dazu serviert man einen leichten thailändischen Weißwein, der entfernt an Grauburgunder erinnert. Man muss sich das Getränk gut einteilen, bis man schlussendlich abgeholt und zum Tisch geleitet wird. Das richtige Timing ist eine nur selten gemeisterte Herausforderung in Restaurants mit verschiedenen »Stationen«.

Die Gasträume erstrecken sich über zwei Etagen des schmalen, verwinkelten Altbaus; das Interieur ist in einem vornehmen chinesischen Stil gestaltet, mit viel dunklem Holz, Wandtapeten und gedämpftem Licht. Ein wenig kulissenhaft, aber atmosphärisch. Bei unserem Eintreffen sind wir nahezu die einzigen Gäste, aber das wird sich sehr schnell ändern. Die Weinkarte ist, sagen wir: ausbaufähig, am Ende fällt die Wahl auf das Pairing, das dürfte in jedem Fall »spannender« sein.

Am Tisch wird zunächst ein Zweierlei vom Schwarzfederhuhn serviert: eine heiße, dichte Brühe und eine filigran gearbeitete Tartelette mit Hühnerfleisch und chinesischen Kräutern, die allerdings weniger markant schmeckt, als erwartet. Trotzdem sehr gut.

Vor dem nächsten Gang, der Banane zum Thema hat, werden die rohen Segmente der Frucht auf den Tisch gestellt: Frucht, Blüte, Stiel. Dazu ein kleines Comicbüchlein, das die Bedeutung der Banane in der thailändischen Esskultur verdeutlichen soll. Bemerkenswert ist, dass es diesen mehrseitigen Comic offenbar in verschiedenen Sprachen gibt, um jedem Gast das Verständnis zu erleichtern – die kleinen Übersetzungsfehler in den Sprechblasen sind dann auch das Charmanteste an diesem etwas forcierten Intermezzo. Wir würden jetzt einfach gerne etwas essen.

Schlussendlich kommt das Gericht zur Geschichte auf den Tisch: Gegrilltes, mit Klebereis und Hühnerleber gefülltes Fruchtfleisch schmeck sehr vollmundig, überraschend leicht, und verbindet Röstaromen, Umami und Süße. Stark. Etwas gewöhnungsbedürftiger schmeckt eine Art Sandwich mit Parfait von Bananenblüte, Fischgarum und Dill – das changiert zwischen streng, spröde und lieblich, hallt aber gerade durch die aromatische »Fremdheit« länger nach. Auf einer rechteckigen Tartelette bedecken dünnen Scheiben vom Bananenstiel eine Mischung aus Erdnuss und Limette, was zu einem ansprechenden, sehr »thailändischen» Geschmacksbild zwischen Herzhaftigkeit und Süßsäuerlichem führt.

Nach einer weiteren kleinen Geschichte folgt unter dem Titel »Erinnerungen« eine Variation um Krabbe. Im Panzer einer Schlammkrabbe verbirgt sich eine köstliche, sehr pur schmeckende Emulsion vom Krabbenrogen und eine mehr als pikante Marmelade von Krabbe und schwarzem Pfeffer. Beides soll man mit Scheiben getoasteter Brioche essen, die mit Krabbenbutter zubereitet wurde. Aus dem separat servierten Scherenfleisch hat man ein (arg kleines) Krabbencurry zubereitet. Das ist alles nicht nur originell, sondern schmeckt in seiner süffigen Herzhaftigkeit auch ganz hervorragend.

Und noch ein lehrreiches Intermezzo in Form einer wortreichen Texttafel, diesmal zum Thema »Pad Thai«, ein Thai-Klassiker, den wohl jeder kennt, von dem aber die wenigsten wissen dürften, dass er aus der Küche chinesischer Immigranten entstand (Nudeln!) und während einer schweren Reis-Missernte in den 1940er-Jahren von staatlicher Seite »erfunden« wurde, um die Menschen zum Nudelessen zu bewegen. So zumindest die Legende. Zur Illustration stehen einige Grundzutaten eines Pad Thai auf dem Tisch.

Was folgt ist leider nicht wirklich ein Pad Thai, denn bei Chef Pam wird das »Nationalgericht« gewissermaßen dekonstruiert: Eine Rayong-Garnele ist mit einer Paste aus eingelegtem Rettich, getrockneten Garnelen und Tamarinde belegt, und in eine Reisnudel mit den Farben der thailändischen Flagge güllt. Dieses Gericht ist ein oft fotografiertes »Siganture dish« des Hauses, und dank der Qualität der saftigen Garnele und durch die säuerlich-pikante Würzpaste schmeckt es »gut«, dennoch wäre hier ein handwerklich exzellentes Pad Thai in Originalversion befriedigender. Hervorragend ist dafür eine Tasse mit Garnelensuppe, eine intensiv eingekochte, würzige Essenz, die von sorgfältigem Handwerk zeugt.

Trotzdem bräuchten wir langsam etwas Substantielleres auf dem Teller.

Diese Hoffnung erfüllt sich mit dem nächsten Gang. Was zunächst aussieht wie eine große, gefüllte Morchel erweist sich als gewaltige Morchelscheibe, die schwarze und weiße Eiernudeln (»Yin-Yang-Noodles«) bedeckt, dazwischen Eigelb und geraspelte Schrimps, drumherum eine sämige Schweinefleischbrühe. Das schmeckt ohne Umschweife grandios: eine Mischung aus erdigen Pilzaromen, feiner Jodigkeit und dem süffigen Umami der Brühe, alles getragen von den hervorragend gearbeiteten Nudeln.

Dieses Gericht mutet sehr chinesisch an, und speziell in der fabelhaften Brühe zeigt sich einmal mehr, dass man sehr eurozentrische Scheuklappen tragen muss, um derlei Handwerkskunst nur mit Frankreich oder Italien zu assoziieren. Man sollte nicht vergessen, dass die chinesische Küche nicht nur bei Nudeln und Fonds sehr viel früher dran war.

Ganz ähnlich verhält es sich beim Fischgang. »Mikan-dai«, chinesische Rotbrasse, wurde gedämpft, eine in China sehr verbreitete Garmethode für Edelfische. Das schneeweiße Filet ist auf einer Creme aus Kapi angerichtet, einer traditionellen thailändischen Garnelenpaste. Als Europäer könnte man diesen Teller rein optisch für »französisch« halten, dabei ist alles daran thailändisch-chinesisch, auch der knusprig frittierte Lauch obenauf. Geschmacklich ist das sehr feingliedrig, mit saftigem, delikat nussigem Fisch und einer ungewöhnlich zwischen fermentierter Jodigkeit und Umami changierenden Creme.

Die Atmosphäre im voll besetzten Restaurant ist lebhaft, aber nicht wuselig, an den Tischen wird gelacht und geschlemmt, die Menschen haben Freude. Bemerkenswert auch, dass keineswegs nur westliche Touristen an den Tischen sitzen, bei mindestens der Hälfte der Gäste handelt es sich um Asiaten.

Der Hauptgang wird in klassischer Manier »Family Style« serviert. Diese Form der geteilten Freude verdeutlicht immer wieder die wesentlichen Unterschiede zwischen westlicher und asiatischer Esskultur: bei uns wird die Vereinzelung betont, dort das Gemeinschaftliche.

Im Mittelpunkt steht Ente. Das Zentrum bildet goldbraun geröstete, in Scheiben geschnittene Brust, die glänzende Haut krachend-knusprig, das rosa Fleisch kernig-zart und intensiv. Daneben liegen Würfel von butterweich geschmortem und gepresstem Keulenfleisch mit »Five Spices«, sowie ein ganzer Entenkopf mit gebratenem Entenhirn, das vor allem durch eine pikante Würzmischung Aroma gewinnt.

Das ist natürlich noch nicht alles …

… In verschiedenen Schalen und Schüsseln finden sich pikante und süßsäuerliche Saucen und Dips, dazu gewürzter Reis und Gemüsezubereitungen: gegrillte, sehr aromatische Aubergine von buttrigem Schmelz, gebeizter und eingelegter Kohl, bissfest gedämpfte, marinierte Stiele von chinesischem Brokkoli, die Blätter knusprig frittiert. Man weiss gar nicht, wo man anfangen soll. Die Vielfalt ist eine Freude, alles schmeckt ausgezeichnet und am Ende ist alles weggeputzt.

Als Pre-Dessert wird auf einem gewaltigen Eisblock eine Kreation von marinierter und geeister Salak aufgetischt, auch »Schlangenfrucht« genannt, tatsächlich aber die Frucht der Salakpalme. Ihr Geschmack ist süßsäuerlich und erinnert an Litschi, Erdbeere und Ananas. Sehr schön.

Das Hauptdessert rankt um Mais. Ein »falscher« Maiskolben besteht aus einer zarten Mais-Mousse mit knackenden Blättern aus weißer Schokolade, dazu gibt es eine cremige Sauce auf Maisbasis sowie ein Milch-Honigeis mit Popcorn-Streuseln. Im Grunde ist Mais aufgrund seiner natürlich Süße für eine Verwendung im Dessertbereich prädestiniert. Die hier servierte Variation schmeckt ansprechend und gefällig, aber auch etwas brav und zu süß. In Summe ist das solide, wenngleich das Potential des Gemüses nicht wirklich ausgereizt wird.

Die Petits fours haben thailändisch-chinesische Straßendesserts als Leitmotiv, wobei mir die Kenntnis der Originale fehlt. Die gar nicht so kleinen Kleinigkeiten bestehen aus Mandarine und Orange, Longan mit Taro, Süßkartoffel mit Ingwer, einem Tapioka-Fruchtgummi sowie einer Praline aus Ginkgonuss mit Milch. Alles sehr gut, vielleicht eine Spur zu klebrig-süß, was kulturellen Vorlieben geschuldet sein dürfte.

So geht ein in Summe spannendes Menü zu Ende, das stellenweise allerdings unter dem Gewicht des »Storytellings« ächzte und gerne noch kompromissloser klassisch hätte sein dürfen. Uns fehlte, außer bei der Ente, auch die Opulenz, die man mit einem chinesischen oder thailändischen Festmahl verbindet. Der Minimalismus vieler Kreatione steht in einem gewissen Kontrast zu den aufwändigen Geschichten vorweg. Ein bisschen, so der Eindruck, will Chef Pam dann doch der internationalen Klientel entgegen kommen; die Stationen und Produktinszenierungen sollen den vermeintlichen Konventionen westlicher Spitzenrestaurants entsprechen. Man fragt sich, wozu.

Verschiedentlich hörten wir im Vorfeld vom ›Potong‹ als »bestem Restaurant Bangkoks«. Das ist es ganz sicher nicht. Dazu müsste der Fokus auf weniger Geschichten und noch mehr authentischer Kulinarik liegen, auf Herausforderung im positiven Sinne, sprich: als Horizonterweiterung. Stellenweise gelingt das bereits. Das ›Potong‹ bietet interessante Perspektiven und macht Lust auf Entdeckungen. Apropos: Morgen Mittag kommen wir zurück nach Chinatown, es gibt auf den Straßen noch viel zu probieren. Vielleicht ist es bis dahin ja etwas abgekühlt.

Kai Mihm

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