Pas Mus – Pures Litauen
Nicht mal zwanzig Meter entfernt von unserem edlen Stadthotel „Narutis“ liegt die nächste und letzte Station auf der Fressreise durch Litauens Hauptstadt: das „Pas Mus“. Für Chefköchin Vita Bartininkaitė war der diesjährige, erste Stern eine absolute Überraschung. Sie selbst sah ihr Restaurant und ihre Küche immer als Außenseiter nicht nur der gastronomisch-touristischen Landschaft der Stadt, sondern auch unter den Einheimischen.
Woran das liegt, ist mir beim Betreten des Restaurants vorerst ein Rätsel. Der fast nur durch Kerzen illuminierte, von dunklem Holz und ausladenden Tresen dominierte Raum hat eine einladende, beruhigende Stimmung, die Begrüßung durch Sommelière Monika Apčinikovaitė und das gesamte Team ist herzlich. Wäre da nicht die konzentrierte, nahezu stumme Vorbereitungsarbeit in der offenen Küche, würde man sich eher wie in einem Wohnzimmer als einem Fine-Dining-Lokal fühlen. Der Name „Pas Mus“ – zu Deutsch: „bei uns“ – ist treffend gewählt; ich fühle mich als Teil eines gemeinsamen Abends, nicht als singulärer Gast am Tresen.
Über die Laufbahn der einzigen weiblichen litauischen Sterneköchin findet man indes fast nichts. Die einzige Station, die ich ausmachen konnte, war eine ungewisse Zeit im Kopenhagener „Geranium“. Ihr eigenes Restaurant eröffnete Bartininkaitė im Herbst 2022 – wie fast alle modernen Lokalitäten Vilnius‘ ist also auch das „Pas Mus“ noch recht jung.
Das Menü selbst verschreibt sich dem Carte-blanche-Prinzip: Es gibt keine À-la-carte-Auswahl oder niedergeschriebene Speisefolge, die Gerichte variieren täglich. Ähnlich wie in allen anderen Sternerestaurants, die ich hier besuchte, verschreibt sich auch das „Pas Mus“ den Produkten der regionalen Saison, der Natur und den Bauern Litauens. Man mag meinen, dass sich die hiesigen Köche gegenseitig auf die Finger und in die Küchenkonzepte schauen; kosmopolitische Genre-Küche im Stile der Haute- oder Grande Cuisine findet man in der litauischen Spitzengastronomie nicht. Eine Antwort auf die doch eher deftige Hausmannskost, mit der man das Baltikum im Gemeinen verbindet? Und was unterscheidet nun das „Pas Mus“ von den drei anderen Mitbesternten, die im scheinbar gleichen kulinarischen Fahrwasser schwimmen? Finden wir es heraus, denn die ersten Happen stehen bereits vor uns …
Eine Auswahl selbst fermentierter Gemüse- Obststücke stimmt auf das Menü ein. Von 12 Uhr im Uhrzeigersinn gibt es: süßlich marinierte Gurke mit säuerlicher Holunderblüte – mein Favorit –, ein in Limettenmarinade marinierter Apfel, gesalzene Erdbeere mit fermentierten Rosenblättern, fermentierter weißer Spargel, Stachelbeeren, Bohnen und zuletzt eine hervorragende unreife Tomate, die nach Fermentation über Holzkohle gegrillt und ausgepresst wurde. Eine puristisch inszenierte Werkschau der Natur.
Eine cremige Auster von hervorragender, nicht allzu jodiger Qualität und nur dezent gekühlter Temperatur mit dem Saft von unreifer, schwarzer Johannisbeere und eingelegten Tannensprossen macht dann so richtig Appetit.
Bei einer Art (Roggen-)Brotzeit mit Radieschen, warmer Nussbutter und Sauerrahm mit Bärlauch-Öl denke ich an den Aufschrei zurück, als Micha Schäfer aus dem Berliner „Nobelhart & Schmutzig“ als einer der ersten deutschen Köche das Brot als eigenen Gang auf die Karte nahm. Wenn das Backwerk in seiner Qualität für sich stehen kann, war und ist das für mich kein Problem. Und hier funktioniert das prima: Das „Daujėnų duona“ ist litauisches Backkulturerbe und wird hier in jeder Gastronomie mit Stolz zu Tisch gebracht. Lauwarm, mit dezent „malziger“ Süße unter einer deftigen Kruste scheint die Teigkugel direkt aus dem Ofen an den Tresen zu kommen. Viel mehr hätte ich gar nicht gebraucht, freue mich jedoch über die gewärmte Butter mit einer Prise Maldon – simpel und köstlich.
Während wir das Brot verspeisen, kriecht uns der verführerische Duft von gebratenen Pilzen in die Nase, die direkt vor uns auf der Grillfläche gewendet werden. Die mit Pilzcreme abgeflämmten Pfifferlinge liegen auf einer Topinambur-Tartelette unter einem Kartoffelschaum, darüber wird geräucherter Käse und getrocknetes Eigelb – ähnlich einer Bottarga – gehobelt. Sehr vollmundig, herzhaft, fettig und opulent: Mal dominiert die Kartoffel, mal der Pilz, das Ei und der Käse verbinden dann regelmäßig zu einem rauchig-schmelzigen Ganzen. Sehr gut.
Direkt danach steht das einzige „Trademark“-Gericht des Restaurants, das früher mal eine Pizzeria war, vor mir: die Jakobsmuschel-Pizza. Die dicken Tranchen der rohen, gekühlten Muschel liegen auf einem mit einer Steinpilzemulsion bestrichenen Kartoffel-Crisp, darüber ist eine hausgemachte „Tamari“ – eine fermentierte Sojasauce, in diesem Fall aus den Ästen des Nesselbaums – gepinselt. Das ist mehr als nur optischer Showeffekt, sondern birgt sensorische Intelligenz: Beim ersten Bissen schaffen Schmelz und Knusper einen zuvorderst diffusen Eindruck, nach wenigen Sekunden verteilt sich dann der maritime, fein-nussige Geschmack der Muschel im gesamten Mundraum – und bleibt da auch eine Weile. Eine schöne Idee, wenngleich ich mich (ähnlich wie bei der Calamansi im „Džiaugsmas“) wundere, wie denn ein Produkt aus Hokkaido in den regional-saisonalen Ansatz dieses Restaurants passt.
70 Tage wurde das Rind des Tartars ge-aged, bevor es – abgeschmeckt mit etwas hausgemachter Zwiebel-Shoyu – an den Tresen kommt. Besonders spannend ist die gealterte, gesalzene und enorm „deftige“ Butter, die der Süße der karamellisierten Brioche schmeichelt. Da hat es das Fleisch recht schwer, besonders deshalb, weil – ganz simpel – eine Prise Salz fehlt. Wir fragen entsprechend nach, geben eine Messerspitze dazu – und schon harmoniert das Trio deutlich besser.
Als simpler „Palate Cleaner” annonciert haut mich die grüne Fleischtomate mit Spargeleis komplett vom Tresenhocker. Das dezent salzige, frische, cremige Eis mischt sich wie gelernt mit der dichten, intensiven Süße der wunderschön marmorierten Tomate. Schließe ich die Augen, stehe ich am georgischen Straßenrand auf dem Weg zum Kaukasus und vertilge die beste kachetische Fleischtomate meines Lebens. Die Verhältnisse stimmen genauso wie die Kombination aus Eiskühle und leichter Wärme des Paradeisers. Liebe Granité-Fans: So geht Papillenreinigung!
Die Hauptspeisen-Vorbereitungen sind derweil in vollem Gange, und nach wenigen Minuten steht die in Heu geräucherte, dann gegrillte Entenbrust mit eingelegten Stachelbeeren vor uns. Passend zu den letzten Gängen gibt sich auch die Fleischspeise des Tages eher reduziert. Garpunkt und Geschmack sind einwandfrei, wenngleich ich mir einen etwas intensiveren Bräunungsgrad – besonders auf der Hautseite – gewünscht hätte; so hat der Biss an manchen Stellen etwas ungewohnt „kauiges“. Auch ein scharfes Messer wäre hilfreich. Die Jus ist dicht gebunden, aber geschmacklich nicht sonderlich intensiv, am interessantesten sind nur noch die kleinen, runden Stachelbeeren, die mich kurioserweise an eine Sauerkraut-Beilage erinnern. Nach den vorherigen Tellern leidet dieser unter dem eigenen Minimalismus-Anspruch, der nicht viel Spielraum für Fehler zulässt.
Wir gehen über zu den Nachspeisen: Ein unscheinbares Shaved Ice von der Kirsche liegt auf fermentierten Rosenblättern, Sauercreme und Ganache von weißer Schokolade. Cremig, kühl, immer zwischen sauer und leicht süßlich changierend; wunderbar.
Ein Mus von den Zweigen des Nesselbaums mit karamellisierten Pflaumen und Datteln sowie einer Weintrauben-Sauce ist der cremige Abschluss des heutigen Tresenabends. Die Früchte obenauf bergen eine deutlich spürbare „vergorene“ Note, die durch die fluffig-süße Creme prima aufgefangen wird. Je nach Löffel überwiegt mal die traubige, mal die milchige Seite dieser in Summe sehr cremigen Nachspeise, bei der ich mir lediglich etwas texturelle Abwechslung – zum Beispiel Cerealien, Nüsse, oder Keksartiges – gewünscht hätte.
Wir lassen uns noch einen Schluck aus der sorgsam kuratierten (Natur-)Weinkarte von Sommelière Monika Apčinikovaitė (2.v.r.) nachschenken. Der konzentrierte Fokus der Küche vor uns ist nunmehr einer fast schon ausgelassenen Feierabend-Stimmung gewichen. Man merkt, dass das kleine Team – hier arbeiten insgesamt vier junge Menschen – in sich hervorragend harmoniert.
Von allen Menüs, die ich in den wenigen Tagen in Vilnius verspeisen durfte, war das von Vita Bartininkaitė (links) das wohl einzigartigste. Die Gerichte versteckten sich nicht hinter extravaganten Optiken, Beilagen oder Geschichten; Purismus, Ablenkungsfreiheit und der fehlende doppelte Boden sind die Grundprinzipien dieser Küche, die ich genau deshalb als die anspruchsvollste der Stadt herausstellen möchte – das könnte es sein, was Bartininkaitė eingangs als „Außenseiter-Rolle“ beschrieb. Die Vorstellungen von „Fine Dining“ sind so verschieden, wie es Köche gibt, und nicht jeder Gast wird sich auf die reduzierte, mit Fermentation und anderen Haltbarmachungs-Techniken spielende Küche Bartininkaitės einlassen wollen.
Mich jedoch begeisterte das, was hier auf dem Tresen kam, über die allermeiste Zeit. Lassen wir den Verdruss über eine ernüchternde Hauptspeise mal außen vor, dann darf man sich von vorne bis hinten bestens verköstigt wissen von einer süßlich eingelegten Gurke, einem verführerischen Brot mit wärmender Butter, schmelzigen Jakobsmuscheln und deftigen Pilz-Kartoffelharmonien bis zur fast schon stupide-sensationellen Kombination aus Tomate und Spargeleis. Das „Pas Mus“ ist eine besondere, weil puristische und deshalb mutige Bereicherung für die litauische Hauptstadt.
Chris Lippert