Restaurantkritik 20.November 2024

Orsini – Auferstehung

»Einmal ums Haus herum«, lautet die Wegbeschreibung der freundlichen Hotelmitarbeiterin, als ich im Zürcher Mandarin Oriental Savoy den Eingang zum Restaurant ›Orsini‹ suche. Dass das Gourmetrestaurant eines Luxushotels sich nicht im, sondern hinter dem Haus befindet, ist bemerkenswert – und mir sofort sympathisch, denn es verleiht dem Lokal einen autarken Charakter. Tatsächlich gehört das ›Orsini‹ seit jeher zum Mitte des 19. Jahrhunderts eröffneten Traditionshaus Savoy. Mit amüsiertem Erstaunen finde ich bei meiner Hintergrundrecherche heraus, dass es nach einem italienischen Revolutionär benannt ist. Das hat in diesem feudal anmutenden Umfeld fast etwas Subversives.

Als »Edelitaliener« war das Restaurant lange Zeit eine Institution der Zürcher Gastroszene, zuletzt wohl etwas angestaubt. Doch mit der Wiedereröffnung des Savoy durch die Mandarin Oriental Hotelgruppe im Jahr 2023 wurde auch dem ›Orsini‹ neues Leben eingehaucht: als Berater fungiert Antonio Guida, dessen Küche im zweifach besternten Mailänder ›Seta‹ mir diesen Sommer außerordentlich gut gefiel – genau das machte mich nun neugierig auf einen Besuch in Zürich. Mit Dario Moresco leitet hier ein langjähriger Mitarbeiter Guidas die Küche.

Ich gehe also um das Hotel herum und betrete das Restaurant durch ein schmiedeeisernes Portal über einen schmalen Hinterhof. Das könnte tatsächlich auch ein versteckter Geheimtipp-Italiener sein.

Die Innengestaltung ist auf zurückhaltende Weise elegant, mit behaglichen Brauntönen, viel Holz und samtigen Polsterbänken. Das ist alles nicht sonderlich markant, aber in seiner »Wärme« durchaus angenehm. Ein bisschen Patina wird dem Ganzen gut tun.

Die junge Servicecrew agiert zunächst so formell, wie ich das aus Spitzenrestaurants in Italien kenne; es ist immer wieder verblüffend, wie man dadurch auch selbst gleich etwas angespannter agiert. Glücklicherweise taut unser Kellner nach ein paar freundlichen Sätzen auf (schließlich muss auch eine Servicecrew erst einmal einschätzen, mit welcher Sorte Gast man es zu tun hat), und die Förmlichkeit weicht einer nonchalanten, aber nicht distanzlosen Herzlichkeit.

Das Restaurant ist bei unserer Ankunft um Punkt zwölf Uhr noch komplett leer und wird an diesem Mittag auch nur spärlich besucht bleiben, was angesichts der Historie des Hauses und der vergleichsweise moderaten Preisgestaltung (sechs Gänge 165 CHF) etwas erstaunt. Sei's drum. Zur Wahl steht ein Menü mit Klassikern Antonio Guidas und ein Menü mit aktuellen Kreation des Teams, auf das meine Entscheidung fällt.

Mit einem Glas Champagner werden einige Snacks aufgetischt. Zum Auftakt erfrischt eine Scheibe roh marinierter Kohlrabi mit Wacholder und Rosmarinpulver den Gaumen – und verblüfft mit einer ebenso filigranen wie tiefgründigen Aromenwelt en miniature. Wow.

Weiter geht es mit einer kleinen Schale, in der sich Stückchen von Rosa Garnele finden, kombiniert mit Mousse von italienischer Bitterorange (»Chinotto«) und einem Sellerie-Gel. Den Zutaten nach klingt das recht streng. Umso bemerkenswerter, wie feingliedrig das Ganze zwischen Krustentier-Süße, feinherbem Sellerie und fruchtigen Bitternoten ausbalanciert ist. Stark. Nicht weniger elegant fällt ein hauchdünner Chip aus Kartoffel und Hühnerhaut aus, dessen Umami-Faktor von gehobelter Bresaola noch verstärkt wird.

Ein handwerklich exzellentes Beignet kontrastiert die dunklen Röstaromen des fluffigen Teigs mit pfeffrigen Kerbelblättchen und einer wunderbar frischen Füllung aus intensiver Basilikumcreme.
Konzeptionell identisch, aber aromatisch (und vom Teig her) ganz anders ist ein warmer Panzerotto mit frischer Tomatensauce und geriebenem Pecorino – eine wundervolle und vollmundige Referenz an den neapolitanischen Klassiker.

Dieser hervorragende Auftakt, so viel lässt sich schon jetzt festhalten, steht den ersten Häppchen im ›Seta‹ kaum nach.

Hatten die Apero-Snacks noch einen deutlich italienischen Einschlag, wird es beim Amuse Bouche internationaler: Kleine Kiwistücke wurden in Mezcal mariniert, was ihnen eine herbe Note verleiht, und sind in einer Apfel-Buttermilchsauce angerichtet, obenauf eine Nocke Sojaeis. Das klingt wild – und funktioniert verblüffend prächtig. Da ist fruchtige Frische, Säure und Schmelz, verbunden mit feinherben, »dunklen« und nussigen Aromen von knusprig gebratenem Wildreis und geröstetem Sesam. Wirklich einordnen lässt sich dieses überraschende Ensemble nicht, doch in seiner unorthodoxen Art schmeckt es so komplex wie köstlich.

Der erste offizielle Gang des Menüs erinnert rein optisch an typisch mitteleuropäische Sternerestaurant-Vorspeisen, sehr dekorativ und am liebsten mit Hamachi…
Hier nun sind die Ideen jedoch wohltuend anders. Man hat dünne Jakobsmuschelscheiben in Zitrusfrüchten mariniert und serviert sie mit einer leicht schaumigen Borretschsauce. Unter den Muschelscheiben kommt mit der ersten Gabel eine Creme von Büffelmozarella zum Vorschein, der die sattgrüne Kräutersauce, die Zitrusaromen und den Muschelgeschmack gewissermaßen zusammenführt. Knackige Radieschencheiben, Dillspitzen, Borretschblüten und frischer Abrieb von duftiger Sorrento-Zitrone runden das ungeheuer feine, zwischen Feld und Meer oszillierende Geschmacksbild ab. Alles bleibt leicht, hochelegant – und dennoch vollmundig. Beeindruckend.

Nun schiebt die Küche einen Extragang aus dem Klassikermenü ein: Ein Scampo (Kaisergranat) wurde lediglich auf einer Seite gebraten, was ihm eine besondere Textur irgendwo zwischen crudo und cotto verleiht. Für gewöhnlich bin ich kein Freund halbroher Krustentiere, doch hier funktioniert das sehr gut, weil der Kaisergranat nicht mehr schmierig-weich ist, sondern durch die Hitze genug Spannkraft gewonnen hat.
Dazu gibt es zwei Saucen, nämlich einen leichten Safranschaum und eine gesalzene Sabayone aus Marsala des sizilianischen Kult-Weinguts Marco de Bartoli. Allein das Zusammenspiel dieser beiden Emulsionen ist eine Wucht – das Würzig-Zartbittere des Safran und die feinherb-oxidativen Noten des Marsala greifen wie Puzzleteile ineinander, von denen man bislang gar nicht wusste, dass sie zusammengehören. Den Eigengeschmack des nussigen Scampo ergänzt das Duo perfekt, etwas Kaviar steuert subtile Salzigkeit bei, nur als Hauch. Das ist alles von einer Feingliedrigkeit, auf die man sich einlassen muss. So klar, so schlüssig – so perfekt. Eine Götterspeise.

Wir bleiben auf diesem Niveau. Haugemachte Spaghetti sind in einer Emulsion von Colatura di Alici angerichtet, der klassischen Sardellen-Würzsauce der Amalfitana. Bei dieser Kombination muss ich immer an die berühmten Kaviarspaghetti im Kopenhagener ‹Barabba› denken. Hier im ‹Orsini› übernehmen würziger Tintenfischlardo und eine Emulsion von Jakobsmuschelrogen die verfeinernde Rolle des Kaviar, das ist sogar noch subtiler. Auch die Nudeln sind feiner gearbeitet und eine Spur perfekter al dente gegart. Das Ganze erweist sich als sämiger, süffiger Hochgenuss, voller gaumenschmeichelndem Umami, aber nicht plump.
Ein neuerliche Beispiel, dass Pasta einen Ehrenplatz in der avancierten Küche verdient – und dass perfekte Simplizität keineswegs simpel ist.

Wie schön, dass das Menü gleich noch einen Pastagang vorsieht: Bottoni (Knöpfe), die typischen Teigtaschen der Emilia-Romagna, sind mit milder Wildkaninchenfarce gefüllt und sitzen in einem Saucen-Ying-Yang aus leicht süßlicher Karottencreme und zartbitterer Brennnesselemulsion. Auf jeder Nudel, und das ist ein wichtiges Detail, liegt entweder eine Scheibe hochintensiver Kaninchenniere oder fruchtiges Tomatenkerngehäuse – die daraus entstehenden Geschmacksverschiebungen sind verblüffend. Trotzdem bleibt mir das alles etwas zu gefällig. Aufgrund des souveränen Handwerks und des unkomplizierten Wohlgeschmacks ist das aber immer noch mehr als sehr gut.

Der erste Hauptgang besteht aus gegrilltem und glaciertem Hummerschwanz, saftig, zart und bemerkenswert aromatisch. Dazu serviert man eine kräftig abgeschmeckte Peperonata aus kalabresischer Senise-Paprika, bedeckt von einer dünnen Scheibe Paprika-Sellerie-Gelee. Dieser dezidiert italienische Hochgenuss wird von einer weich geschmorten Zwiebel abgerundet, die mit seidiger Burrata-Creme gefüllt ist. Zum Augenschließen gut. Einige Tupfer schwarzer Knoblauchcreme fallen zutatenmäßig aus dem Rahmen, fügen sich aromatisch aber bestens in das süßsäuerliche Geschmacksbild.

Die zarten Hummerscheren serviert man in einer Extraschale mit Grüner Gazpacho, frischen Gurkenkügelchen, salzig ploppendem Forellenkaviar und fruchtiger Fingerlimette – sowie einer fabelhaften, weil betont pikanten Eiscreme aus Rosa Pfeffer. Ein Highlight, nicht nur wegen der Eiscreme.

Kurz vorher wurde bereits der Hauptgang präsentiert: Eine im Ganzen geröstete, appetitanregend gebräunte und mit Bier glasierte Wachtel

Auf den Teller kommt die saftige Wachtelbrust, garniert mit einem Pilzragout und einer leichten Frikassee-Sauce. Das ist ein bisschen what-you-is-what-you-get, sprich: ohne große Überraschung, aber geschmacklich süffig-herbstlich und handwerklich sowie von den Produkten her absolut einwandfrei, und damit sehr gut.

Auf die Desserts bin ich besonders gespannt, denn hier zeichnet Andy Vorbusch verantwortlich, dessen Name Freunden avancierter Süßspeisen wohlbekannt sein dürfte. Für alle anderen: zu seinen Stationen gehören unter anderem das ‹Vendôme› und das ‹Memories›. Sein Pre-Dessert (kein Foto) besteht aus einer süßen Interpretation von Mozzarella Caprese, die den Vorspeisenklassiker aufs Köstlichste in die Pâtisserie überträgt.

Sodann folgt eine Ziegenkäsemousse, aromatisiert mit Bergamotte, angerichtet auf einem Teegelee aus English Breakfast, Earl Grey und Ceylon-Tee. Beim Anschneiden überrascht die Mousse-Kugel mit einer Füllung aus Apfelragout, Baiserstückchen und gesalzenem Bulgur. Eine Nocke Shiso-Eiscreme und diverse Kräuter fächern das reizvolle Spiel mit Süße, Bitterkeit, Salzigkeit und duftiger Frische noch weiter auf. Hier haben wir eines dieser seltenen Desserts, denen die Gratwanderung zwischen schmeichelnder Zugänglichkeit und smarter Kreativität gelingt. So souverän wie erwartet.

Auch die Petits Four überzeugen auf ganzer Linie, neben einer zart knackenden Schokoladenpraline und einem ätherischen Limoncello-Gelee begeistert mich ein sizilianischer Ricotta-Cannolo mit seiner perfekten Ausführung so sehr, dass ich um einen »Nachschlag« bitte. Das will angesichts meiner Messlatte bei dieser Süßspeise etwas heißen.

Das war eine Freude. Die stilistischen Parallelen zum ›Seta‹ sind unübersehbar, wobei ich den Eindruck habe, dass man hier in Zürich das »Italienische« der kreativen Herleitungen noch eine Spur mehr betont – was keineswegs als Kritik gemeint ist, im Gegenteil. Jeder Gang war stimmig, manche herausragend, einzelne etwas zu brav. Der kurz nach meinem Besuch verliehene Michelin-Stern ist jedenfalls vollkommen nachvollziehbar, und es wird spannend zu beobachten sein, was sich tut, wenn der junge Küchenchef noch mehr eigene Ideen einbringen kann. Mein Gefühl sagt mir, dass dies erst der Beginn der Auferstehung dieser Institution ist. Um im Sprachbild des Restaurantnamens zu bleiben: eine Palastrevolution findet hier im ›Orsini‹ nicht statt. Dafür darf man sich in den besten Momenten ein bisschen feudal fühlen.

Kai Mihm

Wein

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