Ocean – Die Welt zu Tisch
Da sich der Herbst seit einigen Tagen mit grautrüben Regenwolken und fröstelnden Nächten unmissverständlich über Berlin breitmacht, freue ich mich umso mehr, heute im Flieger nach Portugal zu sitzen. Doch nicht nur die milden Temperaturen und die frische Meeresluft an den Steilküsten der Algarve, sondern auch – nein, vor allem – das Essen in Hans Neuners zweifach besterntem „Ocean“ locken auf die iberische Halbinsel.
Wenige Autofahrstunden von Lissabon entfernt passiere ich die Tore des edlen „Vila Vita Parc“ Resorts, einer exklusiven wie ausladenden Hotelanlage in der kleinen Stadt Porches, direkt an der malerischen Atlantikküste. Zwölf Restaurants finden sich auf dem Gelände, darunter rustikale portugiesische Küche, Teppanyaki und marokkanische Grillkost. Das kulinarische Glanzlicht des Resorts ist allerdings das „Ocean“, in dem der Tiroler Hans Neuner seit 2007 in der „Cozinha“ steht.
Das Konzept des Restaurants könnte kosmopolitischer nicht sein: Jedes Jahr reisen Hans Neuner und sein Team in einen anderen Teil der Welt, erforschen die Küche und kreieren daraus ein neues Menü mitsamt passendem Geschirr. Nach einigen Monaten im (süd-)ostasiatischen Raum wird der Gast seit März dieses Jahres auf eine „Expedition durch Asien“ mitgenommen. Dieses Konzept steht nicht nur im kompletten Kontrast zum saisonal-regionalen Kochtrend Rest-Europas, sondern dürfte dem einen oder anderen Koch auch ein Tränchen in die Augen bringen: Ein erfolgreiches Restaurant zu führen und gleichzeitig die Freiheit zu genießen, die Welt zu bereisen und die Eindrücke in Gerichte zu verwandeln, ist Luxus.
Das reduzierte, in maritimen Farben gehaltene Interieur und das in Maßanzügen gekleidete Personal strahlt förmliche Eleganz aus, nichts lenkt ab vom Blickfang des Raumes: das bodentiefe Panoramafenster mit Aussicht auf den Atlantik, der sich bei meinem Besuch allerdings schon verdunkelt hat. Mit einem belebenden Gläschen 2024er Blanc de Blancs „Grand Cru“ von Michel Gonet werden dann auch schon die ersten Happen aufgetischt. Auf nach Asien!
Die Gerichte tragen jeweils Namen, hinter denen sich mancherlei Geschichte von der Reise verbirgt. Der erste Happen heißt „Erstflug bereits verspätet“ und repräsentiert das letzte, das der Chef aß, bevor er in den Flieger Richtung Asien stieg: den portugiesischen Klassiker Pastel de Nata. Der wird hier herzhaft interpretiert und mit Gänseleber und Mango gefüllt, obenauf etwas getoasteter Zimt; ein fein gearbeiteter, vollmundiger Einstieg, der durch seine Fruchtigkeit interessanterweise gar nicht so weit weg ist vom süßen Original. Die präsenten Portweinnoten passen darüberhinaus hervorragend zum Pairing (2007er Dalva White Port aus Douro).
Das nächste Dreierlei fasst unterschiedliche Facetten japanischer Küche zusammen: In einer Schale liegt ein Chawanmushi mit Myoga (die Blüten der des japanischen Ingwers), das die herzhaften Aromen von Miesmuscheln und Austern mit dem sanften Schmelz des gekonnt gegarten Eierstichs verbindet.
In Anlehnung an die berühmten Tuna-Versteigerungen auf dem Toyosu-Fischmarkt steht der nachgebaute, mit Thunfisch-Tartar gefüllte Pilz. Vollmundig, fleischig und umami-reich stört hier lediglich das oben aufgesiebte, sehr sandige Steinpilzpulver – ein Teil davon verabschiedet sich prompt auf die royalblaue Tischdecke. Das hätte ich mir im Gemenge des Innenlebens besser integriert vorgestellt.
Hinten rechts im Bild das wohl berühmteste japanische Street-Food aus der Kansai-Region: Üblicherweise beinhalten Takoyaki Tintenfischarme, hier gibt’s die vegetarische Luxus-Variante als „Kinokoyaki“, gefüllt mit einer herzhaft-heißen Champignon-Creme und Trüffeln obenauf – deftig und appetitanregend fühle ich mich auf die Straßen Osakas versetzt, wo ich mir mehr als einmal die Zunge an den heißgebackenen Bällchen verbrannte.
„Sensu“ sind die berühmten japanischen Handfächer, mit denen sich die in Nippon stets präsenten Geishas die nötige Luft unter die Make-up-Schichten wedeln. Gleichsam nutzt das Restaurant diese als dekorative Vorlage für den nächsten Gang. Links im Bild findet sich ein mit Wasabi-Eis und Roter Bete gefüllter Krokant-Fächer. Die deutliche Kühle lässt die bissige Schärfe und erdige Bete erst spät entfalten, das hält dann aber lange an. Eine einfache, aber wirkungsvolle Idee.
Lebende Garnelen in einem Meeresfrüchtesalat inspirierten nicht nur einst René Redzepi, sondern auch Hans Neuner zu einem Gericht, das er „Dancing Shrimps“ nennt (rechts). Gefüllt ist der cremige Ball mit einem Garnelen-Tartar, das durch die Hinzugabe von Kokosnuss und Kaffir-Limette geschmacklich Richtung Thailand dekliniert wird. Der gekühlte Kaviar obenauf ergänzt Komplexität, das kleine, hauchdünn gearbeitete Krokant etwas Textur. Ein wunderbar vielschichtiger, fein gearbeiteter Snack.
Die Darreichungsformen der Speisen geben sich mehr und mehr verspielt: Die Scheibe des hausgebackenen, ofenwarmen Sauerteigbrots wird begleitet von einem „Mahjong“-Butterstein auf dem das „中“-Kanji prangt, das sowohl in der chinesischen als auch japanischen Sprache für das „Innere“ steht. Passenderweise ist der essbare Stein mit 30-Jahre alter Soyasauce gefüllt.
Außer der Reihe schiebt Hans Neuner einen seiner Klassiker ein: Das Senfeis mit Austern, Kaviar und Küstenkräutern wird angereichert mit einer frischen Buttermilchemulsion. Das passt logischerweise nur bedingt ins bisherige asiatische Fahrwasser, ist aber isoliert betrachtet ein Gericht, das als Blaupause für die Region und den umgebenden Resort-Luxus verstanden werden kann: Die mit Kaviar versetzte, hochintensive Muschel-Kühle paart sich mit den stets präsenten, deutlichen Senfnoten zu einer üppigen Meeresaromen-Melange, die durch die bissig-jodigen Kräuter – darunter Seekoriander und -Rosmarin – und die Laktosesäure hier und da schnittig gebrochen wird. Wunderbar!
Als mediterran-japanische Fusion verstehe ich die marinierten Stücke der Makrele mit Reisessig und Tomatenreis, dazu gefrorene, mandelförmige Stücken von Ajo Blanco. Dem „Saba“ ähnlich ist der Fisch nur dezent gesäuert, saftig und sehr deutlich „fischig“. Die Gazpacho-ähnliche, leicht süßliche Creme in der „Mandel“ elaboriert das Gericht dann mittels der nötigen Portion Komplexität; es macht Spaß, sich Kombinationen aus unterschiedlichen Schnittgrößen des Fisches und der Beilagen zu „bauen“ und damit die verschiedenen Aspekte des Tellers zu erkunden.
Ganz ohne Geschirrnovitäten kommt aber auch dieser Gang nicht aus: À-part liegt auf einem den weltweit bekannten Minerva-Makrelenbüchsen nachempfunden Etiketten-Fächer eine mit Makrelenschaum gefüllte Knusperrolle. Die Küche empfiehlt, hier und da mal von ihr abzubeißen – das tut dem Gericht allerdings gar nicht gut: Zu derbe, zu salzig und zu „mehlig“ wollen die drei Welten – Japan, Spanien und Portugal – hier nicht zueinander finden. Ich lasse die Rolle nach wenigen Bissen liegen und erfreue mich am Hauptteller, der dank des kleinen Fischrogens auf den Makrelenstücken hier und da sehr feine sensorische Kicks erfährt.
Die über drei Kilo (!) schweren Lotusblumen aus Porzellan werden in Österreich gefertigt, darin liegt eine kleine, unscheinbare Schale mit Königskrabbe und Ponzu-Hollandaise unter einem „Dach“ aus Forellenrogen. Und das schmeckt unverschämt gut: Bereits nach dem ersten – aus diesem Keramikkonstrukt etwas beschwerlich zu erreichenden – Happen macht sich am Gaumen schlagartig eine wohltuende Süffigkeit breit. Das saftige, gezupfte Krabbenfleisch und die fettige, umamireiche Ponzu-Hollandaise bringen ein initiales, äußerst befriedigendes „Lobster Roll“-Feeling. Doch vom Fett nicht genug, es gesellen sich außerdem klar wahrnehmbare Nussbutter-Aromen dazu; vereinzelte Zitrus-Säurekicks sowie die in Dashi marinierten Fischeier lassen zu keinem Zeitpunkt Langeweile aufkommen. Meine Notizen zu diesem Gericht starten mit nicht weniger als einem „ALTER!!!!“ – das lasse ich mal so stehen.
Wir reisen zurück nach Japan: Ein Tempura-Kaisergranat liegt auf zwei Scheiben Nashi-Birne sowie Kokosnuss-Yuzu-Schaum, angegossen wird eine reichhaltige, heiße Sauce von Kaisergranat und – ebenfalls – Yuzu. Ich weiß nicht, ob mir die asiatische Birne jemals außerhalb eines Desserts vor die Papillen gekommen ist. Verwunderlich, denn ihr dominanter Biss und die Saftigkeit passen hervorragend zum glasigen, weichen und heißfrittierten Hummer. Der Teig des letzteren ist hauchzart und eher als dünne Hülle und weniger als „Crunch“ zu verstehen – anders als es zum Beispiel beim Wasabi-Kaisergranat von Tim Raue der Fall ist. Ein sehr fokussiertes, reduziertes Gericht, das den Hummer mit pointierten Frucht- und Säureakzenten sowie cremiger Hitze gekonnt in den Mittelpunkt rückt.
Die Geschichte um das nächste Gericht ist manchem hier mitlesenden Fresser-Kollegen sicher nicht unbekannt: Chef Hans Neuner war etwas spät dran zu seiner nächsten Reservierung in Tokyo, woraufhin er den Taxifahrer bat, ein bisschen Gas zu geben. Der verneinte mit einem simplen wie cineastisch referenziellen „No Tokyo Drift!“. Das Gericht selbst dagegen strahlt erfreulicherweise mehr Ruhe aus: Eine Scheibe Wolfsbarsch wird getoppt von feinen, geschmacklich kurioserweise an Wirsing erinnernden Kombu-Algen. Darauf liegen zwei hauchfein gearbeitete Hummer-Gyoza in Tortellini-Form. Der Fisch-Hummer-Puk schwimmt in einer säuerlich-süßen, sehr dichten Beurre blanc, eine simple Brokkoli-Quenelle bringt etwas Gemüse in das schlotzige Ganze. Sehr klassisch, unverkopft, wunderbar gearbeitet – und gerade nach den unorthodoxen Gerichten zuvor ein Ruhepol im Menü.
… die Ruhe vor dem Sturm, möchte man meinen, denn mit „Eine Nacht in Bangkok“ wird energisch am Aromen-Poti geschraubt. Inspiriert von Nächten mit Thailändischem Street Food schwimmen dicke Tranchen des Carabinero in einem schaumigen, säuerlichen Pool von Kohlrabi und Kampot-Pfeffer. Dazwischen – für den Biss – verstecken sich kleine Stückchen vom getrockneten Sepia. Beim Sud muss ich aufpassen: Der Pfeffer ist reichhaltig dosiert und erinnert mich in seiner intensiven Schärfe an Szechuan; damit wurde ja bereits so manches Gericht kaputtdosiert. Ich passe auf und erfreue mich an der schieren Qualität der Riesengarnele – nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Als Inspiration für den Hauptgang steht Kimchi, das Sauerkraut der Koreaner. Eine rosa gegarte Renard Rouge Wachtelbrust mitsamt -Jus, dazu frittierte (Shiso-)Blätter, Kimchi-Creme und eine hauchfein gearbeitete Mille-feuille von Kohl und Rüben. Der vakuumgegarte Vogel ist zart wie intensiv und wird durch seine dicht gebundene Sauce aromatisch präzise eingeklammert. Auch die feinen, scharf-bissigen Kimchi-Akzente der Creme funktionieren prima. Lediglich die kleinen Stücke vom Kohl-Fächer ziehen am Rest des Tellers auf der Schärfe-Überholspur vorbei.
In der Schale à-part – in ihrer Form eine Miniatur-Version der großen Kübel, in denen in Korea üblicherweise der Kohl vor sich herfermentiert – liegt ein leichtes Wachtel-Kimchi-Wässerchen, Tofu und Wachtel-Dumplings, die dem feurigen Hauptteller mit ihren eher leisen Aromen entgegenstehen. In Summe ein sehr spannendes Hautpgericht mit vielen Kombinationsmöglichkeiten, sodass man sich wunderbar "hineinfressen" kann.
Für die Nachspeisen werde ich zum Chef’s Table am Pass geführt, wo mir Patissière Celestina Bengui sogleich ein kunstvolles Pre-Dessert serviert: Der süßlich gefüllte „Glückskeks“ birgt nicht nur Wahrheit („Love is the only true adventure“), sondern außerdem seidige Schokocreme. Rechts daneben ein kühlendes Schälchen mit Brot-Miso, Kakaofruchtmuss und -Fruchtsaft, Kokos, Orange und Ingwer, dazu ein Stachelbeeren-Sorbet und ein Krokant obenauf, in seiner Form passend zum derzeitigen chinesischen „Jahr des Drachens“. Darauf wird noch ein kühlendes Popcorn aus Kokos und Kakaofruchtsaft gelöffelt. Starten soll ich allerdings mit einem Shot von Kalamansi-Essig und Mandarine (rechts außen).
Noch nie war die Bezeichnung „Pre-Dessert“ ein derartiges Understatement, wäre dieser Reigen doch woanders ein ganzes Nachspeise-Menü. Da allerdings zu jeder Zeit Zitrusaromen und kühle Frucht dominieren, werde ich nicht erschlagen, sondern tatsächlich: erfrischt.
Die kulinarische Expedition endet da, wo sie anfing: in Portugal. Im 18. Jahrhundert war Königin Maria I. derart glücklich über einen männlichen Sohn, dass sie das „Goldene Herz von Viana“ ist als Symbol der Verehrung des Heiligen Herzens Jesus Christus führte. Seither ist es ein ikonisches Symbol Portugals und steht für Ehrlichkeit und Großzügigkeit – man sieht es nicht nur im Souvenirgeschäft, sondern auch auf Tellern, wie zum Beispiel als goldene Hippe auf diesem Dessert mit Brombeere, Rosmarin und Joghurt.
Im Vergleich zum Vordessert wirkt dieses Joghurt-Türmchen deutlich entschleunigter, ist wunderbar cremig und schafft den Spagat zwischen beeriger Säure, Kräutrigkeit und nur dezenter Süße durch Schokocrumbles und einer leichten Vanillecreme. Ein sehr runder Abschluss des Menüs.
Nach einigen Petits fours – das Foto bleibe ich dem Leser schuldig – nimmt mich Hans Neuner mit in das imposante Lager unter der Küche: Hier versammelt sich Geschirr, das man über die Jahre für die verschiedenen Menüs aus allen Teilen der Welt verwendete: rosa Oktopusarme, befüllbare Ameisen-Hintern bis über selbstgegossene Suppenschüsseln – was nicht da ist, wird angefertigt.
Diesen Spieltrieb schmeckt man auch. Neuner nimmt die Eindrücke seiner Reisen als kulinarische Skizzen, die er dann mit seinem Tuschkasten aus Produktvorlieben und Sinn für Kombinatorik auf portugiesische Tische bringt. Das Spektrum reicht dabei von Kitsch (Handfächer-Eis), Wahlheimatstolz (Makrele) bis zu klassischen Kreationen (Wolfsbarsch). Jedem Gericht schwingt eine Verschmitztheit mit, die im Kontrast zur Handwerk- und Detailverliebt steht, die alle Komponenten eint. Selten schießt die Küche dabei über das Ziel hinaus, und auch nur dann, wenn sich der lebhafte Österreicher mit der Pfeffer- oder Makrelenmus-Dosierung verschätzt.
Beim Gedanken an die gezupfte Krabbe in der Lotusblume kriege ich immer noch, jetzt beim Schreiben dieses ausladenden Artikels, Appetit, aber auch der reduzierte Kaisergranat, der süffige Wolfsbarsch und das wohl opulenteste Pre-Dessert seit langem werden wohl noch eine Weile das sein, woran ich mich bei Gedanken an den Besuch an den iberischen Steilküsten erinnere.
Doch auch diese kulinarischen Erinnerungen werden bald zum vergangenen Porzellan ins Regal gestellt, denn im Januar steigt Hans Neuner wieder in den Flieger. Diesmal geht es auf kulinarische Spurensuche in den portugiesischen Communities Nordamerikas. Ich bin gespannt, mit welchen Ideen er zurückkommt.
Chris Lippert
Wein
2007 Dalva White Port, Douro
2016 O Fugitivo, Casa Da Passarella, Dao
2022 Florés Vincent Pinard, Sancerre, France
2021 Rosa Da Mata Fernão Pires, Beira Interior
NV Saké Pure Black Yamamoto, Akita, Japan
2022 Quinta Dos Sentidos Tato, Algarve
2007 Dona Santana, Quinta De Lemos, Dão
2017 Quinta Do Fojo, Douro
2018 Von Hövel, Monopollage Hütte, Spätlese, Mosel, Germany
2007 Horácio Simões Moscatel Roxo, Península De Setúbal
Hinweis
Der Besuch war eine Einladung. Details zum Umgang mit Einladungen und anderen Pressekonditionen findest Du hier.