Restaurantkritik  7.Oktober 2024

Nineteen18 – Ein Stern, ein Horn

Der zweite Abend meiner „Foodcation“ in Vilnius führt mich in das ebenfalls frischbesternte „Nineteen18“, in dem Chef Andrius Kubilius vor knapp zwei Jahren das Kochzepter vom Vorgänger Matas Paulinas übernahm. Das Restaurant besitzt einen 500 Hektar großen Garten im Umland, von dem die allermeisten Produkte des „Farm-to-table“ – oder besser: „Farm-to-counter“-Menüs stammen. Das erklärte Vorbild sei dabei Dan Barbers „Blue Hill at Stone Barns“.

Das Restaurant liegt in der historischen „Senatorių Pasažas“, der „Senatoren-Arkade“, mitten im Herzen der Altstadt Vilnius’. Das 400 Jahre alte Herrenhaus wurde vor vier Jahren zu einer bunten kulinarischen Allee umgebaut, in der sich Bäcker, Naturweinstuben, Metzger, Buchhändler und Shops lokaler Bauern angesiedelt haben. Alle eint der Wunsch, hervorragende wie nachhaltige Lebensmittel und -Praktiken an den Gast zu bringen. Hinter diesem Verbund steht der dänische Unternehmer Niels Peter Pretzmann, und tatsächlich: Dieses Mondäne, Moderne und konzeptionell Schlüssige erinnert mich sehr an Kopenhagen.

Das „Nineteen18“, benannt nach dem Jahr der ersten Litauischen Unabhängigkeitserklärung, ist das Fine-Dining-Schlachtschiff dieser skandinavisch-baltischen Fusion. Wir gehen die noblen, mit Kerzen zu Boden sakral anmutenden Treppen hinauf zum Gastraum, der mich durch seine hohen Decken, dem „Abriss“-Chic und der großen Bibliothek an der Wand durchaus an manch wilde WG-Party in Berliner Altbauwohnungen zu Studienzeiten erinnert. Nur: Damals gab es keine hochmoderne, offene und helle Küche, an dessen Tresen wir zum heutigen „Chef’s Table“-Tasting-Menu platziert werden.

Prompt reicht uns ein bestens gelaunter Andrius Kubilius ein Glas Grappa mithilfe eines Plüscheinhorns (!) mit den Worten: „Tonight, you’ll be drunk.“ – Das verbuche ich ergebnisoffen unter „Andere Länder, andere Sitten“ und freue mich vor allen Dingen auf eins: das zehngängige Menü, das genau jetzt startet.

Kubilius erklärt uns das Farm-to-table-Konzept seiner Küche und gibt uns mit „Brot und Butter“ verzehrbare Beispiele für das, was auf dem eigenen Bauernhof gerade Saison hat: Farmgemüse auf Eis, dazu Räucherschinken, Kräuter-Quark und Salzbutter. Das mutet simpel an, ist aber eine gelungene Veranschaulichung des kulinarischen Ansatzes, besonders deshalb, weil die Produkte allesamt hervorragend schmecken. Herausragend die „Tomatillo“, eine mexikanische Frucht, die äußerlich einer Mini-Wassermelone ähnelt und geschmacklich zwischen Stachelbeere und unreifer Tomate einzuordnen ist. Sie wird in Mittel- und Lateinamerika vor allen Dingen zur Herstellung von Green Salsa genutzt.

Die Menükarte gibt sich indes informationsscheu: Mit „Hello“ werden uns zwei Häppchen serviert, die verdächtig nach Petits Fours aussehen. Aber mitnichten: Das rosa Entenleber-Macaron ist verführerisch cremig und intensiv. Dahinter ein Fischrogen-Küchlein – salzig, butterig, crumblig. Eine schöne wie kreative Idee, noch dazu handwerklich einwandfrei umgesetzt.

Als nächstes dürfen Tomaten – roh, geräuchert & angetrocknet – mit Räucheraalkarkassen-Sud schaulaufen. Die Herausforderung, eine pure Tomate an den Gast zu bringen ist schlichtweg die, dass die allermeisten schon mal sehr hervorragende Paradeiser verspeisten durften. Heißt: Jede und jeder hat hier ihre und seine ganz eigene Messlatte, und die meinige wird an dieser Stelle nicht erreicht. Zu fad die Tomaten, zu belanglos der sie umgebene Sud.

An dieser Stelle sei angemerkt, dass uns das Plüsch-Einhorn den ganzen Abend begleitet. Das Fantasiepferd selbst war ein Geschenk des dänischen Mäzens, der dem Chefkoch bei Erreichung bestimmter wirtschaftlicher Erfolge ein Einhorn versprach. Seither kümmert sich das glupschäugige Fellhorn um die Gäste am Counter.

Ein Rinder-Tartar mit Nusscreme und fünf Jahre gereiftem, litauischen „Džiugas“-Käse, der geschmacklich einer Mischung aus Pecorino und Parmesan ähnelt, wird auf einem knusprigem Macaron serviert. Handwerklich und proportional stimmt auch hier wieder alles, das Fleisch hat eine tolle Präsenz, und gerade die Nussscreme – ich schmecke vorrangig Haselnuss – gibt dem nimmermüden Klassiker eine interessante kulinarische Wendung. Die Küche verzichtet außerdem auf Kapern – diese wachsen in den kalten Gebieten des Baltikums schlichtweg schlecht. Damit geht allerdings auch der Verlust von Säure einher, die solch „deftigen“ Häppchen oft die nötige Spur Leichtigkeit und Eleganz verleiht.

Chef Andrius Kubilius verbindet die allermeisten der heutigen Gänge mit Geschichten. Ich gebe hier nicht alle wieder, aber diese ist spannend: In den 1930er Jahren gab es Bestrebungen, Litauen nach Madagascar oder Argentinien umzusiedeln und damit eine Art „Backup“-Land zu erschaffen. Dieser Plan wurde nie in die Tat umgesetzt, aber ist für die Küche Anlass genug, sich die Frage zu stellen: Wohin würde man Litauen denn gerne kulinarisch aussiedeln?

Man einigte sich auf Mexiko, und da war er schon, der nächste Gang: der litauische Taco. Ein Schwarze-Bohnen-Tortilla als Bett für eingelegte Rote Bete, Gurken, Kümmel, Aal und Hecht. Dazu ein paar unreife, eingelegte Johannisbeeren. Diese „Was wäre wenn?“-Idee ist genau so originell wie der Geschmack, der mal frisch-süßlich, mal erdig-bohnig daherkommt, während Fett und Rauch dank des Fisch-Duos stets präsent über dem Aromenkomplott schweben.

Inspiriert von einem Rezept seiner Mutter tischt uns Kubilius litauische Teigtaschen mit Schweinehack, Pilz-Sud und Pfifferlingscreme auf. Weder in Polen, Russland, Estland, Litauen, Tschechien noch irgendeinem anderen osteuropäischen Land, dass sich der Hackfleischtasche verschrieben hat, habe ich bisher eine derart perfekt proportionierte, mit herzhaften Pilzaromen umschlungene Teigwonne verspeisen dürfen.

Die weichen Kissen strotzen nur so vor Deftigkeit, während der süffige Sud und die extrem reduzierte Pilzcreme ordentlich Kohle in den Umami-Ofen schleudern. Ich fühle mich um ein Jahrzehnt zurückversetzt, als ich in Hong Kong meinen ersten Xiaolongbao vertilgte; ähnlich einschneidend ist auch diese Erfahrung. Ich grüble kurz, ob und wie ich mich in die Familie Kubilius einheiraten könnte, um das Rezept zu erstehlen.

Ein simples Gurken-Granité erfrischt die Papillen vor dem Hauptgang.

Ebenfalls reduziert die Hauptspeise: Das Filet einer 30 bis 45 Tage Dry-Aged-Milchkuh aus Dänemark wird begleitet von Topinambur und einem sehr dichten, vier Tage reduzierten Hühnchen-Karamell. Das Tier ist prima gegart und enorm intensiv, ohne jedoch zu kauig oder gar – und das erlebt man häufig bei älteren Kühen – zu „stallig“ zu sein. Die Demi Glace muss ich mit Vorsicht dosieren, ist sie doch enorm reduziert und salzig, fast schon lackartig. Insgesamt jedoch eine gelungene Produktschau, die ich mir lediglich ein paar Grad heißer gewünscht hätte; ein Problem, das man mit besser vorgewärmten Tellern hätte lösen können.

Als Pre-dessert ein geräuchertes Linden-Honig-Eis mit Waldameisen, dazu ein Balsamico-artiger, reduzierter Lack. Das ist erfrischend, wunderbar kurzweilig proportioniert und sehr schön „waldig“. Die Ameisen erfüllen an dieser Stelle einen Zweck abseits der schieren (etwas in die Jahre gekommenen) Showeinlage: Die Säurespitzen und der leichte Biss bringen hier und da Spannung in die cremige Kälte.

Erdbeeren – roh und in Holundersaft eingelegt – betten sich auf einer Tomatencreme, daneben Buchweizen-Popcorn und weiße Schokolade. Mal süß, mal gemüsig, etwas sauer und texturell immer wieder anders. Gut!

Ein kleines Mini-Tartelette mit Apfel und geschlagener Sahne schließen das Menü puristisch ab.

Während das Team die Küche säubert, reihen Chef Andrius Kubilius und sein Einhorn sorgsam alle Schnapsflaschen vor uns auf, die im Restaurant zu finden sind. Dieser Mann möchte sein Wort halten. Wir nippen an einem … was war das noch gleich? … und sprechen dann doch lieber über das Menü.

Ein eigener Garten, Farm-to-table, alles direkt am Küchentresen serviert – das schreit förmlich nach einer Lehrstunde in Sachen Produktküche, nach Vorträgen über den perfekten Reifegrad, Bodenbeschaffenheiten, pH-Werte und Bauern, die ihre Weisheiten und Samen seit Generationen an die nächste weiterreichen.

… mitnichten im „Nineteen18“. So sehr man sich auch auf litauische Produktqualität und kulinarische Traditionen besinnt, so sehr steht der Spaß an Kulinarik, Spontanität und Bewirtung im Vordergrund. Die Geschichten, mit denen Andrius Kubilius seine Gänge vorstellt, sind mal humorvoll, mal privat, dann wieder nah an der bewegten Geschichte des eigenen Landes, die hier kulinarisch erzählt werden möchte – die exzellenten Teigtaschen sind dabei eine Blaupause für die Nähe von Geschichte, Person und Gericht. Ein frischer baltischer Wind im großen Kosmos der Produktvernarrtheit, die sich in der heutigen Zeit so viele auf die Fahnen schreiben.

Chris Lippert

Die Weine des Abends.

Hinweis

Der Besuch erfolgte im Rahmen einer Pressereise. Details zum Umgang mit Einladungen und anderen Pressekonditionen findet Ihr hier.

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