Loumi – Berliner Hoffnungsträger
Vor einer Woche erschien im Feuilleton der F.A.Z. ein Artikel über die »Krise« der gehobenen Berliner Gastronomie. Zwar wird darin geflissentlich übersehen, dass derzeit von London bis Los Angeles Katerstimmung herrscht, aber grundsätzlich hat der Autor Jakob Strobel y Serra sicher einen Punkt. Trotzdem möchte ich seinem Abgesang einen Hoffnungsschimmer entgegensetzen: Mit einem Bericht über das ‹Loumi›, das Ende 2023 in die sich anbahnende Flaute hinein eröffnete – und sich seither großen Zuspruchs erfreut.
Die Besonderheit des Restaurants beginnt damit, dass der junge Co-Inhaber und Küchenchef Karl-Louis Kömmler als Autodidakt zum Kochen kam, gelernt hat er Informatiker. Wir verfolgen seine Entwicklung schon länger. Bereits vor Jahren war unser Berliner Chris in dem Supper Club zu Gast, den Kömmler und seine beste Freundin Mical Rosenblat (studierte Kunsthistorikerin) in einer Neuköllner Hinterhofwohnung aufgezogen hatten. Exzellente Produkte, in reduzierter Manier auf den Punkt inszeniert: das war schon damals Kömmlers kulinarischer Ansatz.
Der Supper Club lief über fünf Jahre hinweg sehr erfolgreich. Trotzdem ist es nicht ganz einfach, eine solche Privatveranstaltung auf einen ausgewachsenen Restaurantbetrieb zu übertragen. Dass wir uns die Sache früher oder später genauer anschauen mussten, stand außer Frage. Chris war – Ehrensache – kurz nach der Eröffnung im ‹Loumi› (von »Louis« und »Mical«). Ein gutes Jahr später dürfte sich alles richtig eingegroovt haben.
Das Restaurant befindet sich in einem gesichtslosen Eckhaus unweit des Kottbusser Tors. Im Vorbeigehen könnte man es für irgendein kleines Stadtteilbistro halten. Doch wir gehen nicht vorbei, sondern hinein, wo die offene, von einem Edelstahltresen mit acht Sitzplätzen begrenzte Küche sofort ein anderes Bild vermittelt: urban, lässig, anspruchsvoll. Hinter dem Tresen ist ein vierköpfiges Team konzentriert am Arbeiten, auf der anderen Seite ist jeder Platz besetzt.
An den offenen Küchen- und Tresenbereich schließt sich unmittelbar ein Gastbereich mit fünf oder sechs Tischen an. Alle sind belegt, von Krisenstimmung keine Spur. (Das Bild entstand am Ende des Abends, da ich ungern in voll besetzte Gasträume fotografiere). Die Gestaltung ist reduziert und schlicht, mit viel hellem Holz, simplen Bistrostühlen, ein bisschen Industriechic und beidseitig großen Glasfronten zum Treppenhaus (im Bild) und zur Straße. Alles angenehm unprätentiös, fast ein bisschen studentisch. »Berlin halt«, wird mancher sagen, dabei könnte man das so auch in Paris oder London finden. (Nur die etwas diffuse Lichtgebung ist der Fotografie an diesem dunklen Herbstabend nicht zuträglich)
Es gibt ein festes Menü mit acht Gerichten zu bemerkenswert günstigen 111 Euro (mittlerweile leicht erhöht auf 120 €); auf einer separaten Karte findet sich eine kleine Auswahl optionaler »Ergänzungen«, heute Abend vor allem in Gestalt von Trüffel und Kaviar. Schöpft man hier aus dem Vollem sieht die Rechnung am Ende gleich anders aus.
Die Weinkarte ist sehr überschaubar und passt mit ihrem Schwerpunkt auf Flaschen im zweistelligen Bereich gut zum Konzept. Dabei enthält sie ein paar schöne Fundstücke, darunter den hervorragenden Bianco del Casal der Azienda Agricola Cà La Bionda (2022, 84 €).
Nominelle »Küchengrüße« gibt es nicht, man startet zum Champagner (19 €) mit dem ersten Gericht von der Menükarte, einer kleinen Schale Pilzconsommé – heiß, intensiv, hervorragend. Zwei begeisternde Schlucke, die bereits die Sorgfalt offenbaren, mit der man hier zu Werke geht.
Gang Nummer zwei besteht aus dünnen Scheiben roher Jakobsmuschel, deren Provenienz nicht genannt wird, deren herausragende Qualität sich jedoch unmittelbar offenbart: zart, nussig, leicht süßlich und mild jodig. Ich halte ostentative Herkunftsnennungen generell für überflüssig – entweder eine Zutat ist gut, oder sie ist es nicht. Hier nun ist die erstklassige Meeresfrucht mit Pflaumenvinaigrette und frischer (!) Yuzu mariniert, was in einem fein austarierten Süße-Säure-Spiel resultiert. Hauchdünn geschnittene Rettichscheiben steuern Biss und Würze bei, aromatische Shiso-Blüten setzen blitzartige Akzente zwischen Duftigkeit und Pfeffrigkeit. Eine ungemein elegante Komposition – und ein Highlight, gleich zu Beginn.
Doch es wird noch besser. In einer kleinen Schale sitzen Stücke von Königskrabbe und Abalone in einer heißen, intensiven Räucheraalbrühe, die mit feinsäuerlicher Fingerlimette und würziger XO-Sauce angereichert ist. Verdichtetes Umami, wohlige Hitze und subtile Säure verbinden sich zu einem vollmundigen Vergnügen. Als besonderen Clou stößt man am Boden des Schälchens auf eine dünne Schicht Chawanmushi von perfekt seidigem Schmelz. Zusammen mit der Brühe und der Krabbe ist das reinster Genuss auf – keine Übertreibung – allerhöchstem Niveau. Ein Gänsehautmoment.
Eine gewisse Ironie liegt darin, dass ausgerechnet die rare und kostspielige Abalone nicht viel zu diesem Genuss beiträgt, denn rein geschmacklich geht sie unter, und texturell ist sie deutlich zu fest geraten (aromatischen Kräutersaitling könnte ich mir hier, á la Quique Dacosta, als stimmigere Alternative vorstellen). Trotzdem ändert das nichts am grandiosen Gesamteindruck dieser kleinen Speise, die nur knapp an der Götterspeise vorbeischrammt.
Dieses Niveau wird nicht verlassen. Eine Assemblage verschiedener Bittersalate bedeckt eine süffige Muschel-Beurre Blanc, die durch knackende Mandelstücke, Meyer-Salzzitrone und geröstete Pastinakenwürfel noch vollmundiger wird. Das Gericht erinnert an die berühmte Bittersalatkreation bei Bruno Verjus in Paris, gefällt mir aber noch besser. Wo man dort ein bisschen »picken« musste, kann man hier beherzt in die Vollen gehen, und die Mischung aus Frische und Fülle, aus Bitternoten, buttriger Samtigkeit und subtiler Säure ist pure Magie.
Dazu wird eine Brioche Feuilletée von makellos buttriger Fluffigkeit gereicht. Lediglich die unpassend süße Glasur irritiert etwas: so viel »Authentizität« müsste dann doch nicht sein. Von der süßen Außenschicht befreit, passt das Gebäck ganz hervorragend zum Salat – und nach drei sehr kleinen Speisen tut es gut, eine etwas gehaltvollere Kombination auf dem Teller zu haben.
Zwischen den Gängen macht es Freude, Karl-Louis Kömmler am Pass zu beobachten, konzentriert, ernst, sorgfältig. Das ‹Loumi› befindet sich in der Ritterstraße, und mit seinen langen blonden Haaren, dem gestutzten blonden Vollbart und der gestärkten schneeweißen Schürze mutet auch Kömmler wie ein Ritter in weißer Rüstung an, das Schwert gegen den Saucenlöffel getauscht.
Die Atmosphäre ist gelöst, »Casual Fine Dining« hätte man früher gesagt, mit charmantem Service, der das Persönliche sucht. Hier und da setzt Mical Rosenblat sich zum Abschied kurz zu den Gästen, nicht aufdringlich, sondern so, als wäre man, wie früher, in ihrem Wohnzimmer zu Gast. Was das ‹Loumi› in gewisser Weise ja auch ist.
Weiter im Menü. Der erste Fleischgang des Abends stellt Perlhuhn in den Mittelpunkt. Auf den Teller kommt ein Streifen des zarten Bruststücks – trocken gereift und über Binchotan gegrillt –, das allerdings weniger aromatisch ausfällt, als erwartet (um die Güte wirklich zu »erkunden« ist das Stück allerdings zu klein). Dafür entschädigt eine fantastische Vin Jaune-Sauce von unergründlicher Tiefe, die zweifellos zu den besten Saucen des Jahres zählt.
Außer ein paar rohen Kaiserling-Pilzscheiben auf dem Fleisch sieht das Gericht Walnuss vor, die bei mir unverträglichkeitsbedingt fehlt. Als »Ersatz« leiste ich ich mir Alba-Trüffel von der Ergänzungskarte (35 €). Für gewöhnlich bin ich kein Freund solcher Aperçus, denn ein Gericht sollte immer genau so auf der Karte stehen, wie der Küchenchef es ideal findet. Hier jedoch fügt der qualitativ gute Trüffel dem Ganzen tatsächlich eine entscheidende Note hinzu und wertet das Perlhuhnfleisch merklich auf; da auch eine Variante ohne den Edelpilz auf dem Tisch steht, ist ein direkter Vergleich möglich. Der Star dieses Gerichts bleibt allerdings die göttliche Sauce, die einen Zweifeln lässt, ob Kömmler nicht doch heimlich bei einem Küchengroßmeister eine Lehrzeit absolviert hat.
Zu Beginn des Abends wurde mir ein Extragang so nachdrücklich empfohlen, dass ich nicht »Nein« sagen konnte – darüber bin ich nach fünf überschaubaren Gerichten nun froh. Üppig fällt das gebackene Kalbsbries mit Buffalo-Sauce und Kaviar (59 €) zwar nicht aus, doch qualitativ ist die Innerei exzellent, mit krosser Kruste, elastischer Struktur und feinem Geschmack. Die pikante Saucenglasur prononciert den typischen Eigengeschmack des Bries auf verblüffende Weise. Ein Hochgenuss.
Obenauf thront eine Nocke N25 Kaluga Hybrid-Kaviar, die den markanten Aufpreis erklären dürfte. Gebraucht hätte es das Luxusprodukt allerdings nicht, denn in der Schärfe der Glasur geht es ziemlich unter. Stattdessen wäre ein größeres Stück vom pikanten Bries mit einem Löffel Robuchon-Kartoffelpüree an dieser Stelle im Menü wesentlich passender. An der grundsätzlichen Großartigkeit der Zubereitung ändert das freilich nichts.
Gleichzeitig steht (nicht für mich) eine gegrillte Belon-Auster mit Hot Sauce-Beurre-Blanc auf dem Tisch – auch diese von der Extrakarte (10 €) und auch diese dem Vernehmen nach hervorragend: das Grillen hat der in mundgerechte Stücke zerteilten Auster eine angenehme Spannkraft verliehen, die Sauce unterfüttert den maritimen Grundgeschmack mit samtiger Buttrigkeit und kitzelnder Pikanterie.
Rein optisch sehr schön sind die sich komplimentierenden Strukturen von steinernem Teller, grobem Salz und schaumiger Sauce – eine subtile, fast japanisch anmutende Präsentationspoesie, für die ich mich begeistern kann.
Der nominelle Hauptgang stellt eine Scheibe Rehrücken in den Mittelpunkt. Das Fleisch stammt vom Hofgut Polting, ist mit glasigem Pancetta bedeckt und wird von einem Stück geröstetem Maitake-Pilz flankiert. Leider ist das Fleisch eine Spur zu weit gegart und hat einen leicht metallisch-lebrigen Geschmack. (Ein gutes Beispiel, dass renommierte Herkunft nicht zwangsläufig beste Qualität garantiert). Zusammen mit einer überraschend süßlichen Kombination aus Sanshopfefferjus und Sanddorn-Koshō funktioniert das trotzdem. Bedauerlicher ist, dass mangels Vorrätigkeit keine Brioche mehr nachgereicht werden kann, um die Saucenreste aufzuwischen und so den verbleibenden Appetit zu stillen.
Aber es gibt ja noch die Desserts …
… Zunächst eine pochierte Williams-Birne mit hervorragendem Verjus-Sorbet, knusprig kandierten Kürbiskernen und einer flaumigen Creme von Milky-Oolong-Tee, dessen Geschmack typischerweise an Vanille erinnert. Die scheinbare Schlichtheit der Komposition könnte über die handwerkliche Präzision und den schieren Wohlgeschmack hinwegtäuschen – bis man probiert. Wir haben hier ein durch und durch stimmiges, zwischen aristokratischer Birnensüße, pfiffiger Säure und vanilliger »Wärme« changierendes Winterdessert. Stark, sehr.
Den Abschluss bildet ein sehr gutes, leicht gesalzenes Nussbutter-Eis, das durch einen Spritzer Steinpilzöl etwas Umami und durch Crumbles von gerösteter weißer Schokolade eine karamellige Süße erhält. Wir ergänzen eine Portion mit einer Nocke N 25 Oscietra Kaviar von der Extrakarte (30 €), was sich als luxuriöser Missgriff erweist, denn die jodige Salzigkeit des Kaviar ist im Zusammenspiel mit dem Pilzöl und der Salznote im Eis schlichtweg zu viel des Guten – die Variante ohne Kaviar schmeckt ausgezeichnet.
Dass das ‹Loumi› in keinem einzigen der gängigen Gastroführer auch nur genannt wird, sagt vor allem etwas über diese aus. Aber geschenkt, denn fest steht, dass es die Berliner Gastronomieszene entscheidend bereichert – augenscheinlich erfolgreich. Das freut natürlich umso mehr, da hier ein junges Freundespaar mit viel Leidenschaft, aber ohne finanzstarke Investoren im Hintergrund ein ambitioniertes Konzept mit hohem Wareneinsatz fährt, dabei aber mit moderaten Preisen nahbar bleiben will. Keine leichte Gratwanderung, und man merkt, dass die Kalkulation wirklich aufgehen muss. Der Verzicht auf manche Luxusprodukte könnte eine Alternative sein, denn das Kömmler auch aus simpleren Zutaten Großes zu schaffen vermag, zeigte nicht zuletzt der Salat.
So oder so beweist das ‹Loumi›, dass ambitionierte Gastronomie auch in Berlin funktionieren kann, wenn das Konzept stimmt: passioniert, köstlich, sympathisch – und vielleicht ja auch impulsgebend. Ob die »Blüte der Berliner Spitzengastronomie« schon wieder vorbei sei, fragte die F.A.Z.. Nun, in der Kreuzberger Ritterstraße keimt sie aufs Schönste. Läden wie das ‹Loumi› sind jedenfalls kein Grund für Trübsal, sondern einer zum Feiern.
Kai Mihm