Intense – Weltstadt in Wachenheim
Bei der Planung eines kulinarischen Trips geht es für uns nie nur um das Ziel, sondern immer auch um den Weg. Eine avisierte Reise zum ›Weinhaus Schanz‹ und dem ›Waldhotel Sonnora‹ (Berichte folgen) stellt uns in dieser Hinsicht vor eine Herausforderung: ein Boxenstopp irgendwo zwischen Frankfurt und der Mosel, der kulinarisch reizvoll und uns noch unbekannt ist. Klingt einfach, erweist sich aber beim Blick in die Michelin-App als ziemlich schwierig.
Nur ein einziges Restaurant auf der Route erfüllt die Kriterien halbwegs: im ›Intense‹ in Wachenheim waren wir noch nie, doch die Küche von Benjamin Peifer kennen wir bereits aus seinen früheren Wirkungsstätten, dem ›Urgestein‹ in Neustadt und dem »alten« ›Intense‹ in Kallstadt. Andererseits liegt der (nicht recht überzeugende) Besuch in Kallstadt fast sechs Jahre zurück, und überhaupt, was soll's – also auf in die Pfalz!
Das Restaurant befindet sich in zentraler Lage des etwas verschlafenen Weinstädtchens Wachenheim, im ehemaligen Pfarrhaus gegenüber der Kirche. Die Eröffnung fand 2022 nach größeren Umbauten statt.
Wir sind zu früh dran, also noch ein kleiner Aperitif in einer benachbarten Gutsschänke, wo wir den Altersdurchschnitt erheblich nach unten verschieben.
Um Punkt halb acht stehen wir beim ›Intense‹ vor der Tür. Man klingelt, kurz darauf öffnet sich die Tür, der Empfang ist herzlich, fast familiär. Zunächst wird man in eine Art Salon geführt, »Gude Stubb‘« genannt, wo stilvolle Stuckdecken, knarzendes Parkett und samtig-grün gepolsterte Sitzbänke eine warme Atmosphäre erzeugen. In der Mitte des Raums befindet sich eine Service-Station, wo Benjamin Peifer und zwei junge Köche die ersten Snacks zum Aperitif vorbereiten. Das eigentliche Menü ist ohnehin festgelegt.
Als erstes kommt eine Tartelette aus souffliertem Kartoffelchip auf den Tisch, belegt mit gedämpfter Kartoffel, etwas Kräuterquark sowie einem hauchdünn gehobelten, zu einer Rose geformtem Radieschen – das ist kühl und doch wärmend, vollmundig und fragil, von ideal justierter Säure und einem unglaublich feinen Texturspiel zwischen Schmelz und Biss. »Gequellde mit weißem Kees« heißt das ganz deftig auf der Menükarte, und am bewundernswertesten ist vielleicht, wie lässig man hier rustikale Komponenten (Kartoffel, Quark) zu großer Eleganz führt. Stark.
Der zweite Snack verlässt das hohe Nieveau nicht: »Rindfleisch mit Meerrettich« bezeichnet eine Tartelette aus Rote Bete mit Tatar von japanischer Rinderschulter (zur Hälfte roh und gekocht), gelierter Rinderconsommé und verschiedenen Zubereitungen von Rote Bete, weißer Zwiebel und Meerrettich – ein erdig-süßlicher und ätherisch nachschärfender Umami-Wuchthappen, bei dem überraschend noch etwas Forellenkaviar neckisch aufploppt. Auch dieses Arrangement hat bei aller Komplexität eine spielerische Leichtigkeit, die den Genuss umso größer macht.
In angenehm zügigem Tempo geht es weiter. Und es wird sogar noch besser, mit einem Macaron »Hommage an die Pfalz«, bei dem ein zartes Baiser aus Sauerkrautsaft mit gebeizter Forelle, Meerrettichcreme, einer Winzigkeit krauser Petersilie, einem hauchdünnen Kartoffelchip und Gel aus frischem Sauerkraut »gefüllt« ist. Wie schon bei den vorherigen Snacks ist da wieder die Balance aus Umami und verschlankender Säure, aus Zartheit und gaumenschmeichelnder Fülle – nur alles noch eine Spur feiner. Die regionale Verortung wirkt nicht forciert, sondern spielerisch. Groß, ganz groß.
Zum Abschluss der »Salon-Runde« serviert Benjamin Peifer eine weitere Hommage an die Pfalz – und an seine Großmutter: nämlich »Dampfnudel un Woisoß«, einen regionalen Klassiker, der normalerweise als süßer Nachtisch serviert wird. Peifers Idee, daraus einen herzhaften Snack zu machen, kennen wir noch aus dem Kallstädter ›Intense‹; dort war uns die Sauce zu sauer und die Dampfnudel zu »teigig«.
Der heutige Kontrast dazu könnte größer nicht sein: die Dampfnudel, zunächst gedämpft und danach in gesalzener Nussbutter gebraten, ist von wolkiger Fluffigkeit und knusprig zugleich. Man reisst ein Stück davon ab und tunkt es in ein Weinglas mit schaumiger, fruchtig-herber Riesling-Beurre Blanc – ein absoluter Hochgenuss, der daran erinnert, mit welch vermeintlicher Bodenständigkeit man Götterspeisen erschaffen kann. Wie töricht wäre es auch, solche Einordnungen nur »anspruchsvolleren« Gerichten zukommen zu lassen.
Die letzten Reste des Rieslingschaums wischen ich mit dem kleinen Finger aus dem Glas… Eigentlich würden wir das jetzt gerne noch einmal bestellen, aber es geht weiter, in Richtung Gastraum…
... wobei man zunächst in einem stimmungsvoll abgedunkelten Zwischenraum Halt macht, wo ein Koch die Hauptprodukte des aktuellen Menüs präsentiert. Auch das kennt man mittlerweile aus zahlreichen Restaurants, und wir sind den ganzen Einkaufskörben eigentlich etwas überdrüssig. Hier nun macht es einen entscheidenden Unterschied, dass das Ganze weniger einem erklärenden Zweck dient, sondern einen atmosphärisch einstimmenden Charakter hat. Auch durch die Lichtsetzung und die Deko wirkt das alles sehr magisch.
Vor allem wird an dieser Stelle eine weitere Kleinigkeit serviert...:
Nämlich ein Chawanmushi, hergestellt aus Schinkenfond vom Knochen eines hausgereiften Schinkens. Der zarte Eierstich ist mit eingewecktem Périgordtrüffel angereichert und wird bedeckt von Schinkendashi mit Schinkenwürfeln, Schnittlauch und XO-Öl. Auch bei dieser heißen, süffigen, seidigen Verdichtung von Umami findet die Küche die richtige Balance von Finesse und Fülle. Mehr als großartig.
Dann geht es weiter »zu Tisch« …
... aber die verwinkelten Altbau-Räumlichkeiten bereiteten nicht auf den großen, luftigen, atmosphärisch ausgeleuchteten Gastraum vor – wir sind regelrecht geplättet von diesem »Wow«-Effekt. Es gibt einige frei stehende Tische sowie gemütliche Sitznischen, die sich um eine offene Küche gruppieren, an deren Theke zehn Gäste Platz finden, so auch wir. Das Flair dieses Raums lässt sich mit Bildern und Worten kaum einfangen – ein bisschen Industrial Chic, ein bisschen Speakeasy. Alles sehr cool, aber nicht prätentiös. Als hätte einen der schmale Durchgang direkt nach London oder New York gebeamt.
Noch immer leicht geflasht nehmen wir Platz, trinken einen Schluck Wasser und lassen das Ganze wirken. In der Küche wird gewerkelt, angerichtet und nebenbei eine glühende Grillstation gepflegt, sprich: das ist keine Pinzetten-Showküche, hier wird handfest gearbeitet.
Unsere Sidebottle von der recht jungen, aber bemerkenswert gastfreundlich kalkulierten Weinkarte steht inzwischen auch bereit: »Les Embrazées« 2021 von Thomas Morey (120 €), aufgrund der Jugend noch sehr zurückhaltend, aber egal, der erste Schluck tut jetzt verdammt gut.
Unterdessen kommt auch etwas zum Essen auf den Tresen. Benjamin Peifer erläutert kurz, dass bei den Snacks in der »Guden Stubb‘« der regionale Bezug gepflegt werden soll, während er das Menü – anders als früher – weltoffener gestaltet, irgendwo zwischen Frankreich, Pfalz und Japan.
Letzterer Einfluss zeigt sich beim Auberginen-Nigiri: auf leicht gesäuertem Koshihikarireis ruht eine frittierte und in Misosud eingelegt Auberginenscheibe; der »fette« Schmelz der solcherart behandelten Aubergine erinnert zusammen mit dem hervorragenden Reise an Otoro-Nigiri, frischer Wasabi, Brot-Tamari sowie eine Paste aus frischer Yuzu und Sanshopfeffer, alles ganz dezent dosiert, machen das Ganze noch mehr Umami, knusprige Tenkatsuflocken erweitern das Texturspektrum – ganz exzellent.
Und dann kommt, was nach so einem »Run« an großartigen Kreationen kommen muss – ein kleiner Downer. Der »Aal in Aspik« sieht ansprechend aus, drei Stücke des hausgeräucherten Fischs sitzen mit Imperialkaviar auf Räucheraal-Gelee, darunter entdecken wir noch Rührei mit Aalabschnitten. Allein das ist als Kombination schon sehr wild, geschmacklich sehr streng und texturell sehr weich, glibberig und cremig. Die zusätzliche Würze von Estragon, Wasabi, marinierter Navette, Fingerlimette und fermentierter Kirschcreme verstärkt den überintensiven Eindruck einer experimentellen Wahllosigkeit – auch wenn wir gerne glauben, dass das alles wohldurchdacht sein soll. Sehr schade.
Glücklicherweise zieht das Niveau umgehend wieder an: Unter einem lauwarmen Schaum aus Karotte und Butter verbirgt sich grob geschnittenes Tatar von der Lachsforelle, mariniert in Forellengarum, Sweet Habanero und Zitrus, dazu noch etwas Koriander, kleine Karottenwürfel und ein Tupfer Zitrusgel. Hier geht alles Hand in Hand, die Frische und die Süße, der Biss und der schaumige Schmelz, die maritime Salzigkeit und eine mehr als kitzelnde Schärfe, die wie ein Geschmacksverstärker wirkt. Ein exzellent gefertigter Blätterteigstick sorgt nebenher für Knusperspaß. Das Menü ist wieder in der Spur. Große klasse.
Das gilt noch mehr für den nächsten Gang. Was im ersten Moment wie ein Trüffel aussieht, erweist sich als superzartes, mit Pilzpuder ummanteltes Hechtklößchen. Beim Anschneiden läuft duftende Trüffelbutter heraus und vermischt sich mit einer Beurre Blanc aus fermentierten Spargelschalen. Das schmeckt schlichtweg grandios, süffig, üppig, aber dank eines gekonnten Säurespiels keineswegs »schwer«. In der Sauce finden sich noch gegrillte Schwarzwurzeln, glasierter Spinat und eingeweckter Wintertrüffel, dazwischen knuspert etwas Lauchstroh. Eine Gabel hilft bei dieser herrlich saucigen, kloßigen Angelegenheit nicht weiter, ein Löffel muss her! Es wird immer besser. Götterspeise Nummer zwei.
Es geht weiter mit rheinischem Zander »japanische Müllerin Art«. Konkret heißt das: der Zander wurde mit Yuzu-Kosho-Butter gefüllt und gedämpft. Das saftige, feinsäuerliche und angenehm festfleischige Filet ruht in einem heißen Dashi aus gegrillten Zanderkarkassen. Auf dem schneeweißen Zander hellen frische Yuzu-Zesten und Kopfsalatstreifen mit Petersilie das Geschmacksbild auf, nussige Malz-Chips (anstelle der üblichen »Müllerin«-Mandeln) bringen Textur ins Spiel. Das ist alles sehr clever konzipiert und schmeckt auch sehr gut, bleibt am Ende aber etwas konventioneller, als der Rest des bisherigen Menüs.
Nun wird es konkret japanisch. Tonkotsu Ramen besteht aus betörend intensiver Schweineknochenbrühe (Tonkotsu=Schweineknochen) mit Schweinefett, die mit einer abwechslungsreichen Einlage aus bissfesten Ramennudeln, zartem Stör-Naruto, mariniertem Forellenkaviar, wachsweichem Tamago-Wachtelei und fantastisch gegrilltem Schweinenacken (Chashu/Char siu) serviert wird.
Das ist absolut klassisch, absolut hinreißend, und man müsste das Haar in der Brühe suchen, um etwas zu bemängeln. Doch so gut es schmeckt, ist das an dieser Stelle im Menü auch sehr mächtig – aber, gibt Peifer zu bedenken, wir sind hier in der Pfalz …
Ebenfalls recht spät im Menü wird nun ein Stück hervorragendes Sauerteigbrot serviert, hergestellt mit fermentierten Urgetreiden und duftigem Kümmel. Dazu gibt es aufgeschlagene Nussbutter mit Brotmiso und sehr aromatische Bauernpaté aus Schweinefleisch, Entenleber und Blutwurst – gegen den »Hunger«.
Vor lauter schwelgerischem Genuss vergessen wir beinahe, uns ein wenig umzusehen. Um uns herum am Tresen und an sämtlichen Tischen herrscht genussfreudige Geselligkeit. Und auch die Atmosphäre in der Küche wirkt bei aller konzentrierten Geschäftigkeit entspannt und kommunikativ.
Über den Abend hinweg konnten wir beobachten, wie auf dem Holzkohlegrill prächtige Tauben des Elsässer Züchters Theo Kieffer fertiggestellt werden. Auf den Teller kommt die appetitlich geröstete, besonders aromatische Brust, bestreut mit goldbraunen Hühnerhaut-Chips für den Extra-Crunch. Unter dem roséfarbenen Fleisch findet sich Rosenkohl, ein noch immer sträflich unterschätztes Produkt, als Creme und gegrilltes Gemüse – ganz wunderbar.
Dazu gibt es spiegelnd-glänzenden Taubenjus mit Dornfelderreduktion und geröstetem Kümmelöl; ein paar Essigrosinen bieten Fleisch und Sauce paroli. Als heimlicher Star erweist sich allerdings ein »falscher« Rosenkohl, dessen Blätter mit Keulenfleisch und Innereien gefüllt sind, ideal gewürzt und exakt dosiert. Dieser Teller hat alles, was man braucht, von dunkler Intensität bis zu säuerlicher Frische – ein weiterer Gang der hinreißenden Genuss bietet.
Eine Kreation um Zitrus und Tonic läutet den süßen Menüabschnitt ein. Im Mittelpunkt steht ein Sorbet aus Zitrusfrüchten mit frischem Ingwer, Yuzu, Koriander und einem Schaum aus Zitrusfrüchten und Tonicwater. Das schmeckt wohltuend säuerlich, elegant-bitter und leicht süßlich-herb, mit anderem Worten: wunderbar frisch und belebend.
Das Hauptdessert besteht aus einer Tartelette mit halbgetrockneter Pflaume, deren Mächtigkeit sich schon beim Anschneiden des recht dicken und festen Mürbeteigs ankündigt. Tatsächlich wirkt die Kombination aus buttrigem Teig, Pflaume und Powidl sowie Naturjoghurt, Schwarzer Nuss und Zuckerwatte sehr gehaltvoll, sehr süß und wenig filigran. Eine separat servierte Sabayon aus dem Einlegesud der Schwarzen Nüsse probiere ich angesichts meiner Walnuss-Unverträglichkeit lieber nicht, aber auch am Nachbarplatz bewirkt sie nicht den entscheidenden Ausgleich. Das ist bedauerlich, aber nach der bisherigen Perfomance – geschenkt.
Zu Kaffee und Digestif stellt Benjamin Peifer die vielfältigen Petits Pours unter dem Titel »Kindheitserinnerungen« vor: Joghurette von »Mieze Schindler«-Erdbeere, saure Schnüre aus Grünem Apfel und Koriander, Mäusespeck und Marschmallow mit schwarzem Knoblauch,»Schneckenudel«, Babybel, Erwachsenen-Country und Nimm 2. Das schmeckt durch die Bank sehr gut und zeigt nach dem etwas unbefriedigenden Hauptdessert noch einmal die Qualitäten der Pâtisserie auf.
Der Abend im ›Intense‹ war auf ziemlich unerwartete Weise ein grandioses Erlebnis, nicht nur kulinarisch, sondern auch gastronomisch. Es passiert immer seltener, dass wir in der deutschen Restaurantszene echte »Entdeckungen« machen – die besten und spannendsten Lokale glaubten wir zu kennen. Aber dieses äußerlich so unscheinbare Pfarrhäusle in der Pfalz belehrte uns eines besseren.
Die Küche von Benjamin Peifer hat in der kreativen Pause des Ortswechsels einen Quantensprung gemacht. Die Vermählung deutscher, französischer und japanischer Geschmackswelten funktioniert hier so sanft und lässig, wie kaum irgendwo. Peifers Kreationen strahlen bei aller Ambition und Kunstfertigkeit eine sympathische Ruhe aus, fast möchte man von Bescheidenheit sprechen. Er klotzt nicht, er kalligrafiert – und er hat in seinen klugen Fusion-Ideen wirklich etwas zu sagen. All das tut er in einem gastronomischen Rahmen, dessen Weltstädtischkeit man selbst in den größten deutschen Metropolen nur schwerlich findet. Dass auch wir selbst das ›Intense‹ vor lauter Paris und London erst so spät entdeckt haben – schweigen wir dazu. Trotz allem, und das unterscheidet Peifer von Epigonen, sind die Küche wie auch das Restaurant mit seiner »Stubb« ein klares Bekenntnis zur Region.
So stehen wir weit nach Mitternacht plötzlich wieder vor dem einstigen Pfarrhaus im gespenstisch leeren Wachenheim, zurückgebeamt in die Pfalz. Obwohl: wenn man sich ein bisschen anstrengt, sieht der Kirchturm doch fast wie das Empire State Building aus …
Kai Mihm