
Higher Ground - Bombiger »Bib«
Nach dem Drei-Sterne-Ausflug in den Lake District stehen noch zwei Tage Manchester auf dem Programm. Der Besuch eines destination restaurants ist mir stets ein willkommener Anlass, um auch die weniger bekannten Restaurants der Zielregion zu erkunden. Pragmatischer ausgedrückt: für nur ein Essen ins Flugzeug zu steigen empfände ich in mehrfacher Hinsicht als Verschwendung.
Manchester ist als Stadt keine pittoreske »Schönheit«, die Sehenswürdigkeiten lassen sich an einer Hand abzählen und die wild kombinierte Architektur in der City erinnert ein bisschen an den Potsdamer Platz. Trotzdem verfügt die Stadt über einen rauen Charme, und in Sachen Hipness gibt es seit einigen Jahren einen ziemlichen Image-Aufschwung, was sich unter anderem in wachsenden Szenevierteln und zunehmend ambitionierter Gastronomie zeigt.

Bei der Vorbereitung des ersten Abends schwanke ich dennoch zwischen einer Stadtflucht ins gediegene, ländlich gelegene Zwei-Sterne-Restaurant ‹Moor Hall› und dem lässigen Higher Ground, das mit einem Bib-Gourmand ausgezeichnet ist. Ein ziemlicher Kontrast. Am Ende fällt die Entscheidung für letzteres, weil es 1. interessanter wirkt und ich 2. keine Lust auf eine einstündige Taxifahrt (und zurück) habe.
Die Webseite des Restaurants informiert darüber, dass es von einem Freundestrio geführt wird: Küchenchef Joseph Otway, Manager Richard Cossins und Sommelier Daniel Craig Martin lernten sich 2016 in Dan Barbers legendärem ‹Blue Hill at Stone Barns› kennen. Das ‹Noma› und andere Spitzenrestaurants bilden weitere Referenzpunkte. 2020 starteten sie das ‹Higher Ground› als Popup; Anfang 2023 wurde daraus ein festes Restaurant. Daneben betreibt das Trio eine Weinbar namens ‹Flawd›.

Als wir an diesem Donnerstag um 19 Uhr eintreffen, ist das zentral gelegene Lokal bis auf den letzten Platz belegt, das Publikum so bunt gemischt, wie es sich für eine Metropole gehört. Auf den meisten Tischen stehen nicht nur glasweise Weine, sondern Flaschen, auch das ein gutes Zeichen im Sinne der Weinkultur. Wir sitzen wunschgemäß am Tresen, mit Blick in die große offene Küche, die sich durch den ganzen Raum zieht. Es herrscht geschäftige Behaglichkeit, dynamisch, aber nicht hektisch.
Die Preise der Speisen bewegen sich ungefähr zwischen vier und vierunddreißig Pfund, alternativ kann man ein Menü zu sechzig Pfund ordern, das einen Querschnitt durch die Karte bietet. Die auf »Low-intervention wines« fokussierte Weinkarte hat ihren Schwerpunkt bei Frankreich (vor allem Burgund), passend zum Konzept mit zahlreichen guten Flaschen im zweistelligen Bereich. Wir starten mit einem Crémant d'Alsace der Domaine Rietsch, danach zum Menü ein paar Gläser aus der offenen Selektion.

Zum Aperitif werden zwei Sorten Kroketten gereicht: Erbsenkroketten, schön heiß, schön knusprig, leicht erbsen-süßlich, bedeckt mit würzigem Cheddar der britischen Käsegroßmeisterin Mary Quicke. Noch besser gefallen knusprig-saftige Perlhuhnkroketten, deren dunkles Umami von leichter Lauchmayo aufgefrischt wird. Sehr schön.

Es folgt eine Gemüseconsommé mit jungem Lauch, heiß, duftend, mit klarem, von sorgfältigem Handwerk zeugendem Geschmack und leicht süßlich von den Lauchstücken. Am Boden der Schale findet sich eine Art Maultasche, auch diese von mehr als überzeugender Güte.
An diesem Punkt ist erwähnenswert, dass sämtliche im Restaurant verarbeitete Gemüse aus eigenem Anbau stammen: Richard Cossins, der später eine kurze Runde macht, erzählt uns, dass man im nahen Cheshire eine eigene Bio-Gärtnerei namens ‹Cinderwood Market Garden› betreibt, mit der man auch andere Restaurants beliefert. Tatsächlich sei die Option einer eigenen Anbaufläche ein Hauptgrund für den Standort Manchester gewesen, denn keiner der drei Freunde komme hierher (Cossins selbst ist Amerikaner).

Als nächstes kommt ein Dreierlei auf den Tresen: Hausgereifter, kräftig durchwachsener Schinken besticht durch den Wechsel von hocharomatischem, zartschmelzendem Fett und würzigem Fleisch – ein schlichter Hochgenuss. Dazu passen hausgebackene, krustige Vollkornbrötchen mit aromatischer Lancashire-Butter und dicke, bissfeste Rote Bete-Scheiben mit süßlich-herber Holundervinaigrette, einer Creme mit geräuchertem Kabeljaurogen und Senfblättern. In seiner dezenten, feinen und souverän aufeinander abgestimmten Art ist das alles sehr stimmig.

Fast gleichzeitig werden zwei weitere Teller gereicht: Auf einem finden sich Scheiben von heiß geräucherter Forelle mit hauchdünnen, aber knackigen Scheiben gepickelter Gelbe Bete, eingemachten Sungold-Tomaten und Forellenkaviar, eine klassisch anmutende Kombination, die mit sehr guten Produkten und präziser, elegant austarierter Würze zwischen feinen Raucharomen, erdiger Süße und salziger Jodigkeit besticht.
Ein absolutes Highlight bildet ein Tatar vom Belted Galloway, einer schottischen Rinderrasse, deren Fleisch bei guter Zucht über einen ausgeprägten Eigengeschmack verfügt. Dieser kommt hier aus drei Gründen besonders gut zur Geltung: Erstens ist das Tatar nicht zu fein geschnitten, zweitens ist das Fleisch locker angerichtet und nicht mit zig Aromaten zu breiiger Konsistenz vermischt, sondern, drittens, lediglich mit etwas Garstang Blue Cheese, fein geschnittenem Rotkohl und gepickelten Knoblauchschösslingen pointiert gewürzt. Absolut köstlich und zweifellos eines der besten Tatar-Gerichte seit langem.

Der Fischgang aus Brixham-Steinköhler wird in zwei Varianten serviert. Das zarte, saftige Filet des Fischs ist mit dünnen Scheiben von appetitlich geröstetem Knollensellerie, geräuchertem Schellfisch und Meerfenchel in milder Senfsauce angerichtet. Die Sauce könnte für unseren Geschmack deutlich prononcierter nach Senf schmecken, doch der Fisch und insbesondere die Gemüse bringen am Ende genug Würze mit. Vor allem dürfte diese »sanft« gehaltene Kreation ein bewusster Kontrast zum zweiten Teller sein …

… auf dem sich das »Halsband« des Steinköhlers findet, also der Cut direkt hinter den Kiemen – eine rare Delikatesse, die besonders zart, besonders fett und dadurch besonders aromatisch ist. Es bereitet allein schon Freude, so etwas auf dem Teller zu haben. Die guten Stücke werden von kräftigen Rotweinschalotten und würzig-frischem Seetang noch mehr zum Leuchten gebracht. Schlicht, ungewöhnlich, wohlschmeckend.

Als kleines Intermezzo gibt es Eiernudeln, leicht bissfest, mit einer samtigen Füllung aus Alouettte-Kartoffeln und Schafskäse, ähnlich wie sardische Culurgiones. Ein kräftig eingekochtes Rinderragú, Pilze und Glöckchen-Lauch verdichten den Geschmack, ohne die zarten Nudeln zu übertünchen. Comfort-food vom Feinsten.

Der Fleischgang präsentiert drei unterschiedliche Cuts vom Belted Galloway-Rind, bei denen es Freude macht, die verschiedenen Eigenschaften in Sachen Fettgehalt, Zartheit und Aroma zu erschmecken (die kurz gebratenen Stücke gefallen uns besser). Dazu gibt es cremiges Oliven-Linsen-Gemüse und, in separaten Schalen, köstlichen Kartoffelstampf, der originell mit gerösteter Hefe, geräucherter Butter und karamellisierten Zwiebeln angereichert wurde, sowie einen Salat aus Senfblättern mit Vinaigrette von geröstetem Lauch – auch das sehr originell und ein wunderbar würzig-frischer Konterpart zum gehaltvollen Rest. Diese beiden Beilagen sind so gut, dass sie das Fleisch fast, nur fast, zum Nebendarsteller machen. Stark.

Allmählich leert sich das Restaurant, in der Küche wird bereits aufgeräumt, doch ein Dessert gibt es selbstverständlich auch noch: Der britische Dessertklassiker Trifle besteht hier aus Schichten von getränktem Biskuit, Custard und verschiedenen Zubereitungen von Yorkshire-Rhabarber: als Coulis, Gelee, in Stücken und als exzellentes Sorbet. Das ist ziemlich gehaltvoll und zutiefst befriedigend.

Es sind nicht zuletzt solche gastronomischen Entdeckungen, die unsere Reisen so lohnend machen. Was haben wir hier: Unprätentiöse, handwerklich tadellose und kompositorisch souveräne Küche aus sehr guten Produkten, und das in lockerer, urbaner Atmosphäre, mit einer Freude machenden Weinkarte und einem aufgeweckten, charmanten Service. In Deutschland gibt es derlei Konzepte natürlich auch – aber immer noch zu selten.

Für uns endet der Abend, wie er enden muss: in einer der besten Cocktailbars der Stadt, der ‹Sterling Bar›. Es wird spät, aber gut. Und wie es so geht: Vier Tage später erhält das ‹Moor Hall› im britischen Guide Michelin 2025 den dritten Stern – ob wir deshalb im Nachhinein unsere Wahl bereuen? Nicht die Bohne!
Kai Mihm