Frangente – Sternstunden
Wer bei kulinarischen Reisen allein dem Guide Michelin folgt, verpasst mitunter das Interessanteste. Das gilt insbesondere für asiatische Metropolen, aber auch für Südeuropa. Beispiel gefällig? Das ‹Frangente› in Mailand. Es taucht in der Selektion des Roten Guide überhaupt nicht auf, gilt unter Kennern aber als heißer Tipp.
Ich selbst wurde durch einschlägige Social-Media-Postings auf das Restaurant aufmerksam, und je mehr ich recherchierte, desto reizvoller wirkte es. So hat Inhaber und Küchenchef Federico Sisti unter anderem in den klassisch ausgerichteten Zwei-Sterne-Restaurants ‹Arnolfo› bei Florenz und ‹Aimio e Nadia› in Mailand sein Handwerk erlernt.
Sein eigenes Restaurant befindet sich in einer kleinen Straße zwischen Mailänder Bahnof und Zentrum, und sieht mit azurblauer Markise und warmer Beleuchtung wie ein einladendes Stadtteilbistro aus.
Drinnen herrscht geschäftiges Treiben, der kleine Laden ist rammelvoll. Neben einigen Tischen gibt es sechs Tresenplätze an der offenen Küche, zwei davon für uns. Vom Setting her gibt es für mich kaum etwas schöneres, als direkt an einer offenen Küche zu sitzen, den lebendigen Gastraum im Rücken und die Küchenmannschaft im Blick. (Im Gegensatz dazu gibt es für mich kaum etwas tristeres, als einen einsamen Chef's Table in einer geschlossenen Küche)
Die kompakte Speisekarte listet insgesamt zwölf Gerichte, plus ein paar Tagesspecials; mit 14 bis 28 Euro ist alles bemerkenswert gastfreundlich kalkuliert. Die Auswahl fällt schwer, vieles klingt verlockend. Wir ziehen unseren freundlichen Kellner zu Rate, der ganz unkompliziert anbietet, die Gerichte jeweils als halbe Portionen auf zwei Tellern zu servieren – eine wunderbare Idee, denn so wird aus drei Gerichten pro Person flugs ein Sechs-Gänge-Menü. Die überschaubare Weinkarte listet, passend zum Grundkonzept, größtenteils Positionen für deutlich unter hundert Euro; vereinzelt gibt es auch »exklusivere« Optionen, wer immer das hier braucht. Meine Wahl fällt auf eine Flasche »Sophie« des Südtiroler Weinguts Manincor (78 €).
Nachdem die Speisenauswahl geklärt und der kühle Wein im Glas ist, gibt es zunächst etwas Brot und ein paar Scheiben Mailänder Salami. Wenig später wird der erste Teller über den Tresen gereicht. Darauf: Ein Stück buttergeröstetes Kalbsbries von hervorragender Qualität, sowie saftige Hummerstücke von solider Güte und idealer Garung. Insbesondere das butterzarte Scherenfleisch fügt sich wunderbar zum Bries. Als aromatische Unterstützung gibt es ein wenig Krustentiersauce, und als Auffrischung ein paar Stücke gedünsteter Zucchini, einige Blätter duftigen Basilikum sowie frisch geriebene Zitronenschale. Das ist alles sehr klar, sehr fein gemacht und geschmacklich nicht weniger als sehr gut.
Deutlich rustikaler wird es bei Kutteln in Tomatensugo mit Pecorino. Dieses Gericht zählt zu jenen Klassikern, die man auf den Karten hiesiger Italiener vergeblich sucht. Es wäre müßig, über die Gründe zu spekulieren.
Italienische Kuttelrezepte sind in den Details ähnlich mannigfaltig wie beim Ragù alla bolognese. Hier nun deutet die Verwendung von Pecorino darauf hin, dass die Küche sich an Trippa alla romana orientiert. Aber das ist am Ende völlig egal, denn es schmeckt schlichtweg großartig. Die typische Textur der in Streifen geschnittenen, weich gekochten Kutteln ergibt mit dem dick eingekochten Sugo ein vollmundiges und auf deftige Weise auch »feines« Vergnügen. Von diesem Gericht hätte ich gerne auch die zweite Hälfte verputzt.
Weiter geht's mit Cappelletti, gefüllt mit Kalbfleisch. Über das tadellose Nudelhandwerk muss man nicht weiter sprechen, sondern über Details wie die Mischung aus Butter und gereiftem Essig, in denen die Teigtaschen vor dem Servieren geschwenkt wurden. Oder über den frisch geriebenen Bottarga, der dem Gericht das entscheidende i-Tüpfelchen verpasst. Ganz ausgezeichnet. Dieser Teller würde auch im zweifach besternten ‹Seta› eine bella figura machen.
Danach schiebt Federico Sisti einen Extragang ein (für sämtliche Gäste!). Auf dem Teller finden sich in Salbeibutter gebratene Garnelen, sowie längliche Stücke von etwas, das wie Pasta aussieht, und auch geschmacklich an hausgemachte, weiche Nudeln erinnert. Tatsächlich aber, so klärt man uns auf, handelt es sich um Knochenmark aus der Rinder-Wirbelsäule, daher die Form. Jenseits dieser Besonderheit und der reizvollen Textur hat die Zutat allerdings keinen besonderen Mehrwert, das Gericht lebt von den guten, eine Spur zu trockenen Garnelen und der schmeichelnden Buttrigkeit.
Sehr viel besser gefällt der nächste reguläre Gang, eine wunderbar bissfeste Pasta mista, bestehend aus kurzen Nudeln unterschiedlicher Form, vermengt mit einem köstlichen Muschel-Tintenfisch-Ragout, angerichtet auf weißer Bohnencreme. Es ist immer wieder erstaunlich, wie sehr allein die Form einer Nudel ihren Geschmack verändert. Mit diesem Reiz spielt die Küche hier ebenso, wie mit den Klassikern pasta frutti de mare und pasta e fagioli. Die seelenwärmende Süffigkeit dieser Kombination wird durch die Beimischung weich geschmorter Kalbssehnen noch verstärkt. Eine durchaus anspruchsvolle Kreation, die trotzdem bodenständig bleibt.
Sehr pur kommt der Fischgang daher. Ein Stück Seeteufel wurde mit Lardo di Collonata zu saftiger Prächtigkeit geröstet und ruht auf knackig-süßem Erbsengemüse. Zwei hervorragende Produkte, schlicht und schlüssig zusammengeführt. Duftiger Basilikum und ein Hauch Zitronenschale verfeinern das Ganze. Auch dieser Teller bereitet große Freude.
Im Hauptgang haben wir uns für einen Klassiker, nein, für den Klassiker der Mailänder Küche entschieden: Kalbskotelett alla Milanese (zur Erinnerung: in halbierter Portion, wie alles heute). Das Kalbfleisch ist auffallend dunkel und besonders aromatisch, die goldbraune Panade wunderbar kross und am Fleisch haftend, ganz exzellent. Ich würde Mailänder Kotelett oder japanisches Tonkatsu stets einem Wiener Schnitzel vorziehen – der kulinarische Sinn einer aufgeblähten Panade, die sich mit dem Zerschneiden vom Fleisch trennt, erschließt sich mir nicht (auch das Verhältnis von Fleisch zu Panade ist beim »Wiener« oftmals nicht stimmig). Hier nun wird als Beilage zum köstlich knuspernden Kotelett ein etwas gröberes, nicht zu buttriges Kartoffelpüree serviert, auch dies besonders gut.
Als Randnotiz: Den häufigen Buttereinsatz der Küche könnte man vorschnell für »französisch« beeinflusst halten, tatsächlich aber wird in Norditalien seit jeher mit reichlich Butter gekocht, die sogenannte »Butter-Olivenöl-Grenze« verläuft ungefähr bei Bologna.
Eigentlich bin ich ziemlich pappsatt, aber das macht hier alles so viel Spaß, und die Stimmung ist so gut, dass der Abend noch nicht enden darf. Ein Dessert muss her. Die Wahl fällt auf Millefoglie alla Crema Pasticcera, serviert mit aromatischen Erdbeeren, frischer Minze und luftiger Schlagsahne. Letztere ist zu viel des Guten und wirkt eher störend, der Rest bietet solides Pasticcera-Handwerk, mit zartknuspernd karamellisiertem Blätterteig und nicht zu süßer Vanillecreme. Schön.
Die Petits fours fallen allesamt hervorragend aus, insbesondere die winzigen, mit flüssiger Schokolade gefüllten Bocconcini.
Das ‹Frangente› steht exemplarisch für eine Art von Gastronomie, wie ich sie immer mehr schätze und immer häufiger (be)suche: mit ungezwungener, lebhafter Atmosphäre, guten Produkten und sorgfältig zubereiteten Speisen zu moderaten Preisen. Es geht hier nicht um »Weltklasse« oder ähnliche Superlative, sondern um ein zutiefst befriedigendes Gesamtpaket. Rätselhaft bleibt beim ‹Frangente› nur, warum der Guide Michelin es nicht einmal aufführt. Spielt am Ende aber gar keine Rolle, denn Sternstunden verlebt man hier auch so.
Kai Mihm