Faeltforschung
Ein heißer Sommerabend in Berlin-Schöneberg. Während sich draußen ein langersehnter Wolkenbruch ankündigt, hat Björn Swanson im besternten „Faelt“ schon lange mit Konventionen gebrochen: Die zu Jahresbeginn gestiegene Mehrwertsteuer hat die Gastroszene des Landes, deren Besucherzahlen durch Pandemie und Inflation sowieso schon abnahm, nochmal ordentlich gebeutelt; zahlreiche gefrustete Gastronom:innen und Schließungen waren die Folge. Swanson nahm dies zum Anlass und trat die Flucht nach vorn an: Er senkte den Preis seines nunmehr vegetarischen, sechsgängigen Basis-Menüs um knappe dreißig Prozent. Wer tierische Proteine braucht, kann sich diese on-top dazu bestellen. Der Stern ist geblieben, und was noch wichtiger ist: die Gäste sind es auch.
Den Mut zum unorthodoxen Umgang mit gastronomischen Krisen hat sich der 39-jährige Berliner in zahlreichen Stationen in und um der Hauptstadt angelernt: Als Küchenchef im „Gutshaus Stolpe“ erkochte er sein erstes Macaron, weiterhin zieren das „Fischers Fritz“, Michael Kempfs „Facil“ und das Dresdner „Bean & Beluga“ Swansons Lebenslauf. Zuletzt wirkte er als Küchenchef im „Golvet“, bevor es ihn 2020 mit dem „Faelt“ in die Selbstständigkeit zog – ein Jahr später prangte bereits der erste Stern an der Eingangstür. Mit dem „Swan&Son“ eröffnet er in diesem Jahr ein Bistro in Charlottenburg. Das klingt nach allem, aber nicht nach Kopf in den Sand.
Zusätzlich zu den sechs Gängen des Hauptmenüs lassen sich drei fleischhaltige Gerichte addieren. Wir gehen mit „Alle Neune“ und sind gespannt, was sich bei Swanson seit unserem letzten Besuch – damals noch als frischgebackener Küchenchef des neueröffneten „Golvet“ – getan hat.
Lokalbezug bei den Aperos, die wir noch im Freien verspeisen: Ein kleiner, vegetarischer Mini-Döner aus Sellerie gesellt sich zwischen einen geeisten Ayran (links) und einen gefüllten Pilz-Pfannkuchen. Das Dönerchen schmeckt erstaunlich „fleischig“ und steht dem Original kaum nach – ob das nun für oder gegen die Fleischqualität der hiesigen Kebab-Buden spricht, muss an anderer Stelle diskutiert werden.
Eine Variation von grünem und dem letzten weißen Spargel der Saison, eingelegt und gegrillt, sowie Jalapeño-Sauce machen den Anfang. Der Sud ist angelehnt an die „Tigermilch“, die in Südamerika zur Marinade der Ceviche genutzt wird. Dazu gebrannte Mandeln sowie Wildkräuter und Pilz-Schaumbrote vom Kräuterhexer Martin Rötzel aus Berlin. Ein schöner, süffig-scharf-saurer und insgesamt erfrischender Start.
Kurz bevor der Himmel seine Schleusen öffnet und den Bezirk mit Wassermassen übergießt, ziehen wir in den grell-grünen Innenraum, der durchaus als Werder-Bremen-Fantreff durchgehen könnte. Dort wird die Ochsenherztomate mit einem Tomaten-Granite serviert und ein Wässerchen aus Buttermilch und Dill angegossen. Die Süße der – wohl durch die Wärmebehandlung etwas zu weichen – Tomaten ist äußerst präsent, das passt gut zur kühlen Milchig- und Kräutrigkeit des Suds.
Als erstes „Fleisch“-Supplement des Abends präsentiert sich die Jakobsmuschel mit Mimolette-Jus und jungen Erbsen. Ich bin ein großer Freund davon, die Pilgermuschel so reduziert wie möglich zu präsentieren; wie oft lenken doch viele Beigaben und diffuse Aromenwelten vom doch eigentlich eher dezenten Geschmack dieses bissfesten Kollegen ab. Das funktioniert hier hervorragend: Die cremig-fettige Sauce – in der das strenge Aroma das gereiften französischen Hartkäses dankenswerterweise nur dezent eingearbeitet wurde – unterstützt die feinen Aromen, für etwas sensorische Abwechslung sorgen die knackigen Erbsen. Simple as that.
Eine vegetarische Variante des sympathischen Party-Resteessens Soljanka kommt zu Tisch, darauf thront ein ausgebackenes Onsen-Ei. Diese Kombination ist uns so noch nicht unter die Papillen gekommen, aber: sie funktioniert. Fett, Knusper, Säure und Eintopf-Aromen mischen sich zu einer deftigen Neuinterpretation eines Klassikers, der in seiner Rustikalität zwar nicht so recht in das bisher eher klassisch-filigrane Menü passen will, aber eben genau durch diese Unaufgeregtheit überzeugt.
Als eine Art Erbe aus der Zeit in Christian Lohses „Fischers Fritz“ serviert Swanson Entenleber mit Aubergine und Rauchaal. Um den Erfinder diese mittlerweile weltweit kopierten Klassikers ranken sich einige Falschinformationen. Richtig ist: Der Baske Martin Berasategui hat das Gericht in seinem gleichnamigen Restaurant nahe San Sebastian zuerst aufgetischt. Das tut dem Geschmack keinen Abbruch: Der saftige Aal unter einer dichten Auberginenmarmelade erinnert an japanisches Unagi höchster Güte, darunter schmeißt das schiere, kühle Fett der Entenleber nochmal ne Schippe Kohle in den Umami-Zug. Eine gelungene kulinarische Rezitation.
Der Hauptgang führt mich wieder zurück ins Basismenü: Die gebrannte Artischocke bettet sich auf einem Tatar aus Topinambur, drumherum eine fein gearbeitete Sauce gribiche. Zugegeben: Nach dem Aromen-Bombast der vorherigen Gangs geht diese eher cremig-dezente Kreation etwas unter. Das schmeckt nicht schlecht, aber gerade der französische Saucenklassiker kommt mir eine Spur zu „kräuterquarkig“ rüber, um der Relevanz einer Hauptspeise gerecht zu werden.
Hauptstadt-Bezug wieder beim letzten der drei optionalen Fleischgänge: Das „Berlin Fried Chicken“ mit hausgemachter Hot-Sauce auf Basis von Pepperoni und Pilzen sowie Taschenkrebs-Cole-Slaw kommt – ähnlich wie die Soljanka – unerwartet deftig daher. Aber wie so oft bei Fast-Food-Kreationen in der Spitzengastronomie kann solch eine Speise – bei richtiger Zubereitung und nur mäßiger „Veredelung“ – sehr gut funktionieren. Und das tut es: heiß, fettig, absolut saftig und dank Cole-Slaw und Chili-Mayonnaise immer zwischen sauer und scharf austariert. Das fetzt.
Der Käsegang zeigt sich als kleine, Ananas-freie Variante des „Toast Hawaii“: Belgischer „Herve“ wird über einem Malzbiscuit geschmolzen, dazu süßliche Zwiebelcreme. Fett und Knusper und Fructose – der Magen darf sich als geschlossen verstehen. Wäre ich nicht schon auf dem Weg zur Kapazitätsgrenze, hätte ich das gerne nochmals verspeist.
Ein erfrischendes Kümmel-Eis wird umgarnt von reduzierter „Milchmädchen“-Creme, die traditionsgerecht als Wurst „wie aus der Tube“ gedrückt wirkt. Das ist stilecht, aber nicht unbedingt ansehnlich. Darunter bringen eingelegte Kirschen etwas Säure in dieses ebenfalls bodenständige, aber proportionell ausgewogene, weil nicht allzu süße Dessert.
Die Petits Fours: pochierter Mohnstrudel, Waldmeister-Macaron und weiße Schokolade.
Die gastronomisch unorthodoxe Linie führen Björn Swanson (rechts) und Küchenchef Jan Rzehak (Mitte) auf den Tellern fort: Solch verspielte Menüs sind selten, selbst in einer kulinarisch breit aufgestellten Stadt wie Berlin. Weit weg vom Roten Faden tischt der selbstbewusste Koch scheinbar das auf, was ihm gerade in den Sinn kommt; Inspirationen zieht er sich gleichermaßen aus den Stationen seiner gastronomischen Laufbahn als auch seiner kulinarischen Sozialisation. Wie sonst könnte man eine fein dargebotene Jakobsmuschel und klassische Entenleber mit Kentucky-Fried-Chicken-Derbheit und Kondensmilch-Würstchen in einer Speisefolge unterbringen?
Das bringt dem Gast in Summe vor allen Dingen eins: Spaß zu Tisch. Kaum einen Gang hätte ich in seiner Darreichungsform so antizipiert. Hier und da geht die Gleichung nicht ganz auf – besonders der vegetarische Hauptgang konnte sich nur schwerlich gegen die anderen Teller behaupten. Ich hatte außerdem den Eindruck, dass erst die Hinzunahme der karnivoren Supplements ein wirklich umfangreiches Bild der Küche abbilden konnte; aber das ist natürlich jedem Gast selbst überlassen. Richtig viel zu meckern gibt es ansonsten nicht, und das „faelt“ mir, als Berliner, natürlich nicht leicht. Ick komm jerne wieder!
Chris Lippert