Es:senz - Vorteil Chiemgau
Petrus meint es nicht gut mit uns. Da haben wir extra ein Sommerwochenende für unsere Reise ins Chiemgau ausgesucht – und nun regnet es. Ach was, es schüttet! Wir sind zwar in erster Linie des Essens wegen nach Oberbayern gereist, aber unser Ziel, ›Das Achtental› in Grassau, ist ein weitläufiges Urlaubsresort, bei dem man sich nicht auf die Kulinarik beschränken sollte, so viel erkennt man auch bei trübem Wetter.
Seit der Eröffnung des Resorts im Jahr 2021 verantwortet Edip Sigl die Küche des Gourmetrestaurants ‹es:senz›. Der Restaurantname erschien uns zunächst etwas zusammenhanglos – erst hier vor Ort kapieren wir, dass die ersten beiden Buchstaben für die Initialen des Küchenchefs stehen.
Wir kennen Sigl noch aus seiner Zeit im Langener ‹Restaurant Amador›, wo wir aufgrund der geographischen Nähe regelmäßig verkehrten. Ganz unvoreingenommen sind wir also nicht. In seiner letzten Wirkungsstätte, dem ‹Les Deux› in München, hatte Sigl bereits zwei Michelin-Sterne erkocht; die gab es auf Anhieb auch 2022 für das ‹es:senz›. Zwei Jahre später kam der dritte Stern hinzu. Drei Sterne in drei Jahren, ein solches Tempo ist selten.
Nach einem Nickerchen am Indoor-Pool – in einer gut gestalteten, aber tropisch beheizten Halle – und einem erfrischenden Einstimmungsbier an der schönen Hotelbar geht es ins Restaurant, dessen Gestaltung mit elegant-rustikaler Holzdecke, Metallsäulen im Vintage-Look und bodentiefer Fensterfront eine behagliche, zur Umgebung passende Atmosphäre schafft. Im Restaurantleiter treffen wir ebenfalls einen alten Bekannten wieder: Simon Adam haben wir aus den glorreichen Zeiten des Münchner ‹Königshof› in bester Erinnerung.
Zur Wahl stehen zwei Menüs, das regionaler gehaltene »Chiemgau Pur« in sechs Gängen (235 €) und das Menü »Chiemgau goes around the world« in acht Gängen (335 €). Wir entscheiden uns für die größere Variante, tauschen aber einen Gang mit dem »regionalen« Menü.
Erste Kleinigkeiten erreichen den Tisch. Es wird sich zeigen, dass die Küche hier Zubereitungen, die man eigentlich mit Süßem assoziiert, auf geschickte Weise ins Herzhafte überträgt.
So zum Beispiel Zuckerwatte: An einem Holzstäbchen umhüllt die Kirmes-Süßigkeit ein Stückchen Wurzelspeck und Brotkrumen. Die Kombi changiert ganz wunderbar zwischen Süße und rauchiger Herzhaftigkeit, und irgendwo kommt noch ein Hauch Essig her, der diesen pfiffigen Happen perfekt abrundet.
Ein »Mon Cherie« besteht aus Parfait von ungestopfter Entenleber, umhüllt von Kirschgelee. Das schmeckt im Gegensatz zum Original kaum alkoholisch und könnte eine Spur zu süß sein, wird aber durch einen krossen, mit Knoblauch eingeriebenen Röstbrot-Chip sowie eine kleine Scheibe Périgord-Trüffel sehr schön ausbalanciert.
Die dritte Kleinigkeit: Ein halber, recht süßer Macaron ist mit Kalbstatar, N25-Kaviar und Wasabi belegt – und wieder geht die Rechnung zwischen Süße und Umami auf, diesmal erweitert um die luxuriöse Jodigkeit des Kaviars und die ätherische Schärfe des frischen Wasabi. Selbst die Garnitur aus Korianderblüten und Kresse macht feinherben Sinn. Stark.
Abschließend probieren wir eine Tartelette aus etwas dickerem Zwiebelmürbeteig mit geflämmter Perlzwiebel, süffigem BBQ-Aal, einem Klecks Rauchmayonnaise und gepickeltem Rettich. Auch dies ein exzellenter Happen zwischen Umami, Frische und Säure, der zumindest »gefühlt« einen Bogen zur Region schlägt.
Vier Snacks, jeder davon ein Treffer, so gehört sich das.
Dem Brot widmen wir regelmäßig nur wenig Aufmerksamkeit, doch Kartoffelbrot und Brioche (beides hausgebacken und gut) werden nicht nur von (unnötig) aufgeschlagener Salzbutter, launiger Senfvinaigrette und köstlichen »Chiemgau-Oliven« (eingelegte Kornellkirschen) begleitet, sondern auch von zwei Kreationen, die eine besondere Erwähnung verdienen: hinter der Bezeichnung »Chiemgauer Kräutergarten« verbirgt sich ein fantastisch guter, saftig-würziger Kräutersalat mit Schnittlauchcreme, während man in einer rustikalen Schale eine hocharomatische Tomatenscheibe in säuerlicher Tomatenvinaigrette findet, darunter hausgemachter Hüttenkäse, obenauf gepickelter Meerfenchel – »Hommage an meine Mama« nennt Sigl diese köstliche Zubereitung, was sehr charmant auch etwaige Fragen nach frühen kulinarischen Prägungen beantworten dürfte.
Es folgen zwei weitere Amuses. Zunächst ein kleines Renkentatar mit dünn gehobeltem Fenchel, knusperndem Hanfsamen, Dillvinaigrette und Pernodgelee. Auch diese Kleinigkeit hat es in sich. Sie balanciert zwischen der intensiv-ätherischen Frische der vielfältigen Anis-Aromen (bemerkenswert wie unterschiedlich diese bei Fenchel, Dill und Pernod ausfallen) und der »dunkleren« Nussigkeit der Hanfsaat.
Dass das feine Tatar dazwischen nicht untergeht, sondern regelrecht zum Strahlen gebracht wird, zeugt von der kompositorischen Könnerschaft in der Küche.
Aber es wird noch besser. Auf zarter Erbsen-Panna-Cotta türmt sich N25-Kaviar mit einem superkrossen Hühnerhaut-Chip und dünnen Streifen von Grüner Mandel. Allein das ist eine Wucht, voller Umami, Salzigkeit und Erbsensüße. Drumherum finden sich frische junge Erbsen, die man mit Nussbutter über Holzkohle gegrillt hat, dazu noch eine säurebetonte Beurre blanc, die das Ganze voluminöser und trotzdem leichter macht – scheinbar ein Widerspruch, aber voller Magie. Was für ein Gericht!
Nach diesem Ausrufezeichen startet das eigentliche Menü. Jeweils zwei Scheiben von Rücken und Bauch eines Balfegó-Thunfischs sind auf süßsauer eingelegter, angebratener Aubergine angerichtet. Eine Nocke N25-Kaviar krönt das Ganze – der dritte Einsatz von Kaviar an diesem Abend, und jedes Mal wirkt er im Kontext vollkommen stimmig. Eine hausgemachte Ponzusauce mit einigen Tropfen Lauchöl dockt verblüffend nahtlos an das mediterrane Geschmacksbild an.
Man kann mit der Kombination von allerbestem Thunfisch und Kaviar nicht viel falsch machen, und die Aubergine hebt die Komposition raffiniert vom üblichen Thuna-Einerlei ab. Trotzdem will es nicht so recht »klicken«, bleibt dies ein Gericht, das man sehr ähnlich in einer Vielzahl internationaler Toprestaurants bekommt. Sprich: bei aller Exzellenz wirkt das etwas austauschbar. (Wir sind zumindest froh, dass nicht der omnipräsente Hamachi zum Einsatz kam).
Das Gegenteil von »austauschbar« bildet der nächste Gang, den wir aus dem anderen Menü eingebaut haben. Kalbsbries wurde pochiert, in Butterschmalz scharf angebraten und abschließend auf Holzkohle gegrillt – diese Dreifachbehandlung resultiert in perfekt krosser Kruste, zartem Inneren sowie sehr fein ausgesteuerten Rauch- und Röstaromen. Allein das schmeckt grandios.
Verfeinert wird die exquisite Innerei mit einer leichten (!) Schnittlauchmayonnaise, aufgefrischt mit saftigem Salatherz und aromatisch erweitert von einem Sonnenblumen-Speck-Crumble – fast schmeckt das wie ein sommerlicher Kalbsbries-Salat.
Den Clou bildet allerdings eine leicht aufgeschäumte Weiße Pfefferauce, deren »Hitze« sowohl von der Temperatur als auch von der deutlichen Schärfe des duftigen Pfeffers herrührt – ein perfekter Konterpart zum naturgemäß leicht süßen, gehaltvollen Bries. Dieses Gericht zeigt Individualität und bietet Genuss am Anschlag – oder wie wir zu sagen pflegen: eine Götterspeise.
Zurück im »Die Welt«-Menü gibt es Kaisergranat, ein stattliches Exemplar, ideal gegart (sprich: im Kern nicht zu roh). Das Krustentier ruht in einer hervorragenden Bisque mit Erbsencreme und ist mit hauchdünnem Lardo, wildem Spargel und ein paar Knusperelementen belegt. Hier verhält es sich ähnlich wie beim Thunfisch: es schmeckt ganz ausgezeichnet, Produkte und Handwerk sind über jeden Zweifel erhaben, nur ist auch Kaisergranat in ähnlichen Kompositionen ein allgegenwärtiger Standard der internationalen Spitzenküche.
Sehr originell gefällt uns indes das Aperçu zu diesem Gang...
… nämlich eine separat servierte, gegrillte Kaisergranat-Schere, an der ein schönes Stück »Keulenfleisch« hängt. Man tunkt es in ein Schälchen mit Zitronenthymian-Hollandaise und verspeist das etwas festere Fleisch direkt von der Schere. Das ist nicht nur originell, sondern auch besonders köstlich.
Trotzdem haben wir nun das Gefühl, dass uns die Gerichte des »Chiemgau Pur«-Menüs doch stärker reizen – und fragen den Service, ob wir anstelle des eigentlich vorgesehenen Fischgangs jenen aus diesem Menü bekommen können. Kein Problem. Auch der Hauptgang des »Pur«-Menüs lässt sich als Zusatz noch problemlos einbauen.
Also gibt es statt Steinbutt nun Saibling: ein prächtiges Filet aus regionaler Zucht, auf der Haut über Holzkohle superkross gegrillt – eine Hommage an bayerischen Steckerlfisch (unter dieser Bezeichnung steht das Gericht auch im Menü).
Die Fleischseite des Filets zieht lediglich in einer heißen Sauce aus gelbem Paprikasaft und Verjus gar, die mit Pfifferlingen, Erbsen und Saiblingskaviar angereichert ist, dazu etwas Kürbiskernöl. Ein meisterliches Gericht, das aufs Köstlichste zwischen Rustikalität und Finesse oszilliert. Alles ist auf den Punkt, von der Garung bei Fisch und Gemüse bis zur sämigen Sauce. Vor allem hat dieses Gericht »Charakter.« Man mag Saibling vielerorts bekommen, aber nur sehr selten in solcher Ausführung.
Vor dem Hauptgang etwas Erfrischendes: Ein exzellentes Yuzu-Granitee mit Champagner erfüllt höchste Ansprüche, während eine halbierte Sechuan-Blüte erwartbar den Gaumen nicht reinigt, sondern so nachhaltig betäubt und parfümiert, dass nur große Schlucke Wein helfen – wir verstehen diesen »Gaumenkitzler« als Referenz an Juan Amador, der ab 2007 als erster den sogenannten »Sechuan Button« servierte.
Kurz vorher hatte man bereits eine auf Hozkohle gegrillte Wachtel präsentiert…
… Auf den Teller kommt die ausgelöste Wachtelbrust mit Wildem Brokkoli, gefüllten Morcheln und Sherrysauce. Ein königlicher Genuss, klassisch, fein und präzise. Das besonders zarte Brustfleisch gewinnt durch das Grillen ganz erheblich an aromatischer Tiefe, die Morcheln sind ebenfalls von auffallender Güte und die Sauce steht zum Glück in einem Kännchen zum Nachgießen auf dem Tisch. Auf einem Extrateller finden sich die appetitlich gebräunten, süßlich-rauchig »lackierten« Wachtelkeulen zum lustvollen Abnagen. Die pure Freude.
Doch beim Hauptgang aus dem regionalen Menü wird es noch viel besser: Achtenal-Wagyu des renommierten Züchters Christian Kreuz wird von Edip Sigl als Hommage an Szegediner Gulasch inszeniert, mit Sauerkraut, Schmand und gegrilltem, süffig-weichem und süßlich-rauchigem Paprikafilet. Dazu knuspernde Pommes Soufflé und ein sensationeller Schmorsaft mit Paprika. Hier wird ein rustikaler Klassiker mit Fingerspitzengefühl in die Drei-Sterne-Küche überführt. Das Resultat ist seelenwärmender Hochgenuss.
Anstelle eines Käsewagens gibt es eine Zubereitung aus Fourme D'Ambert mit geschmortem Rhabarber, Amarettini, Mandeln und Senffrüchten. Trotz des französischen Hauptprodukts ist das molto italiano, zwar mehr Dessert als Käsegang, aber eine stimmige Kombination, die den kraftvollen Edelschimmelkäse geschickt zwischen Süße und Säure einpendelt.
Das erste Dessert stellt ein absolut fantastisches Safraneis in den Mittelpunkt – Safran schmeckt schnell penetrant, doch hier ist seine typische Aromatik perfekt ausgespielt und lässt das cremige Eis warm und kühl zugleich wirken. Mit das beste Eis, das ich je gegessen habe. Begleitet wird dieses kleine Wunderwerk von fermentierter Hagebutte, einer hauchfeinen Karamellspirale und Kürbiskernöl. Frische und Tiefe gehen hier Hand in Hand. Ein Meisterstück.
Das zweite Dessert, eine Interpretation von Pfirsich Melba, wirkt im ersten Moment etwas sehr kleinteilig-verspeilt, kann aber überzeugen: In einem Kranz aus weißer Schokolade und Pfirsich finden sich ein exquisites Nussbuttereis und eine leichte Himbeervinaigrette für die fruchtige Säure. Ein hauchdünnes Karamellkonstrukt mit karamellisierten Pistazien steuert Textur bei, ein Löffel schaumige Gewüzzabaione erweitert das Geschmacksbild. Wenngleich uns hier ein paar Stücke »richtiger«, sprich: naturbelassener Pfirsich fehlen, bleibt das ein sehr gutes, wohltuend leichtes Dessert.
Für die Petits Fours ist trotzdem nicht mehr viel Raum. Ich probiere eine hervorragende Erdbeertarte aus Zitronenbaiser, Pavlova und Walderdbeeren (aus dem hauseigenen Garten), doch für Birne Helene, Toffifee, Nusseichel und Gin-Basilikum-»Steine« reicht es ebenso wenig, wie für die handbemalten Pralinen aus Creme Brulée und Himbeercanache. Der Geist ist willig, aber …
… stattdessen lassen wir dieses fabelhafte Essen mit einem starken Drink ausklingen. Petrus meinte es nicht gut mit uns, Bacchus dafür umso mehr.
Es ist erstaunlich wie exemplarisch sich heute anhand der beiden Menüs zeigte, wie unterschiedlich der Ansatz avancierter Küche sein kann: entweder eine internationale Produktschau höchster Qualität, mit präzisen Inszenierungen, luxuriös, köstlich, aber ab einem gewissen Punkt auch erwartbar. Oder ein Spiel mit ungewohnteren Zutaten und Zubereitungen, regionaler, etwas »ländlicher«, aber trotzdem hochfein – und »erwartbar« nur in dem Sinne, dass es grandios schmeckt. Beides hat seine Berechtigung, nicht jeder Gast kommt regelmäßig in den Genuss von Balfegó-Thunfisch und Kaisergranat, während erfahrenere Gäste im Zweifel eher das Ungewohnte suchen dürften. So geht es jedenfalls uns.
So oder so zeigte sich die süffige, saucige Küche von Edip Sigl heute auf einem außerodentlichen Niveau. Das passt auch insofern, als man sich im nahen München seit geraumer Zeit anschickt, das Bild der deutschen Spitzenküche zu verschieben und sie international präsenter zu machen. Mit dem ‹es:senz› erweitert sich der Radius womöglich – »vom Chiemgau um die Welt«, sozusagen. Nicht mit Steinbutt, sondern mit Steckerlfisch.
Kai Mihm