Restaurantkritik 18.September 2024

Enrico Bartolini al Mudec – weniger ist mehr

Für den letzten Mittag in Mailand haben wir uns das Drei-Sterne-Restaurant von Enrico Bartolini aufgehoben. Der Mittvierziger ist ein sehr umtriebiger Gastronom und hat sich binnen weniger Jahre ein kleines Imperium aufgebaut, mit zehn Restaurants allein in Italien, neun davon besternt.

Sein 2016 eröffnetes Hauptrestaurant ‹Enrico Bartolini al Mudec› erhielt auf Anhieb zwei Sterne, der dritte folgte Ende 2019. Ziemlich fix, ähnlich wie hierzulande Edip Sigl im ‹es:senz›. Das Restaurant befindet sich im ultramodern gestalteten Museum der Weltkulturen (Museo delle Culture), etwas außerhalb des Mailänder Zentrums, dafür aber nahe des stimmungsvollen Szeneviertels Navigli.

Das Restaurant liegt im dritten Obergeschoss des Museums, erreichbar per Fahrstuhl. Oben angekommen, betritt man die Räumlichkeiten durch eine unscheinbare Tür und steht unvermittelt in einem wohnzimmerartigen Foyer, das eher dekorativen Charakter zu haben scheint. Trotzdem vermittelt das geschmackvolle Ambiente eine behagliche Grundatmosphäre.

Der weiter hinten gelegene Gastraum ist hell und großzügig gestaltet, die Tische sind edel eingedeckt, an den holzvertäfelten, in coolem Grau gestrichenen Wänden hängen großformatige Kunstwerke. Das Ganze wirkt sehr stimmig, eine Mischung als klassischer und moderner Eleganz.

Die Tatsache, dass an diesem Mittag nur ein einziger weiterer Tisch besetzt ist, tut der angenehmen Atmosphäre zwar keinen Abbruch, verwundert aber ein wenig. Auch das ‹Seta› war am Vorabend kaum halb voll. Vielleicht sind die Italiener doch nicht so gourmetfreudig, wie man sich das gerne vorstellt.

Aber auch mir steht heute nicht der Sinn nach einem großen Menü. Das mag dem leichten Kater oder dem Klima geschuldet sein: an diesem Mailänder Mittag ist es schwülwarm, bei 35 Grad im Schatten. Nicht unbedingt Wetter, das zu ausgiebigem Schlemmen verführt (natürlich ist das Restaurant bestens klimatisiert, aber man bringt immer ein gewisses klimatisches Grundgefühl mit). Wenige, dafür etwas größere Portionen scheinen heute jedenfalls genau richtig zu sein. Für solche Fälle gibt es passenderweise ein Vier-Gang-Menü, bestehend aus Gerichten des großen Degustationsmenüs.

Mit dem Aperitif, einer großzügig ausgeschenkten Krug »Grande Cuvée« (171ème Édition), kommt der erste Snack auf den Tisch: ein hauchdünner Chip aus Safranrisotto mit einem Stückchen Blattgold – eine Hommage an den legendären Küchenchef Gualtiero Marchesi, der nicht zuletzt für sein mit Gold verziertes Safranrisotto berühmt wurde. Hier nun gelingt es auf erstaunliche Weise, den üppigen Risottogeschmack gewissermaßen zu verdichten und dabei ganz filigran zu bleiben – es schmeckt intensiv und elegant nach Carnaroli, Parmesan und Safran. Ziemlich großartig.

Kurz darauf trägt der Service vier Amuses auf. Ein filigran gearbeiteter Krabben-Taco mit pikanter Meerrettichmayonnaise schmeckt frisch, vollmundig und elegant. Ein mit toskanischen Cherasco-Schnecken gefüllter Krapfen auf pikanter Salsa Rossa gefällt mit fluffigem Biss, gaumenschmeichelnder Wärme und belebender Würze.

Komplexer sind zwei Tellergerichte. In einem tiefen Teller liegt eine kleine, täuschend echte Aubergine, bei der es sich jedoch um ein rekonstruiertes Exemplar aus geräuchertem Auberginen-Fruchtfleisch handelt – saftig, zart, köstlich. Außerdem finden sich auf dem Teller Scheiben von rohem Kaisergranat (angesichts der italienischen Crudo-Kultur vermeide ich hier bewusst den Begriff »Sashimi«) mit Ossietra-Kaviar, flankiert von einer winzigen, in rotem Shiso marinierten Perlina-Aubergine. Am Tisch wird noch geräucherter Grapefruitsaft angegossen, ganz simpel, dessen rauchig-bittere Fruchtigkeit die verschiedenen Komponenten fabelhaft verbindet. Für ein Amuse ist das sehr komplex – und absolut hervorragend.

Ein weitere Schale enthält einen offenen Raviolo aus bissfestem Kohlrabi, gefüllt mit zartem Mandelmilchricotta, umspielt von einer tiefgrünen Kräutersauce. Ein paar Meerestrauben fügen der nussig-erdig-kräuterfrischen Geschmackswelt eine dezent maritime Note hinzu. Ganz ausgezeichnet auch das.

Es folgt ein weiterer Küchengruß, bestehend aus Piemonteser Forelle, die mit angenehm säurebetonter Limonenmayonnaise angemacht ist, und von knackigen Radieschenscheiben sowie ploppendem Forellenkaviar getoppt wird. Aus dieser Mischung ergibt sich ein fein abgestimmtes Spiel zwischen Salz, Säure, Jodigkeit und sanfter Pikanterie vom Radieschen. Fast mutet das Geschmacksbild »deutsch« an.  

Dieser bemerkenswert feinsinnige Reigen an Einstimmungen lässt für das Menü auf Großes hoffen.

Der erste Gang stellt Aal aus dem Cueno-Tal in den Mittelpunkt – wenngleich das Gericht auf der Speisekarte mit der Nennung der Roten Zwiebel aus dem Piemont beginnt. Diese wurde zu einem stückigen, leicht bissfesten Kompott verarbeitet und entfaltet ein gaumenschmeichelnd süßsäuerliches Aroma – zum Aal passt das ganz wunderbar. Der Fisch wiederum ist nicht geräuchert, wodurch sein feiner Eigengeschmack viel besser zur Geltung kommt. Ich habe Aal so noch nie gegessen, und es ist mir absolut unverständlich, weshalb man ihn nicht viel öfter in solch natürlicher Form serviert. Gepickelte Kohlbätter, kross gebratener Salbei, frische Minze und etwas salzig-süßes Popcorn (!) runden dieses außergewöhnliche Gericht ab. In seiner simplen Schlüssigkeit ist das nicht weniger als grandios.

Weiter geht es mit Bottoni (Knöpfe), den typischen Teigtaschen der Emilia Romagna. Sie sind mit einer Emulsion aus fruchtigem Olivenöl und Limonensaft prall gefüllt, und ruhen in einer dichten, rotbraunen Cacciucco-Sauce, dem italienischen Pendant zur Bouillabaisse. Auf jeder Nudel, und das ist ein bedeutendes Detail, liegt eine Scheibe gegrillter Oktopus und ein winziges Basilikumblatt.

Man nimmt einen Löffel zu Hand und verspeist jeden »Knopf« in einem Happen, sodass er im Mund zerplatzt und die samtige Füllung sich am Gaumen verteilt – ein unglaublicher Effekt, der an Heinz Becks berühmte Fagotelli alla Carbonara erinnert und diesen in nichts nachsteht. Das alles vermischt sich mit der intensiven, pikanten Sauce zu einem Genussmaximum, das bei uns einen Namen hat: Götterspeise.

Inzwischen sind die anderen Gäste aufgebrochen, und wir sitzen alleine im weitläufigen Gastraum. Meiner großartigen Laune tut das keinen Abbruch, wenngleich der Service, wie so oft in Italiens Toprestaurants, sehr formell agiert. Eine Ausnahme bildet der charmante Sommelier, der wie ein jüngerer Bruder von Ben Affleck aussieht und ihm auch im Habitus ähnelt. Wenn er an den Tisch tritt wirkt das momentweise immer wieder amüsant-irritierend.

Der Hauptgang: Eine schneeweisse Tranche Steinbutt ist von einer Algenkruste überzogen und wird von einem Meeresschnecken-Ragout sowie einer Rote-Bete-Tartelette flankiert. Die Algenkruste kommt erstaunlicherweise kaum zum Tragen, der Fisch selbst ist leicht übergart. Das »meerige« Muschelragout schmeckt sehr gut, insbesondere mit der würzigen Sauce auf Rote-Bete-Basis. Gut gefällt auch die Tartelette mit knusperndem Teig und feinsäuerlichem Belag. (Tartelettes als Hauptgang-Beilage sind offenbar in Mode, siehe beispielsweise auch das ‹Sühring›)

In Summe ist das, trotz des handwerklichen Fehlers bei der Garung, ein mehr als gutes Gericht. Es mutet allerdings weit weniger »italienisch« an, als die bisherigen Kreationen, und vielleicht auch deshalb bleibt es hinter diesen zurück. Was zu der Frage führt, weshalb man bei italienischen Toprestaurants tendenziell eine besondere Heimatverbundenheit erwartet, im Gegensatz zur unhinterfragten »Internationalität« mitteleuropäischer oder amerikanischer Restaurants. Zu anderer Gelegenheit müsste das einmal genauer diskutiert werden.

Die Präsentation des Pre-Desserts, eine poröse graue Scheibe in der Mitte eines Tellers mit ebenso poröser grauer Oberfläche, erinnert an eine Mondlandschaft... auf den ersten Blick lassen sich Teller und Speise kaum unterscheiden. Ein simpler, aber wirkungsvoller Effekt. Mit dem Löffel zerbricht man das hauchdünne Plättchen …

… unter der sich eine Mischung aus gelber und grüner Kiwi mit Pandan-Eis verbirgt. Die Süßsäuerlichkeit der vollreifen Früchte, der zarte Knusper der »Holzkohlescheibe« und die nussig-vanilligen Aromen des Pandan passen fabelhaft zusammen, es ergibt sich ein frisches Aromenspiel, das auf bemerkenswerte Weise »anders« schmeckt. Sehr stark.

Trotz der geringen Anzahl an Gängen kämpfe ich inzwischen ein wenig. Das Dessert gibt mir den Rest: ein fluffiges Schokoladensoufflé aus Guanaja-Schokolade mit gesalzenem Erdnusskern dürfte zwar eines der besten Schokosoufflés sein, die ich je gegessen habe – aber auch das Gehaltvollste. Ebenso großartig, und eine stimmige Ergänzung zur Schokolade, ist ein Kreation aus Ananasgelee mit karamellisiertem Sesamcracker, unter dem sich herbsüßes Ziegenmilcheis, wolkiger Kokosessigschaum und satte Rum-Ananas verbergen. Ein verführerischer Hauch Karibik, der zum Mailänder Wetter passt. Vor allem aber eines der stärksten Desserts seit längerer Zeit.

Für die spielerisch – man könnte auch sagen: kindisch – präsentierten Petits fours ist definitiv kein Platz mehr. Ich bin sicher, etwas zu verpassen.

So gut dieses Menü auch war, lässt mich der Besuch doch etwas frustriert zurück – wahrscheinlich gerade weil es so gut war. Vier Gänge sind dann doch zu knapp. Nicht wegen der Sättigung, ganz im Gegenteil, in dieser Hinsicht war weniger am Ende sogar mehr. Aber: wie viele köstliche Gerichte des großen Menüs habe ich heute wohl verpasst.

Neben dem Hedonismus hat dieser Gedanke auch strategische Gründe, denn in einer langen Menüfolge fällt ein schwächelnder Hauptgang (wie heute) natürlich viel weniger ins Gewicht. Dessen ungeachtet gibt es für eine Küche kaum ein größeres Kompliment als den Wunsch, noch viel mehr davon zu probieren. Nun denn, wie erwähnt betreibt Enrico Bartolini zahlreiche Restaurants, auch außerhalb Italiens. Es wird sich eine Gelegenheit finden.

Für uns endet der Tag wie er enden muss, in einer der besten Cocktailbars der Stadt. Das ‹Mag Cafe› findet sich am stimmungsvollen Ufer des Kanals »Naviglio Grande«, mitten im beschaulichen Flanierviertel. Die Drinks sind hervorrragend, insbesondere mein ewiger Favorit, der Boulevardier (der stilvolle Vorläufer des Modedrinks Negroni). Mailand kann etwas spröde wirken, mit seinen Neubauten, Touristenhorden und überstylten Fashionistas. Hier in Navigli hat es den lebendigen Charme einer südländischen Metropole und das Flair eines pittoresken Dorfes. Und wenn ich so überlege: Ein Teller Bottoni ginge auch schon wieder.

Kai Mihm

Wein

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