The Counter – Tresenzauber
Dass die Schweiz eine Vielzahl hervorragender Restaurants zu bieten hat, ist längst kein Geheimnis mehr. Insbesondere Zürich entwickelt sich seit ein paar Jahren zu einem Hotspot vielfältiger Gastronomie. Keine unbedeutende Rolle spielt dabei Nenad Mlinarevic, der im ‹Focus› am Vierwaldstättersee zwei Sterne erkochte, bevor er sich 2017 als Gastronom in Zürich selbständig machte und inzwischen fünf Lokale unterschiedlicher Ausrichtung betreibt.
Das jüngste davon dürfte zugleich das kulinarisch ambitionierteste sein: ‹The Counter›, ein – der Name deutet es an – Tresenlokal, das sich etwas versteckt am Züricher Hauptbahnhof befindet, genauer gesagt in einem Seitenflügel des historischen Hauptgebäudes. Neugierig machte mich vor allem die Besetzung des Küchenchefs Mitja Birlo, der zuvor im zweifach besternten ‹Silver› am Herd stand. Diese Michelin-Bewertung erkochte der Deutsche aus dem Stand auch für den kaum elf Monate geöffneten ‹Counter›. Ich war wenige Wochen vor Verleihung der Auszeichnung dort.
Der Tresen mit siebzehn Plätzen zieht sich um eine offene Küche, wo die Crew bei unserer Ankunft bereits konzentriert arbeitet. Der in warmen Farben gestaltete und atmosphärisch ausgeleuchtete Raum wirkt cool und behaglich zugleich. Dazu passt als schönes Detail die Materialkombination des Tresens: dunkles Holz, gerahmt von kühlem Edelstahl. Im hinteren Bereich gibt es zusätzlich einen größeren Holztisch für bis zu sechs Personen, aber die Logenplätz sind eindeutig die samtig gepolsterten Barstühle. Das gefällt mir alles ausgesprochen gut – schick, aber nicht protzig, und auf unprätentiöse Weise großstädtisch.
Unprätentiös ist auch der Weinservice durch Florentina Birlo, und die Tatsache, dass hier ein Ehepaar gemeinsam hinterm Tresen steht, meint man auch als Gast positiv zu spüren. Ein Glas Champagner steht flugs bereit. Das feste Menü ist ohnehin gesetzt.
Den Auftakt macht eine Tartelette mit Otoro, Shiso und fein gehobeltem Rinderherz – ein so vollmundiger wie delikater Happen, bei dem die samtige Üppigkeit des Thunfischbauchs zwischen hauchdünnem Knusperteig (in zwei Schichten für blättrigen Crunch) und flockigem Rinderherz mit jeder Kaubewegung etwas mehr zur Geltung kommt. Und gerade wenn der samtige Schmelz voll »da« ist, hat man das Teil verspeist und versucht, den Umami-Wohlgeschmack am Gaumen zu halten. Sensationell.
Weiter geht es mit einem Schitz Kohlrabi in Halbmondform, über Nacht in einer Vinaigrette aus Yuzu, Zucker, Essig und Soja mariniert. Diese Behandlung entlockt dem knackigen Kohlrabi ganz neue Seiten, zusammen mit Creme fraîche, verschiedenen Kräutern und knusprig geröstetem Buchweizen ergibt sich ein verblüffend komplexes Geschmacksbild zwischen Nussigkeit, Frische und Süßsäuerlichkeit. Der Kollege kennt diesen Happen bereits aus dem ›Silver‹, schon dort war das sehr stark.
Beim nächsten Snack sitzt eine Art Päckchen aus saftigem Hummerfleisch mit Estragon auf einem knusprigem Kartoffelteigboden, obenauf superkrosse Kartoffelfäden und Lachskaviar. Das ploppt und knuspert, hat Schmelz, Biss und jede Menge Geschmack. Kurzum: auch dieses luxuriöse Törtchen bedient alle Texturbedürfnisse und balanciert meisterhaft zwischen lässiger Krustentiersüffigkeit und punktgenauer Präzision.
Das folgende Fingerfood weckt meine Skepsis: Falafel. Die frittierten Bällchen aus Kirchererbsenpüree waren nie wirklich mein Fall. Hier nun ist der Teig unter der krossen Hülle auffallend aromatisch und besonders fluffig. Eine Füllung aus Ezme (eine scharfe Würzpaste) sorgt für überraschenden Gaumenkitzel, etwas Joghurt zum Dippen, Petersiliencreme und säuerlich eingelegte Zwiebelstreifen komplettieren das sehr authentische Geschmacksbild. Ein Favorit ist das zwar nicht, aber immerhin die beste Falafel, die ich je gegessen habe.
Ein Highlight stellt der letzte Snack dar – wobei »Snack« der falsche Begriff ist, denn das Menü, so viel verstehe ich schon jetzt, transzendiert die üblichen Unterscheidungen einer Menüfolge. Vor mir steht also ein kleiner Bao-Bun, der mit geschmorter Rinderbrust gefüllt ist. Das ist ausgezeichnet, wenngleich der Teig (wie so oft bei Bao-Buns) zunächst recht mundfüllend dominiert. Mit dem Kauen setzt sich jedoch das Topping immer mehr durch: gereifter Wagyu-Schinken aus dem Tessin – so aromatisch, wie ich Wagyu selten erlebt habe – vermischt sich mit dem fluffigen Teig zu einem absoluten Hochgenuss. Erstaunlich großartig.
Nach dieser Kaskade an kleineren Speisen kommt das erste Tellergericht auf den Tresen: Kaviar des renommierten Pariser Produzenten Kaviari ist mit Leche de Tigre und verschiedenen Gemüsen angerichtet. Hinzu kommt Limettenblatt als Aromenspender – ein, wie ich finde, schwieriges Gewürz, das selbst bei vorsichtiger Dosierung schnell parfümiert schmeckt. Hier nun setzt es einen duftigen Akzent, der zusammen mit der fruchtig-säuerlichen Tigermilch den Kaviar ganz erstaunlich nach vorne bringt. Dünne Scheiben von marinierter Gelber Bete, Radieschen, Rettich und Zucchini verleihen diesem Kaviarteller die Anmutung eines luxuriösen frühherbstlichen Salates. Man muss sich das alles ein wenig erschließen, dann schmeckt man, wie subtil, komplex und köstlich das Ensemble ist.
Im nächsten Gang werden »Tagliatelle« vom dänischen Tintenfisch serviert. Solche Tintenfisch-»Nudeln« sind als Standard in ambitionierten Küchen mittlerweile fast so omnipräsent wie marinierter Hamachi – doch nur selten gelingt die Inszenierung derart überzeugend wie hier, auch weil der Tintenfisch komplett verarbeitet wird: aus den gegrillten Abschnitten des Kalmars zaubert die Küche eine Brühe – ein heißes, duftendes Elixier von unglaublicher Kraft und Klarheit. Die Tentakeln kommen als goldbraune Knusperbrösel obendrauf. Das erinnert an Sizilien, wo man gerne geröstete Semmelbrösel auf die Pasta gibt. Auch die Beigabe von Wildem Brokkoli und frischer Minze verschiebt das Gericht sanft ins Mediterrane. Mehr als exzellent.
Sehr pur mutet das Fischgericht mit Zander aus dem Lago Maggiore an. Das saftige Filetstück ruht in einer aufgeschäumten Buttersauce, welcher ein Hauch Vanille eine verführerisch karibische Note verleiht. Hervorragender Fisch, hervorragende Sauce – mehr braucht es gar nicht.
Deshalb empfiehlt es sich auch, den dazu gereichten Teller separat zu verspeisen: Gurkensalat ist eine zu profane Umschreibung für diese abwechslungsreiche Gurkenvariation, die mit einer Chili-Vinaigrette leicht thailändisch und deutlich pikant abgeschmeckt ist. Nach der fülligen Sauce zum Fisch ist das sehr stimmig.
Als vegetarisches Intermezzo präsentiert sich eine Art Tortillafladen mit verschiedenen Tomatensorten, angerichtet als Kompott und Filets, vollreife Exemplare, besonders aromatisch und erstaunlich nuanciert in den geschmacklichen Unterschieden. Damit eine so reduziertes Gemüseinszenierung funktioniert, erfordert es neben besten Produkten auch ein außerordentliches Gespür für Proportionen und Würze. Hier sind es Fenchelblüte und ein paar duftige Basilikumblättchen, die das i-Tüpfelchen setzen. In seiner souveränen Schlichtheit ist das ein kleines Meisterstück.
Der Fleischgang präsentiert Reh aus Graubünden. Das Filet ist in Lardo gewickelt und wurde in schäumender Butter gegart, dunkelrot, saftig und kräftig. Dazu ein mit PX-Essig und Tannenöl originell abgeschmeckter Wildjus sowie Pfifferlinge: gebraten, als Püree und, besonders gut, als Chutney mit Sherry. Ein schönes Surplus bildet ein Chutney aus Jalapeños, dessen frische "grüne" Schärfe das Geschmacksbild auflockert. Angenehm überschaubar und ganz ausgezeichnet auch dieser Gang.
Den Übergang zu den Desserts markiert ein Eis vom Weinbergpfirsich, das so grandios schmeckt, dass ich mir die erwähnenswerte Herstellung erklären lasse: die Früchte werden im perfekten Reifegrad mit Zucker und Zitrone mariniert und eingefroren. In tiefgefrorenem Zustand werden sie mittels einer Kakigori-Maschine dünn gehobelt und auf Burataschaum mit Pfirischsirup, fruchtigem Olivenöl, einer Prise Salz und süßer Meringue serviert. Absolut fantastisch.
Weniger überzeugend fällt das, wenn man so will, »Hauptdessert« aus. Annonciert wird es als Zwetschge, Estragon und Koji, im Detail sind da verschiedene Zubereitungen von Zwetschge (Essigzwetschge, Zwetschgenröster, Powidel-Creme, Sud mit Estragonöl) mit einer Koji-Creme auf salzigem Crumble angerichtet. Bedeckt ist das Ganze mit Sauerampfer-Juliennes, einer Scheibe Zwetschgensorbet und Kalamansi-Schnee. Anders gesagt ist hier eine Menge los, und entsprechend überfrachtet schmeckt das Ganze dann auch. Zu dicht, zu massig, zu »dunkel« und zu kalt.
In den siebten Genusshimmel geht es anschließend noch einmal mit einer satten Bienenstich-Schnitte mit Holunderblüte und Rumparfait. Ein dekadentes Vergnügen, süß und cremig, üppig und doch wundersam leicht.
Sehr gut gefallen anschließend eine Erdnusspraline mit Schokolade und Vanille-Miso …
… und mehr noch eine Kirschtartelette mit kitzelndem Szechuanpfeffer und karamellisierter Meringue als gaumenschmeichelnder Schlusspunkt.
Tresenkonzepte mit einer Vielzahl kleiner und mittelgroßer Speisen gibt es mittlerweile wie Sand am Meer (wenn auch nicht in Deutschland). Doch nur selten geht das Konzept so gut auf, wie hier am Züricher Hauptbahnhof. Ich frage mich zwar immer, ob man wirklich jede Petitesse im Alleingang servierten muss, aber das sind am Ende wohlfeile Kritteleien. Dass Mitja Birlo in der Küche weiß, was er tut, war uns bekannt. Trotzdem ist es immer schön, auch hohe Erwartungen erfüllt zu bekommen. Der Guide Michelin hat gerade erst seine Einschätzung verkündet, wir nun auch. Das Restaurant ist noch keine elf Monate alt, man darf gespannt, wie es weitergeht.
Für uns endet der Abend, wie er enden muss: in einer der besten Cocktailbars der Stadt. Vom Tresen an die Bar, sozusagen. Im lässigen kleinen ‹Tales› serviert man exzellente Drinks, darunter einen Manhattan von Weltklasse. Es wird spät. Nightlife in Zürich, morgen Mittag wartet der nächste Tisch.
Kai Mihm
Wein
Champagner Frederic Savart | L'Accomplie | Frankreich
Champagner Dhondt - Grellet | Les Terres Fines | Frankreich
Domaine Didier Dagueneau | Blanc etc... 2019 | Frankreich
Equipo Navazos | La Bota 'Florpower 2019 | Spanien
Weingut Donatsch | Chardonnay Unique 2021 | Schweiz
Weingut Odinstal | Weissburgunder 2021 | Deutschland
Bodegas Vega Sicilia | Valbuena 5° 2007 | Spanien
Weingut Knebel | Röttgen Kabinett 2021 | Deutschland
Champagner Delalot | Impressions | Frankreich