Alois, München – Frischer Wind
Im Gourmetrestaurant des Münchner Delikatessenhauses ‹Dallmayr› war in den letzten Jahren einiges los. Auf den langjährigen Küchenchef Diethard Urbansky folgte 2018 Christoph Kunz, der sich 2022 wieder verabschiedete (und inzwischen ein eigenes Restaurant eröffnet hat). Sein Nachfolger wurde der Österreicher Max Natmessnig, der jedoch angesichts eines nicht ablehnbaren Jobangebots aus New York City nur ein Jahr blieb. Nach einem Interimszeit mit Miguel Marques als Küchenchef leitet seit November 2023 Rosina Ostler die Küche des ‹Alois›. Können Sie noch folgen?
Der Guide Michelin verlieh dem Restaurant zwar durchgehend zwei Sterne, aber für ein so traditionsreiches Haus wirkte das alles ganz schön stürmisch – passend zum Wetter am Tag unseres Besuchs. Dennoch spricht einiges dafür, dass das ‹Alois› mit der Ernennung von Rosina Ostler in ruhigere Fahrwasser kommt.
Dass die 32-Jährige aus München stammt passt schonmal sehr gut. Nach diversen Küchenpraktika absolvierte sie ein Master-Studium an der Universität für Gastronomische Wissenschaften im Piemont, gefolgt von einer Kochausbildung sowie Stationen in der ‹Schwarzwaldstube› und dem ‹Maaemo›. Für dessen Osloer Schwesterlokal ‹Mon Oncle› erkochte sie 2022 einen Michelinstern. Wir haben hier also handfeste Praxis und akademische Vertiefung, Tradition und Innovation – allein dieser Kontrastreichtum macht uns neugierig.
Wir kommen vom ‹Es:senz› am Chiemsee nach München, die Nacht war lang und die Anreise etwas hektisch. Draußen regnet es Bindfäden, drinnen ist an diesem Mittag jeder Tisch besetzt. Am salonartigen Interieur hat sich nichts verändert. Der Menüaufbau scheint sich gleichermaßen am Vorgänger Natmessnig und am «Maaemo» zu orientieren, mit einer umfangreichen Abfolge kleiner Happen und mittelgroßer Gerichte – mittags leicht verkürzt.
Im charmant-kundigen Restaurantleiter und Sommelier Julien Morlat treffen wir auf ein vertrautes Gesicht. Ein hervorragender Champagner ist auch gleich im Glas (Egly-Ouriet, «Les Vignes de Bisseuil»). Durchatmen, ankommen, dann geht es los.
Den Auftakt mache eine heiße Gemüseessenz auf Basis von gegrillter Gurke, aromatisiert mit rotem Reis, Gurkenessig und einem Hauch Bärlauch-Wasabi-Öl – das schmeckt einerseits sehr »klar«, aber auch so dicht und kraftvoll, dass man nach dem ersten Schluck direkt etwas aufrechter im Stuhl sitzt.
Auf die »dunkle« Hitze der Essenz folgt eine »helle« und kühle Kreation aus hauchdünnen Kohlrabistreifen, die mit Miso-Eis gefüllt und mit Austernblättern, Muskatblüte und Algenpuder gewürzt sind – ein in jeder Hinsicht stark verdichteter Happen, der Frische und Strenge, Umami und leicht maritime Aromen zusammenbringt. Für den Einstieg sicher kein triviales Geschmacksbild, durchaus etwas spröde, und nach der kräftigen Suppe ein weiterer »Wachmacher«.
Etwas sanfter, aber nicht weniger spannend wird es bei einer Nori-Tartelette mit Ricotta Salata (letzteren nur für mich, anstelle der vorgesehenen Auster). Zusammen mit Senf, knackigem Kopfsalat und verschiedenen Kräuterblättchen ergibt sich ein enorm frisches, geradezu »saftiges« Geschmacksbild zwischen Pikanterie, knackiger Sommerfrische und süffiger Cremigkeit. Sehr stark.
Es folgt eine regelrecht »anarchisch« aussehende Croustade aus knusprig frittierter Kartoffel, deren wild-wellenartige Form einen reizvollen Kontrast zum klar konturierten Porzellantablett bildet, auf dem man sie serviert. Aber das nur nebenbei. Befüllt ist das Gebilde mit Stücken Roter Garnele in einer säuerlichen, überraschend pikanten Marinade, harmonisiert von wolkigem Kartoffelschaum. Etwas Cayennepfeffer und hausgemachter Bottarga runden diesen außergewöhnlichen, vollmundigen Happen ab. Schon jetzt ist bemerkenswert, wie souverän Rosina Ostler mit markanten Aromen jongliert, ohne dass es plakativ schmeckt. Alles bleibt transparent, klar und fein.
Das gilt auch für eine knusprige Croustade aus Kastanienteig, bei der ein exzellent gewürztes Wildschweintatar von süßlich-frischem Waldmeistergelee bedeckt wird – Kastanie, Wildschwein, Waldmeister: das harmoniert so wunderbar, wie es sich liest. Ein entscheidendes Detail besteht darin, dass das Gelee analog zum Tatar feingehackt ist: dieser Kniff verhindert am Gaumen einen unschönen »Glibbereffekt« sowie eine zu starke Waldmeisterparfümierung, weil die Geleewürfelchen sich direkt mit dem Fleisch vermischen. Saustark (um Bild zu bleiben).
Sehr pur kommt der nächste Gang daher: In Räucheraal-Fett ausgebackene Kartoffel-Churros werden lediglich mit einer schönen Nocke Kaviar zum Bestreichen serviert – der Clous: der Kaviar umhüllt eine Mischung aus Räucheraal und Crème Fraîche. Es schmeckt… umwerfend gut. Da ist verführerische Knusprigkeit und schmeichelnde Fluffigkeit, cremige Frische, eine leichte Rauchnote und die luxuriöse Jodigkeit vom Kaviar. Es würde uns wundern, wenn diese souverän schlichte Götterspeise nicht zum Klassiker von Ostlers Küche avanciert.
Das folgende Gericht sieht wie eine kreisrunde Foie Gras-Terrine aus. Tatsächlich handelt es sich um ein Parfait von Saiblingsleber, das dem umstrittenen »Original« in nichts nachsteht, im Gegenteil: samtige Cremigkeit und fetter Schmelz werden hier um den intensiveren, dennoch feinen Geschmack der Fischleber erweitert. Eine Art Vinaigrette aus Holunderbeeren und Molke lockert die üppige Terrine auf, dazu reicht der Service ein fluffiges Milchbrot, das sehr viel leichter ist als die übliche Brioche, und sich als wichtiger Baustein dieser außergewöhnlichen Köstlichkeit erweist, nicht zuletzt zum lustvollen Auftunken der Reste.
Auf der Menükarte steht als nächstes Erbse, Hopfe, Apfelminze, eine leichte Untertreibung, denn in einem tiefen Teller finden sich: cremiges Erbsenpüree, knackfrische Erbsen und mildgeräucherter Stracciatella, verborgen unter zartbitteren Hopfensprossen, Erbsenblättern sowie einer Mischung aus Apfelminze, Korsischer Minze und Huacatay-Minze, deren ätherische Schärfe auffallend unterschiedlich ausfällt und dem Ganzen einen gehörigen »Kick« verleiht. Ein pikanter Erbsen-Hopfensud und etwas Zitronenöl unterstreichen die schleichende Intensität dieses sattgrünen Tellers. Die Kombination von schmeichelnder Cremigkeit und Kräuterfrische ist durchaus spannend, auf Dauer aber etwas wild und aromatisch vielleicht doch etwas zu, nun ja, »grün«.
Sehr viel gaumenschmeichelnder fällt eine Kreation auf Basis von Seeforelle aus. Der trockengereifte Fisch wurde gebeizt und in Mohnöl confiert. Auf dem zarten, durch die Mehrfachbehandlung auffallend aromatischen Filet findet sich eine herzhafte Kruste aus Mohnmisopaste. Deren dunklere Aromatik knüpft wiederum an einen Sud auf Fischfond-Basis an, der zwar vollkommen klar aussieht, jedoch durch chinesischen Rauchtee, Collatura di Alici, weißen Spitzpaprikasaft, Tomatenfond und Tomatenöl eine unglaubliche geschmackliche Tiefe bekommt, reich an Umami, aber auch fruchtig und aromatisch transparent.
In diesem Elixier verbergen sich, unter dem Fisch, frische Grüne Mandeln mit zartem Biss, dünne Scheiben marinierter Ananastomate, sowie hauchfeine Juliennes von gepickelter weißer Spitzpaprika. Ein durch und durch betörendes Gericht, dessen Magie gerade darin liegt, dass es sich keiner eindeutigen Geschmackswelt zuordnen lässt.
Sanft orientalisch gibt sich eine Erfrischung vor dem Hauptgang, die Dattel, Traube und Langpfeffer als Sorbet, Kompott und knackende Scheibchen kombiniert. Das schmeckt intensiv fruchtig, nicht zu süß, auf geheimnisvolle Art würzig und rundum originell.
Ein absolutes Highlight, so viel nehme ich vorweg, ist der Hauptgang. Auf dem Teller thront ein über Holzkohle gegrilltes Filet vom Rehbock, mit Gewürzhonig und Pfirsich appetitelich glasiert. Daneben ein »Schiffchen« aus marinierten Pfirsichscheiben, weißem Bohnenpüree und Pfirsichgel, dazu eine handwerklich meisterhafte Sauce aus Wildjus und fermentiertem Pfirsichsaft. Allein dieses Triumvirat rauchiger, wildfleischiger und fruchtig-herber Aromen ist fabelhaft.
Knuspernde Sonnenblumenkernen, die man in etwas Tahin drapiert hat, erweitern die Geschmackswelt um sanft orientalische Nussigkeit (optisch erinnert das wahlweise an Igel oder Stachelschwein). Den Clou bildet indes eine hausgemachte, cremige Hirsch-'Nduja, deren prononcierte Paprikaschärfe nochmal ein ganz neues Fenster aufmacht. Einfach nur »Wow«. Trotz der Vielfalt ist das alles wie aus einem Guss. Wir haben hier einen lupenreinen Drei-Sterne-Hauptgang – und mehr noch: eine Götterspeise.
Das Dessert rankt um Erdbeeren – der Plural ist bedeutsam, denn es geht um verschiedene Sorten: Mieze Schindler, Mara de Bois und Cléry Charlotte-Erdbeeren liegen als frische Früchte auf dem Teller, allein dafür gebührt der Pâtisserie höchstes Lob. Zusätzlich sind die Früchte aber auch in mannigfaltiger Weise verarbeitet, zum Beispiel als Sorbet, Mousse, Gel und als Erdbeerfinancier mit Grand Manier und Erdbeersirup – und da wird es schwierig, denn irgendwie schmecken einige der Komponenten eigentümlich artifiziell, sehr süß und wenig ansprechend. Sanshopfeffer und Zitronenverbene verstärken den parfümierten Gesamteindruck. Das ist zwar bedauerlich, fällt an dieser Stelle aber kaum mehr ins Gewicht. (Nebenbei unterstreicht das Dessert den Eindruck, dass Rot und Grün die dominierneden Farben des heutigen Menüs sind).
Versöhnlich stimmen die Petits Fours, die hier nur ausschnitthaft abgebildet sind. Sehr gut schmecken sie alle, auf genauere Notizen verzichten wir.
Rosina Ostler hat im ‹Alois› auf Anhieb die zwei Michelin-Sterne bestätigt. Das wundert uns nicht. Ihre Küche ist genussreich, dabei in positiver Weise »speziell«, mit klarer Handschrift und dem Mut, sich punktuell von geschmacksbürgerlichen Vorstellungen zu entfernen. Ins kulinarisch so reiche München bringt sie mit ihrem Stil nochmal einen frischen Wind, und zusammen mit Nathalie Leblond im ‹Les Deux› und Sigi Schelling im ‹Werneckhof› steht sie in der Stadt zudem für eine bemerkenswerte Frauenriege in der noch immer arg männlich dominierten Spitzengastronomie. Dessen ungeachtet muss man das heutige Menü schlichtweg hervorragend nennen – und das war nur das verkürzte Programm. Ein Grund mehr also, für eine zeitnahe Rückkehr.
Heute beenden wir den angebrochenen Nachmittag im brechend vollen ‹Dallmayr Grill› im Erdgeschoss des Hauses. Die Stimmung ist prächtig, das Publikum sehr »münchnerisch«, und bei Thunfisch-Tataki und ein paar Gläsern Comtes Lafon kommen wir am Hochtisch mit einem sympathischen älteren Ehepaar ins Plaudern, das ein wenig an Gerhart Polt und Gisela Schneeberger erinnert, und gerade im ‹Tantris› war. Ins ‹Alois›, so hören wir in tiefstem bayerisch, »wuin mia demnächst a no« – und sagen wir so: das halten wir für eine ausgezeichnete Idee.
Kai Mihm