Restaurantkritik 16.Februar 2025

Restaurant 141 – unverhofft kommt oft

Weiter in Tirol. Unsere nächste Station führt uns zurück Richtung Innsbruck, nach Mieming, ins Alpenresort Schwarz. Wir wussten absolut nichts über das Haus. Eine kurze Recherche ergibt, dass es Ende des 19. Jahrhunderts als kleiner Gasthof gegründet wurde und sich im Lauf der Generationen zu einem umfangreichen Luxusresort entwickelte. Das bis heute familiengeführte Hotel erstreckt sich über mehrere Gebäude, hat diverse Pool- und Wellnessbereiche sowie mehrere Restaurants, die sich offenbar nicht nur bei Hotelgästen reger Beliebtheit erfreuen. Allein ein Gourmetrestaurant gab es bis vor kurzem nicht. Womit wir beim Punkt unseres Abstechers wären.

Für uns ging das alles ganz schnell. Auf Instagram stieß ich eine Woche vor unserer Abreise auf ansprechende Postings zu einem Restaurant namens 141 by Joachim Jaud – ansässig im besagten Alpenresort Schwarz. Zumindest der Name des Küchenchefs kam mir bekannt vor, und tatsächlich gehörte Jaud einst zum Team von Christian Bau (und später von Christian Jürgens). Auf der Webseite des Restaurants ist zu lesen, dass Jaud einst im Alpenresort seine Ausbildung absolvierte und im Frühjahr 2024 zurückgekehrt ist, um das gastronomische Angebot um ein Gourmetrestaurant zu erweitern. Klingt spannend, also flugs die Reiseroute angepasst und einen Tisch für Freitagabend reserviert.

Das ‹141› befindet sich unmittelbar hinter dem großen Bar- und Loungebereich des Hotels (der im Bild im Hintergrund zu erahnen ist) und schließt gewissermaßen auch räumlich die Lücke zu den etablierten Hotelrestaurants. Viel Aufhebens wird um das neue Lokal nicht gemacht, man gibt sich diskret, und die kleine, schmiedeeiserne Eingangstür gegenüber der Küche könnte man leicht übersehen.

Das Interieur kombiniert moderne Sachlichkeit mit rustikaler Behaglichkeit, wobei wir mit den Tischen in »Momo«-Grau auch hier, wie schon im ‹Stüva›, nicht warm werden. So oder so: Es gibt nur sechs oder sieben Tische davon, und an diesem Abend sind fast alle besetzt (das Bild entstand am Ende des Abends). Beim Menü stehen fünf oder sieben Gänge zur Wahl (168 bzw. 198 Euro); die Weinkarte hat einen klaren Fokus auf Österreich, mit zahlreichen Flaschen im zweistelligen Bereich, aber auch einem DRC zum Preis eines vollausgestatteten Kleinwagens. Wir starten etwas bescheidener, mit einer Flasche 2020er Chardonnay »Löwengang« von Alois Lageder zu (sehr moderaten) 120 Euro.

Zunächst aber gibt es ein Glas Champagner (Charles Heidsieck »Rosé Réserve«), dazu zwei Amuses: Ein ungeheuer filigran knuspernder Strudelteig-Cannelloni ist mit intensiv-aromatischer, dabei hauchzarter Räucheraalmouse gefüllt; auf dem Röllchen liegt ein Gelee aus Gin-Tonic, gepickelter Gurke und Dill, was die dunklen Aal-Aromen herbsäuerlich auffrischt. Stark, sehr.

Ebenso exzellent schmeckt eine hauchdünne skandinavische Waffelrosette (das ‹Jordnær› lässt grüßen) mit Tomatenfrischkäse, Kürbiskernpaste und Tatar von frischem und eingelegtem Gemüse mit Wassermelone.  Das hat Umami und Frische, Crunch und Cremigkeit, Frucht und Säure, alles auf der ultrakrossen Waffel ideal ausbalanciert.

Küchengrüße können täuschen, aber wenn dieses Eröffnungsduo irgendeinen Hinweis auf die zu erwartende Qualität des Menüs gibt, steht uns ein großer Abend bevor (Spoiler: es wird ein großer Abend).

Nach einem sehr guten Brot-Intermezzo startet ohne weitere Umschweife das eigentliche Menü: Eine geschmorte weiße Zwiebel ist mit Kalbstatar gefüllt und sitzt in einer tiefgrünen, warmen Kräutersauce mit grüner Paprika, Yuzu-Kosho und Gurke. Der erste Löffel ist von überwältigender Intensität – die weiche Zwiebel und das mit Rinderfettmayo (!) angemachte Fleisch bündeln sich zu einer schwindelerregenden Umami-Kernschmelze. Verstärkt wird das durch den Warm-Kalt-Effekt von Sauce und Tatar. Sauerteigbrösel und frittierte Kapern steuern Knusprigkeit und noch mehr »Power« bei. Das ist in jeder Hinsicht »stark«, als Menüeröffnung aber auch eine Ansage.

Man kann nicht sagen, dass die Küche beim nächsten Gang abbremst. Auf dem Teller ruht ein Carabinero, der in der Schale über Holzkohle gegrillt wurde. Man sieht das Prachtexemplar zunächst kaum, weil es von kleinen Scheiben Gelbe Bete sowie Safransenf, Zitrusgel und etwas Püree von gelber Paprika, gelber Tomate und Süßkartoffel bedeckt ist. Diese Präsentationsform macht besten Sinn, denn man bekommt bei jedem Schnitt von allem etwas auf die Gabel, was zu einem wundervollen Mischgeschmack führt. Nussige Krustentierintensität – die beim Carabinero wesentlich ausgeprägter ist, als etwa beim Kaisergranat – und süßsäuerliche Garnitur verschmelzen zu einem geradezu naturgegebenen Hochgenuss.

Die Provenienz des Carabinero wird in der Speisekarte nicht genannt, wozu auch, die hervorragende Qualität zeigt sich mit jedem Bissen. Nur darauf kommt es an. Nicht zu vergessen ein fabelhafter, vielleicht eine Spur zu cremiger Bouillabaisse-Sud, der die Krustentieraromen in flüssiger Form spiegelt. Gelb-Orange ist das farbliche Leitmotiv dieses Tellers, wie ein Symbol für die sonnig glühende Intensität, die man Gabel für Gabel am Gaumen spürt.

Nach zwei recht massiven Gerichten schaltet die Küche einen Gang zurück. Eine Tranche sanft gegartes Kabeljaufilet wird mit angenehm luftigem Sellerie-Zitronenpüree und einem Ragout von Stabmuscheln, Fingerlimette und neckisch ploppendem Saiblings- und Forellenkaviar serviert. Vor allem das hochfein abgestimmte Ragout verleiht dem, wie üblich, eher geschmacksneutralen Fisch den nötigen Pep. Eine Nocke nussiger Aki-Imperial Kaviar und eine herausragend gute Vin-Jaune-Sauce runden dieses klar konturierte, angenehm säurebetonte Gericht ab. Mehr gibt es da nicht zu sagen. Exzellent.

Und noch einmal Fisch: Ein Stück appetitlich gebratener Seeteufel badet in einem dichten Waldpilz-Sojafond, angereichert mit einigen Spritzern Liebstöckel- und Vadouvanöl, deren funkelnder Glanz das Auge erfreut, während der Geschmack das »waldige« des Fonds unterstreicht. Der typisch festfleischige, dabei auffallend saftige Seeteufel ist mit gebratenen Maitake-Pilzen und Topinambur-Miso-Püree bedeckt – falls noch nicht ausreichend Umami-Süffigkeit im Spiel sein sollte. Krosse Hühnerhaut und roh marinierte Topinamburscheibchen sorgen für knuspernd-knackige Kurzweil, während Kalamansi (als Essig und Gel) einen subtilen, aber bedeutenden Fruchtakzent setzt.
Bemerkenswert ist die genussreich-kompakte Anrichteweise, die dafür sorgt, dass man fast alles zusammen auf den Löffel bekommt: Fond, Fisch, Pilz und Püree. Das ist in Summe vielleicht ein bisschen zu gefällig und etwas zu forciert »umami«, aber immer noch mehr als sehr gut.

Weinseitig ist die Sache etwas ausgeufert. Parallel zum »Löwengang» trinken wir inzwischen eine von Sommelier Christian Auer offerierte, überraschend burgundische Cuvée der Wagramer Weinmanufaktur Clemens Strobl (»Arcanum XXX - Sommelier Edition by Christian Auer«, 2021). Daneben haben sich ein paar Gläser aus dem Pairing angesammelt. So macht das Freude, insbesondere zu einem Menü, das schon jetzt alle Erwartungen hinter sich lässt.

Weiter im Menü. Das erste Fleischgericht stellt Wachtel in den Mittelpunkt. Das freut mich sehr, denn dieses Geflügel wurde kulinarisch viel zu lange unterschätzt (eine rühmliche Ausnahme bildete die ‹Schwarzwaldstube›). Es dürfte Jan Hartwig mit seiner »soufflierten Wachtel« zu verdanken sein, dass der Vogel wieder etwas mehr en vogue ist (siehe auch das ‹Es:senz›).

Aber ich schweife ab… Joachim Jaud grillt die Wachtelbrust über Holzkohle, brät die Keulen in Butter knusprig braun und richtet beides mit mariniertem Radicchio Tardivo und getrocknetem Pata Negra an. Ein absolut großartiger Hochgenuss aus saftigem Fleisch, eleganten Bitternoten sowie einem exzellenten, mit fruchtigem Grünem Pfeffer aromatisierten Wachteljus.

Doch es wird noch besser, denn unter dem genussfördernd kompakt angerichteten Fleisch finden sich ein Klecks cremiger Sauce Mornay, gehobelter schwarzer Trüffel sowie Radicchiostreifen, die in Trüffel-Madeira-Jus weichgeschmort wurden. Süffiger geht es eigentlich gar nicht. Das alles ist von meisterhafter Handwerkskunst, schlicht und zugleich raffiniert, durchdacht, aber nicht verkopft. Ein Genusstaumel auf Alpenwolke 7, den Götterspeisen ganz nah.

Dieses Niveau wird nicht wirklich verlassen. Und es bleibt klassisch-modern. Rehrücken, in Wildgewürz kernig-zart gebraten, thront auf dem Teller mit einem Topping aus Lardo, eingelegter Rote Bete, eingelegten Heidelbeeren und rotem Sauerklee. In dieser erdig-fruchtigen Allianz, mit der die Küche typische Wildbegleitungen klug variiert, blitzt immer wieder der knackige Biss gerösteter Sonnenblumenkerne auf. Es sind genau solche Details …

Den Clou bildet indes eine Sauce Rouennaise, originalgetreu mit Blut gebunden, serviert in einer kleinen Kupferkasserole. Joachim Jaud vollendet die dunkle Sauce an jedem Tisch mit einem Löffel Schlagsahne zu einem samtigen Hochgenuss. (Zugleich erläutert er, dass er dieses Gericht aus seiner Zeit bei Christian Jürgens mitgebracht hat). Das kann man drehen und wenden, wie man will, Weltklasse bleibt es allemal.

Das Dessert – und das verblüfft – wird von Jaud für jeden Gast direkt am Tisch angerichtet: eine kreisrunde Schicht aus Schokopudding (Valrhona 72% Araguani) garniert er mit eingelegten Orangenfilets, gebrannten Pekannüssen, Zitrus-Baisertropfen, kleinen Mürbeteigstücken, Vanilleeis, Chips von karamellisierter Milchhaut sowie einer Orangensauce, die mit Vanille, Grand Marnier und Cointreau aufgepimpt wurde. Puh. Klingt vielleicht etwas überladen.

Dann der erste Löffel – und die erste Überraschung, denn der seidenzarte Schokopudding ist noch lauwarm! Wärme im Dessert, ich schreibe es immer wieder, ist ein ganz wunderbarer, leider sträflich vernachlässigter Effekt. Dazu das kühle Eis, die kurzweiligen Knusperelemente, die saftigen Orangenfilets und die dicht eingekochte, ganz leicht nach edlem Likör schmeckende Sauce – hier ist gar nichts überladen, sondern alles nachgerade perfekt. Oder besser gesagt: Götterspeisig.

Dieser Abend darf noch nicht enden, also fragen wir, ob die Küche vielleicht noch ein zweites Dessert in petto hat. Hat sie, und Nein, das bereitet wirklich keine Umstände. Ein wohliges Gefühl der Erleichterung und Vorfreude breitet sich aus ...

Wenige Minuten später erreicht uns eine unscheinbar aussehende Kreation zum Thema Himbeere. Eine Nocke Himbeereis ist mit hauchzarten Baiserstangen, marinierten Himbeeren und gebrannten Mandeln auf einer Nocke luftiger weißer Schokoganache angerichtet. Knuspernde Karamell-Schokoperlen setzen überraschende Akzente, doch der Star ist eine warme Champagnersuppe mit Himbeersauce. Ein herrliches Dessert, das wie die luxuriös verfeinerte Version von »Vanilleeis mit heißen Himbeeren« schmeckt. Kindheitserinnerungen, ein Gänsehautmoment.

Die abschließenden Petits Fours, oftmals ein Overkill, lassen wir nach dem hochkarätigen Dessert-Doppel nicht unangetastet: Es gibt Pralinen aus Frischkäse und Vanille (blau) sowie mit Amaretto und Kaffee (braun), außerdem ein Kirsch-Fruchtgelee mit kandierter Kirsche, ein großartiges Sternanis-Eiskonfekt und einen noch besseren Windbeutel mit Tonkabohne. Dazu gerne ein Espresso und ein doppelter Digestif, vielen Dank. Jetzt geht wirklich nichts mehr.

Angesichts der Tatsache, dass im ‹141› jemand aus der Schmiede von Christian Bau kocht, hatten wir durchaus hohe Erwartungen. Sie wurden übertroffen. Die zwei Sterne des Guide Michelin, die es einige Wochen nach unserem Besuch auf Anhieb gab, sind mustergültig platziert. Was Joachim Jaud – zumal mit einem kleinen Team von zwei Mann – auf die Teller bringt, hat uns tief beeindruckt. Womöglich spiegelt die personelle Überschaubarkeit sich auch in der raffinierten Reduziertheit der Gerichte wider: keine Spielereien, keine Pinzettenteller, sondern alles enorm konzentriert, kompakt, köstlich. Darauf kommt es an. Es sind nicht zuletzt solche überraschenden Entdeckungen, die den Reiz unsere Reisen ausmachen. Unverhofft kommt nicht immer – aber oft.

Kai Mihm

Wein

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