Willem Hiele – ich seh' die See
Noch vor zwei Jahren war uns der Name Willem Hiele kein Begriff. Allein durch begeisterte Berichte und reizvolle Fotos in den sozialen Medien wurden wir auf den imposanten Belgier aufmerksam, der durch seine Surf-Leidenschaft eine erste innige Verbindung zur See entwickelte. Über das Bäckerhandwerk kam Hiele zum Kochen, eine formelle Küchenausbildung absolvierte er nicht. 2015 eröffnete er sein erstes Restaurant im historischen Fischerhaus seiner Eltern und Vorfahren. Ende 2021, kurz nach Erhalt des ersten Sterns, schloss er das Lokal, um in Oudenburg, einer kleinen Gemeinde bei Oostende, neu anzufangen. Die Eröffnung fand im Herbst 2022 statt. Auch das bekamen wir eher zufällig mit.
Das Restaurant befindet sich in einem Wohnhaus, das in den Siebzigerjahren von dem Bildhauer und Architekten Jacques Moeschal für eine vermögende Unternehmerfamilie entworfen wurde. Der massive Backsteinbau gleicht weniger einer Villa, als einem Bunker, errichtet, um den Naturgewalten zu trotzen. Das passt insofern, als Willem Hiele aufgrund seiner von der Nordsee und offenem Feuer inspirierten Küche und wegen seiner äußeren Erscheinung – hochgewachsen, breitschultrig, mit dichtem Vollbart und wilder Haarmähne – auch »der flämische Wikinger« genannt wird. Soviel vorab: mit nordmännischer Grobheit hat sein Küchenstil rein gar nichts zu tun.
Vielmehr hat man beim Betreten des Gebäudes den Eindruck, sich in einer exklusiven Galerie zu befinden – oder in dem Film »The Menu«. Von einer dunkel gehaltenen Empfangshalle wird man durch die Küche in den lichtdurchfluteten Gastraum geführt, ein minimalistisch gestalteter »White Cube« mit leiser, moderner Musik und einer gewaltigen Fensterfront, die den Blick auf eine karge Küstenlandschaft freigibt. »Wir arbeiten nur mit Produkten, die wir von hier aus sehen können«, erläutert man uns das kulinarische Konzept.
Das wirkt alles weder prätentiös, noch museal, sondern ganz selbstverständlich. Noch vor dem ersten Gericht fühlt man die authentische Eigenartigkeit dieses Ortes. Dass es hier nicht konventionell zugeht, zeigt sich später auch bei den gänzlich untätowierten Köchen, die weniger wie die üblichen Küchenhipster wirken, sondern wie eine Clique von Surfern, Skatern und anderen Misfits.
Wir sind an diesem Samstagmittag die ersten Gäste, was zu einer kurzen, aber nicht unangenehmen Wartezeit führt, da das Menü für sämtliche Besucher gleichzeitig beginnt. Als Überbrückung dient eine kleine Auswahl an Crudités: Chicoree, Rüben und Radieschen bereiten zusammen mit einem mit verschiedenen Körnern angerichtetem Dip puristischen Knabberspaß, ohne spektakulär zu sein. Etwas spröde, aber nicht uninteressant, schmeckt ein parallel servierter Grünkohl-Chip mit Molé.
Kurz darauf geht es »richtig« los, mit einem Zweierlei von Sellerie, einmal als eine Art Grillspieß mit feinen Röst- und Karamellnoten, einmal als langsam im Ofen gegarte, saftig-weiche Tranche, deren natürliche, erdige Süße von einem intensiv reduzierten, feinherben Jus aus fermentiertem Sellerie komplimentiert wird. Stark.
Weiter geht es mit Meeresschnecken in einer intensiv grünen Kräutergazpacho aus Sauerampfer, Kerbel und Estragon, deren herber, »grüner« Geschmack im ersten Augenblick spröde wirkt, nach diesem kurzen »Schreckmoment« jedoch eine belebende Frische entwickelt, die ganz hervorragend zu den phänomenalen, knackig-saftigen Schnecken passt, welche in diesem Kontext fast eine gewisse Lieblichkeit entwickeln. Im Kern ist das eine so ungewöhnliche wie köstliche Nordsee-Variante des Klassikers »Schnecken in Kräuterbutter«.
Der nächste Gang präsentiert verschiedene Muschelsorten. Auf einem knackfrischen Salatherzblatt sind Stückchen von leicht scharf eingelegter Messermuschel angerichtet; eine exzellente Auster wird lediglich von etwas Creme fraiche getoppt, zarte Venusmuscheln von einem maritimen, an salzige Gischt erinnernden Schaum; eine rohe Jakobsmuschel ist mit Daikon und Nori zu einer Art Sushi gerollt und mit etwas Zitrusabrieb gewürzt. Das Highlight bilden für uns jedoch vollkommen naturbelassene, saftige Herzmuscheln, die intensiv nach kühlem Meer schmecken. Ein fabelhafter Auftakt, der auf so simple wie faszinierende Weise die ganze Muschel-Vielfalt demonstriert.
Auch der nächste Gang stellt Muscheln in den Mittelpunkt. Große Stücke zarter Messermuscheln sind mit Knollenziest in einer fantastischen Beurre blanc aus Dashi und Kardamombutter angerichtet. Die fast schon japanisch anmutende Schlichtheit dieses Tellers ist bezaubernd, der Geschmack berauschend – saftig, samtig, seelenwärmend. Selten, vielleicht nie, haben wir Schwertmuscheln in einer so präzise auf das Produkt fokussierten Inszenierung gegessen.
Weiter geht es mit halbgetrockneten Buchot-Muscheln, die mit einer zarten Pilzfarce gefüllt sind und in einer heißen, leicht aufgeschäumten Sauce aus Muschelfond und Kürbiskernmiso ruhen – schaumgeboren, wenn man so will. Das Nussige der Sauce, das Erdige der Füllung und die elegante Jodigkeit der saftigen Muscheln, Wald und Meer, aufs Köstlichste vereint.
Bislang ist das Menü hier einerseits eine eindrucksvolle Produktschau, und zugleich die Demonstration eines selten gewordenen Verständnisses von Reduktion und Klarheit.
Kurz darauf kommt Bewegung in den Gastraum. Auf einem Tisch in der Raummitte stellen Willem Hiele und drei seiner Köche den nächsten Gang fertig: Jakobsmuscheln, in der Schale gegrillt, werden geöffnet und in ihrer Schale serviert…
… Am Tisch wird ein mit Codium gewürzter Fond in die brennend heiße Schale gegossen, dass es nur so zischt. Als bedeutsam erweist sich ein Hauch Orangenschale, die im letzten Moment am Tisch über das Gericht gerieben wird. Sie würzt die perfekt gegarte, intensiv nussige Muschel mit sommerlicher Duftigkeit und steuert den Grillaromen gegen. Sogar der Rogen hat durch die Zubereitungsmethode eine spannungsvolle Textur und einen bemerkenswert vollen Geschmack bekommen. Einmal mehr wird hier ein oftmals trivialisiertes Produkt in herausragender Güte meisterhaft auf Punkt gebracht
Anschließend bittet man die Gäste in die Küche, die tatsächlich nicht viel größer ist, als eine herkömmliche Wohnhausküche. Während Willem Hiele von seinem Großwerden am Meer erzählt, von den Erinnerungen, Gerüchen und Geschmäckern, die er damit verbindet, filetiert er mit routinierter Sorgfalt Makrelen, die frisch aus dem Räucherofen kommen. Auch dies eine ihn prägende Kindheitserinnerung. Mit flinken Handgriffen legt er mundgerechte Stücke auf kleine Teller, die er zum sofortigen Verzehr an die Gäste weiterreicht – es sei bei dieser frisch geräucherten Zubereitung ähnlich wie bei Sushi: man darf nicht warten.
Tatsächlich hat der warme, fettreiche Fisch einen so umwerfend dichten, reinen und erstaunlich komplexen Geschmack, dass es einem fast einen Schauer über den Rücken jagt. Traditionsgemäß gibt es dazu eine Scheibe süßsäuerlich gepickelter Gurke. Besser kann man das nicht machen. Ein unvergesslicher Moment.
Zurück am Tisch wird kurz darauf Rotbarbe serviert. Moment… Rotbarbe? Auf die Frage, ob man von hier aus denn bis zum Atlantik sehen könne, erfahren wir, dass Rotbarben tatsächlich auch in der Nordsee vorkommen, wenn auch selten. Hiele brät den raren Fisch knusprig und serviert ihn lediglich mit einer Seeigelsauce. Das Filet schmeckt intensiv nussig, saftig und zart. Dazu die elegant jodige Sauce, die mehr eine Creme ist. Es hängt womöglich mit der Provenienz aus den kalten Gewässern der Nordsee zusammen, dass der Rotbarbe jene typische »Strenge« fehlt, die diesem Fisch manchmal zueigen ist. Einmal mehr haben wir das Gefühl, dass man ein altbekanntes Produkt genau so servieren sollte, so und nicht anders.
Vielleicht geht das aber auch nur hier und nirgends sonst, denn ganz nebenbei zeigt das heutige Menü einmal mehr, dass die Trennung von Speisen, Umfeld und Historie bei solcher Autorenküche immer eine anmaßende Illusion ist, eine eitle Prätention des Kritikers.
Beim nächsten Gang handelt es sich um Willem Hieles Signature Dish. In einer nostalgischen Kaffeetasse serviert man eine Krustentierbisque wie einen Cappucino. In separaten Schalen finden sich gepulte Nordseekrabben und goldgelbe, flüssige Stockfischbutter. Statt Löffel und Gabel wird Sauerteigbrot gereicht, zum alles Auftunken und Aufwischen. »Veranstaltet eine richtig schöne Schweinerei«, lautet die Ansage beim Servieren.
Am Besten tunkt man das knusprige Brot zuerst in die Butter, dann in die heiße Suppe, und nimmt zuletzt ein paar Krabben dazu. Es ist herrlich, einfach herrlich. Die heiße Bisque, deren Reste wir genüsslich ausschlürfen, gehört zu den besten ihrer Art, die Butter ist eine Wonne, die intensiven kleinen Krabben sowieso. Nichts bleibt übrig, außer einigen Krümeln und Flecken auf der schneeweißen Tischdecke. Mission erfüllt.
Nachdem wir im Vorfeld von Willem Hieles exzellenten Wildgeflügelgerichten gelesen hatten, sind wir ein klein wenig enttäuscht, als man im Haupttang Seeteufel aufträgt. Nichts gegen den Fisch, natürlich. Das gesamte Filet wurde am Knochen über Holzkohle gegrillt, dazu gibt es Totentrompeten und eine Sauce Bordelaise. Dies ist denn auch der erste Gang, der uns nicht recht überzeugt. Der Fisch ist saftig und zart, doch sein Eigengeschmack wird von den starken Grill- und Raucharomen überlagert. Die dunkle Aromenwelt von Pilzen und Rotweinsauce verstärkt diesen Eindruck noch. Kein »schlechter« Gang, aber klar hinter allen bisherigen Gerichten.
Beim Dessert verlässt die Küche erstmals die Regionalschiene und kombiniert Schokolade, Nusseiscreme und Kaviar. Das Eis ist sehr gut (auch die Alternative mit Vanille), der Kaviar ebenso, aber wirklich begeistern kann das Zusammenspiel nicht, was auch damit zusammenhängt, dass der Kaviar ziemlich untergeht. Was bei den herzhaften Gerichten so glänzend funktionierte, nämlich eine Reduktion auf das absolut Wesentliche, wirkt hier forciert.
Für Heißgetränke und Kleingebäck werden die Gäste in eine lichtdurchflutete Lounge gebeten. Moderne Kunst, ein wie beiläufig abgestelltes Surfbrett, eine gut bestückte Bar und ein DJ-Pult geben dem Raum, der früher vermutlich das familiäre Wohnzimmer war, ein urbanes Club-Feeling.
Hier klingt der Nachmittag gemächlich aus, bei einer Tasse Tee und ein paar sehr guten süßen Schweinereien …
… gefolgt von einem perfekt gemixten Negroni. Einfach alles hier hat Stil. Vor allem die Küche, deren Klarheit und radikaler Fokus auf herausragende Produkte uns noch Wochen später durch den Kopf geht. Die Muscheln, die Schnecken, die Rotbarbe … alles ist noch vollkommen präsent.
Während des Schreibens dieser Zeilen erreicht uns die Nachricht vom ersten Stern für das Restaurant. Das ist mehr als gerechtfertigt. Doch dass Willem Hiele und sein Schaffensort außerhalb Belgiens kaum bekannt sind, ist ein für uns nicht nachvollziehbarer Zustand. Der Mann mag äußerlich an einen Wikinger erinnern, aber sein Kochstil hat eher etwas von einem Florettfechter, von stürmischer Eleganz, gradlinig und zielsicher. Bei uns mitten ins Herz.
Kai Mihm