Restaurantkritik 18.Oktober 2023

Widder, Zürich – vom Kalb geküsst

»Zurück in Zürich« heißt für uns spätestens seit 2020 immer auch: zurück ins ›Widder‹. Seit die Mannschaft um Stefan Heilemann vom Stadtrand in die Innenstadt umgesiedelt ist, gibt es in jedem Wortsinn kein Vorbeikommen mehr an der Küche des 41-jährigen Schwaben. Zwei Michelin-Sterne gab es bekanntlich auf Anhieb, an weiteren Ambitionen lässt Heilemann keinen Zweifel. Das Potential ist vorhanden, daran muss die Küche sich im Grunde schon jetzt messen lassen.

Deshalb halten wir uns auch gar nicht mit weiterem Vorgeplänkel auf, sondern kommen gleich zum Wesentlichen, dem Menü. Für Impressionen und Gedanken jenseits dessen verweise ich auf unsere Berichte von 2022 und 2020 (kurz nach der Eröffnung). Heute nehmen wir, wie immer, am großzügig bemessenen, angenehm luftigen Chef's Table Platz. Den Gastraum, geht mir beim Schreiben dieser Zeilen auf, haben wir bislang noch nie beehrt.

Wir können uns mittlerweile kaum vorstellen, wie die Eröffnung eines Dinners bei Stefan Heilemann ohne das »Trio von der französischen Freilandente« aussieht. Es besteht seit Jahr und Tag aus der knusprigen Haut mit gehobeltem Fleisch, einen Leber-Sandwich sowie einem gefüllten Bao Bun. Dabei wird natürlich immer ein wenig optimiert und variiert. Die Füllung des Bun ist heute beispielsweise merklich schärfer als beim letzten Besuch, der Bun selbst hingegen wirkt weniger fluffig. Die Haut punktet vor allem mit Crunch und sattem Umami, während die Leber in Kombination mit Aal heute besonders üppig und sinnlich daherkommt. Einerseits würden wir von Heilemann gerne mal ein paar neue Amuses sehen, andererseits möchten wir auf diesen stets überzeugenden Klassiker nur ungern verzichten.

Die ›Living Circle‹ Hotelgruppe, zu der auch das Hotel Widder gehört, betreibt nicht nur exzellente Hotels, sondern verfolgt auch einen Ansatz von Self-Sustainability. Zum ›Castello del Sole‹ in Ascona (Bericht hier) gehören beispielsweise vierzehn Hektar Agrikulturfläche, auf der unterschiedlichste Gemüsesorten angebaut werden. Zum Potfolio gehören außerdem eine eigene Reisfarm, eine Hühnerzucht und eine Rinderfarm im Schweizerischen Jura.

Das dort produzierte Fleisch lässt Heilemann beim renommierten Affineur ›Luma‹ reifen und verarbeitet es heute für den letzten Küchengruß zu einem Rindertatar. Auffallend ist die kühle Temperierung, die dem kräftigen Geschmack des qualitativ hochwertigen Fleischs aber keinen Abbruch tut. Geeiste Senfperlen und Zwiebeln steuern eine für die ›Widder‹-Küche typische, wenngleich hier eher zahme Schärfe bei, erweitert durch die Süßlichkeit der Röstzwiebel. Sehr schön.

Balfego-Thunfisch und betronischer Seeigel mit Oscietra Kaviar aus dem Hause Prunier kennen wir von früheren Besuchen. Bei unserer letzten Visite hatte ich die Kombi als Heilemanns ersten waschechten Drei-Sterne-Teller gelobhudelt. Einen Hochgenuss bietet auch die heutige Spielart mit Rettich und Dill, wenngleich das Kraut eine etwas zu dominante Rolle spielt. Zudem ist die Salzigkeit hart an der Grenze. Das ist Kritik auf höchstem Niveau, doch dorthin strebt Heilemann bekanntlich. Dieser Kritikpunkte ungeachtet scheint mir die heutige, weniger fruchtige Komposition an sich noch eine Spur schlüssiger, als bisher. Paradox? Einerseits Ja, andererseits Nein. Das Fresserleben ist nicht immer nur Schwarz und Weiß.

Nach insgesamt acht Jahren als Küchenchef haben sich bereits eine Handvoll Klassiker aus des Chefs Schmiede kristallisiert, die man in Varianten regelmäßig auf der Karte findet. Heute werden munter Kaisergranat und Carabinero kombiniert, beide von herausragender Qualität, die in einer würzig-säuerlichen Tom Yum Suppe schwimmen. À part gibt’s fluffig-lockeren Fried Rice, der handerklich wie aromatisch seinesgleichen sucht, und einen Spicy-Gurkensalat, der in Sachen Schärfe gnädig ausfällt (zumindest für Heilemann-Verhältnisse). Das ist thailändisch inspiriertes Soulfood bester Güte, zum Weglöffeln süffig. Allerdings warnt uns der Chef beim Servieren, dass noch durchaus Gehaltvolles auf dem Programm steht. Weshalb wir vom braven Aufessen absehen. Dabei wir gerne alles vertilgen, bis zum letzten Reiskorn. Und nachordern. So gut ist das.

Es geht jetzt Schlag auf Schlag. Heilemann unterstreicht seine Vorwarnung mit der Präsentation eines an der Gräte gebratenen Rückenmittelstücks von einem Zehn-Kilo-Steinbutt. Das Prachtstück wandert zurück in die offene Küche und steht kurz darauf mit Rindermark, Bärlauch und Gillardeau-Austern vor uns. Mit diesem Gang schießt die Küche  übers Ziel hinaus. Und das hat nichts mit der üppigen Portion zu tun. Zwar verträgt der Butt durchaus kräftige Aromen, nur passiert hier einfach zu viel, worunter schlussendlich die Harmonie leidet. Rindermark und Bärlauch bilden gemeinsam eine mundfüllende Wucht, die den Blick aufs Wesentliche verschließt. Zudem sind wir uns nicht sicher, ob die jodige Auster und der erneute Einsatz von Kaviar das Gericht wirklich sinnvoll ergänzt. Wo Süffigkeit entstehen soll, wirkt hier alles etwas »speckig«.

Der Hauptgang unter der schlichten Überschrift »Innerschweizer Kalb in zwei Gängen« liest sich einigermaßen harmlos. Als Maître-Sommelier Stefano Petta jedoch vorsichtig eine Suppenterrine mit Teigdeckel präsentiert, dämmert es langsam: Eine Hommage an Paul Bocuse! Und zwar in Form einer Kalbsschwanzessenz mit (reichlich) Perigord-Trüffeln, Foie gras und Liebstöckel. Wie das nur schon duftet, als der Deckel langsam und vorsichtig mit dem Messer gelöst wird! Was sich olfaktorisch ankündigt, setzt sich gustatorisch nahtlos fort. Unheimlich dicht und tiefgründig schmeckt dieses Elixier, ist von glasklarer Eleganz und zugleich geradezu benebelnd gut. Klassische Schule in Perfektion. Monsieur Paul nickt das von oben ab und würde ebenfalls eine lupenreine Götterspeise attestieren.

Auch bei Gang zwei vom Kalb handelt es sich um eine Hommage an einen Jahrhundertkoch: Eckart Witzigmann. Heilemann bereitet dessen Kalbsbries Rumohr (benannt nach dem Gastrosophen aus dem 19. Jahrhundert) mit Entenleber »Label rouge« (statt Gänseleber) und Estragon-Béarnaise (statt Champagnersauce) zu.

Eine Steigerung schien nach der Suppe kaum möglich, doch schon der erste Bissen beweist das Gegenteil: knuspernder Teig und schmelzende Füllung, zart und üppig, kräftig und doch elegant. Wohlige Schauer jagt uns das über den Rücken. Gefolgt von ungläubigem Kopfschütteln und Tränen in der Startlöchern. Das ist so unfassbar gut, dass herkömmliche Kategorisierungen nicht ausreichen. Götterspeise sowieso. Bester Hauptgang des Jahres auch. Womöglich einer der besten all unserer Erlebnisse. Wie an den ersten Kuss oder das erste Glas DRC werden wir uns zeitlebens an diesen Moment erinnern.

Nach einer angemessenen Pause, in der wir uns etwas sammeln, übernimmt die Pâtissiere das Ruder. André Siedl, der seit dem ›Ecco‹ an Heilemanns Seite zuckerbäckt, leitet mit Joghurt, Rote Bete, Pistazie und roter Shiso ein. Sehr charmant, gleichzeitig fordernd und die Sinne weckend. Wenngleich die Bete auf Dauer ein wenig zu stark in den Vordergrund rückt, bleibt das in seiner erdig-süßlichen Frische sehr schön.

Siedls soufflierter Cheesecake wird zunächst im Ganzen präsentiert, um dann dankenswerterweise in verkraftbarer Portionierung auf den Tisch zu kommen (wir kämpfen inzwischen ein wenig mit maßgeblicher Sättigung). À part reicht man ein Kalamansi-Joghurt-Eis mit Rhabarber. Beim vorherigen Gericht lag der Reiz in der wohlschmeckenden Andersartigkeit. Hier nun stellt es sich genau andersherum dar. Die Aromen des fluffigen Cheesecake-Soufflé sind vertraut und gefallen durch ihre behagliche Unaufgeregtheit, das hervorragende Eis bietet einen säuerlich-frischen Kontrapunkt. Klassisch und köstlich.

Zum Schluss gibt’s eine kleine Auswahl hervorragender Mignardises. Im Detail sind das: Canelé mit Tonkabohne und Passionsfrucht, Bienenstich mit Honig »Terreni alla Maggia« und Mandel, sowie »André's Bananasplit«.

Damit endet eine neuerliche Tour de Force im ›Widder‹. Erstklassige Produkte und makelloses Handwerk darf man auf diesem Level erwarten; hinzu kommt hier jedoch ein Fokus auf eine, sagen wir: »barocke« Ausgestaltung, den man durchaus als persönliche Handschrift bezeichnen kann. Anders gesagt, fehlt hier eigentlich nichts mehr wirklich.

Doch im Grunde spielt es keine Rolle, was in irgendwelchen Guides steht, denn hier und heute wurde mit dem Doppelknaller-Hauptgang eine Dimension erreicht, die griffige Bewertungen mit Sternen oder Punkten ad absurdum führt. Es sind solche aufwühlenden Momente, die uns auch nach Jahrzehnten immer wieder in die spannendsten Restaurants der Welt treiben. Was zu der Frage führt, ob Genusserlebnisse wie heute bei der Kalbsessenz und dem Bries überhaupt reproduziert, geschweige denn getoppt werden können. Nun, wir werden es ausprobieren.

Thierry De Nullepart

Wein

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