Restaurantkritik 14.Januar 2024

Tisane – Stein auf Stein

Auch das gibt es: Alles ist geplant, die Restaurants sind reserviert, die Hotelzimmer gebucht, die Zugtickets gekauft. Und dann wird zwei Tage vor Abreise ein Lokführerstreik angekündigt. Was folgt ist ein fiebriges Checken der Bahnverbindungen zur Anreise, die innerhalb der nächsten 24 Stunden eine nach der anderen wegbrechen. Um es kurz zu machen: der vorgesehene Ablauf unserer Reise nach Nürnberg lässt sich nicht mehr halten. Am Ende verkürzen wir den Trip gezwungenermaßen auf eine Übernachtung und zwei Restaurantbesuche, Anreise in heillos verspäteten und gnadenlos überfüllten Zügen inklusive. Was tut man nicht alles, für ein (hoffentlich) hervorragendes Essen.

Die Wahrscheinlichkeit dafür steht nicht schlecht, denn am Ankunftsabend haben wir – das sind Christian und ich – uns zwei Plätze im ›Tisane‹ gesichert. Wir haben das Tresenrestaurant im Augustinerviertel erstmals kurz nach der Eröffnung Anfang 2022 besucht und waren von der Küche mehr als erfreut.

Wie bei solchen Tresenkonzepten nicht unüblich, beginnt das Menü für sämtliche Gäste zu einem festen Zeitpunkt. Im ›Tisane‹ ist das laut Webseite um viertel vor sieben. Nach einer kurzen Taxifahrt vom Hotel stehen wir überpünktlich um 18:40 Uhr vor der Tür. Drinnen herrscht in der offenen Küche hinter dem gewaltige Steintresen geschäftige Ruhe. Letzte Handgriffe für die ersten Happen, dazwischen wird ein Glas Champagner gereicht, nebenbei begrüßt Küchenchef René Stein neu eintreffende Gäste. Es macht Freude dabei zuzusehen, wie ein Restaurant langsam zum Leben erwacht.

Das Menü (190 Euro) ist ohnehin gesetzt, die Weinbegleitung liest sich ebenfalls ansprechend; die Side Bottle, einen 2015er Gutedel »Jaspis« von Ziereisen, hat Christian diesmal selbst mitgebracht. Gerne gleich in die Karaffe damit.

Die ersten Snacks (serviert wird vom Küchenteam): Auf einem kross getoasteten Brioche ist Taschenkrebssalat mit N25 Kaviar angerichtet – eine filigrane Interpretation des klassischen Akkords aus maritimem Schmelz und warmer Knusprigkeit, raffiniert aufgepeppt mit einer dünnern Schicht Estragon-Mayonnaise. Exzellent. Daneben findet sich ein kleines Glas mit heißem »Tisane« (sprich: eine Art Tee bzw. ein Fond) von Taschenkrebs, fermentierter Tomate und Paprika. Der dichte, vollmundige und komplexe Geschmack dieses unscheinbar gelblichen Elixiers trifft uns gänzlich unvorbereitet – intensiv, umami, mit einem Hauch Süße und jeder Menge Kustentierköstlichkeit. Ein Gänsehautmoment.

Das nächste Amuse variiert Topinambur: ein konfiertes Stück des Modegemüses ist mit einem Klecks Topinambur-Mayonnaise belegt, darauf einige goldbraune Brösel Topinambur-Crunch. Der geschmacklichen Erwartung an dieses Gemüse entsprechend, changiert das zwischen einer Süße und Erdigkeit, die entfernt an Artischocke denken lässt. Überraschend elegant, doch den größten Reiz bezieht der Happen aus dem Texturspiel zwischen Cremigkeit und Knusprigkeit. Sehr schön.

Der letzte Küchengruß zeigt dann wieder, wo es langgeht: zwei kleine Stücke von perfekt gegrilltem, intensiv nussigem Presa Iberico werden mit sautierten Winterlingen und einem fabelhaften Jus aus PX-Essig, Nussbutter und Ahornsirup serviert – nur ganz wenig, mehr eine sehnsüchtige, süßsäuerliche Ahnung, als eine »Sauce«. Eine kleine Nocke Butternutkürbispüree unterstreicht den wunderbar winterlichen Charakter dieser Miniatur, die das Zeug zum Hauptgericht hätte.

Das eigentliche Menü beginnt mit einer Velouté von Kartoffeln und Lauchherzen, eine samtig-süffige Köstlichkeit, in der sich neben kleinen Gemüsestücken auch gepuffte Kartoffeln finden, ein simpel klingendes, aber bedeutsames Aperçu. Einige Tropfen gegrilltes Lauchöl verleihen dem Gericht zusätzliche Tiefe. Wohlgemerkt handelt es sich bei meinem Teller um die vegetarische Variante des eigentlichen Gerichts, einer Austernvelouté. Doch von einem »Ersatz« kann keine Rede sein. Vielmehr ist bemerkenswert, wie hier ohne jegliche Luxusprodukte ein Gericht von luxuriöser Geschmacksfülle erzeugt wird. Stark.

Vegetarisch bleibt es auch beim nächsten Gang, einer Assemblage verschiedener Wintergemüse: da finden sich Blätter von Radicchio di Castelfranco und Schwarzkohl in süßsaurer Marinade, Scheiben von Gelbe Bete (fermentiert, dehydriert und mit Holundersud rehydriert) und ein dickes Blatt frittierter Wirsing. Dazu ein milder Holundersud, geröstetes Hefeöl und nicht zuletzt ein großartiges Sorbet von Rote Bete. Die subtile Vielfalt der Gemüse und die feinen Abstufungen der einzelnen Präparationen verleihen diesem Teller Spannung und Kurzweil. Kein »großes» Gericht, aber ein Köstliches.

Es geht weiter mit norwegischer Jakobsmuschel und Spinat. Bei der (halbierten) Muschel handelt es sich um ein perfekt gebratenes Prachtexemplar mit appetitlichen Röstspuren, »milchigem« Kern und jener typischen Spannkraft, die beste Qualitäten auszeichnet. René Stein serviert sie mit kurz gedämpften, dadurch unglaublich »pur« schmeckenden Spinatblättern, komprimiertem Spinat und vor allem einer  Spinatsauce, die durch Yuzu Frische und durch braune Butter eine mollige Fülle bekommt. Das ist jene Art Minimalismus, den wir lieben. Eine ganze Muschel hätte dabei sicher nicht geschadet, grandios bleibt es dennoch.

In der Küche wird derweil hochkonzentriert gearbeitet, nahezu wortlos, jeder kennt jeden Schritt, alles geht Hand in Hand. Am Tresen herrscht derweil muntere Stimmung, was gerade in Deutschland nicht in jedem Restaurant dieser Art so gut funktioniert.

Im nächsten Gang wird erneut ein Gemüse dekliniert, nämlich Blumenkohl. Unter kross frittierten Blumenkohlblättern (darauf muss man erst mal kommen) verbergen sich geröstetes Blumenkohlpüree und roh gehobelter Salat – knackige Frische und samtige Üppigkeit. Dieses Dreierlei sitzt in einem tiefen Teller in einer Hummerbisque, die – Zitat René Stein – »mit ‘nem arschvoll braune Butter« angereichert wurde. Die zartbraune Farbe gibt darauf bereits einen Hinweis, der Geschmack liefert den Beweis. Das ist fast zu viel des Guten. Aber eben doch nur fast.

Der erste Fleischgang des Abends präsentiert Taube. Wir kennen dieses Gericht so ähnlich vom letzten Mal, heute, in optimierter Form, ist es noch besser. Die Brust wurde in einem Wermut-Sud pochiert und anschließend geröstet. Das Resultat dieser Zweifachbehandlung ist saftiges, ideal roséfarbenes, sanft aromatisiertes Fleisch und appetitlich gebräunte Haut. Exakt fünf gepickelte Preiselbeeren setzen herbfruchtige Akzente, eine Taubenglace mit Wermut und Liebstöckel unterstreicht die subtile Eleganz dieses Tellers. (Notabene: René Stein hat einst bei Juan Amador gearbeitet, einem der versiertesten Saucenmagiere überhaupt). Und dann der Tortello, dieser wunderbare Tortello, hergestellt aus den Taubenkeulen, bei denen jede weitere Saucenzugabe nur vom Wesentlichen ablenken würde, nämlich dem makellosen Pastahandwerk und der satten Füllung. Noch ein zweites der kleinen Teile hätte es durchaus sein dürfen.

Wir rechnen nach diesem Highlight mit den Desserts…

… und tatsächlich wird nun ein Klassiker aus Steins Repertoire serviert: Ananas-Sorbet mit kandierter schwarzer Olive und Ölivenöl. Wir kennen diese Erfrischung von zwei früheren Besuchen bei Stein, einmal im ›Schwarzen Adler‹ und letztes Jahr hier im ›Tisane‹, und beide Male fanden wir sie großartig. Nicht so diesmal. Irgendwo kommt eine brutale Räuchernote her, die alles dominiert. An der Rezeptur sei nichts verändert worden, heißt es auf Nachfrage, was wir kaum glauben können. So oder so, ist das für uns leider ungenießbar.

Überraschend wird nun nicht das Hauptdessert serviert, sondern noch ein herzhafter Gang: eine kräftige Brühe (»Tisane«) mit einer vielfältigen Einlage aus Kräutern, gehobelten Egerlingen geröstetem Kohl, einem Eigelb in hausgemachter Sojasauce gebeiztem Eigelb – und dünnen Scheiben vom Sauerland-Waguy, die in der Suppe und am Gaumen förmlich schmilzen. Wir verstehen das gar nicht als »Hauptgang«, sondern als heißen, beruhigenden Abschluss des würzigen Menüteils. Sehr stark.

Nun kommt das erste Dessert, bei dem die Zutatenliste abschrecken könnte: Dinkel, Getreide, Wildreis. Klingt gesund, nicht köstlich. Aber Nein: Eine große Nocke erstaunlich wohlschmeckendes Dinkeleis mit einer sehr guten Sauce aus karamellisiertem Sauerrahm, Soja und Ahornsirup ist garniert mit gepufftem Getreide und Wildreis, beides leicht gesalzen. Das effektvolle Zusammenspiel von Herzhaftigkeit und Süße changiert mit jedem Löffel ein bisschen anders, es knuspert und kracht, schmeckt mal süßer, mal etwas salziger, bleibt aber stets ein »Dessert«. Hervorragend.

Das Hauptdessert kennen wir bereits vom letzten Besuch. Ofenwarme Buchteln, deren sorgfältige und aufwändige Zubereitung wir über den Abend hinweg beobachten konnten, werden mit Ahornsirup und einer dicken Kokos-Vanillesauce, die eher eine köstliche Crème ist, serviert. Man tunkt Stücke des warmen, fluffigen Hefegebäcks in die üppige, sanft exotische Creme und übergießt das Ganze mit herbsüßem Ahornsirup – oder umgekehrt, ganz egal, Hauptsache mit den Fingern. Es schmeckt fantastisch. Um genau zu sein schmecken diese Buchteln so dermaßen gut, dass ich mir den Rest für den nächsten Morgen einpacken lasse.

Das Menü dauerte ziemlich genau drei Stunden, ein angenehmer Zeitrahmen, und als wir gegen 22:30 Uhr als letzte Gäste aufbrechen, sieht die Küche hinter dem steinernen Tresen so ruhig und friedlich aus, wie bei unserer Ankunft. In den Stunden dazwischen wurden dort manche Gerichte produziert, die uns nachhaltig beeindruckten. Wir verfolgen René Steins Entwicklung nun schon seit einigen Jahren, kennen ihn sogar noch aus seiner Zeit bei Juan Amador in Langen, und es ist faszinierend zu sehen und zu schmecken, wie eine Küche immer besser wird, immer feiner in den Details, immer souveräner beim Fokussieren auf das Wesentliche, gerade auch in der Üppigkeit.
Ob unsere Bahn morgen fährt wissen wir nicht so genau, aber hier im ›Tisane‹ geht es immer weiter, Schritt für Schritt, Stern für Stern – oder vielleicht besser: Stein auf Stein.

Kai Mihm

Wein

Umfrage

Reduziert oder opulent - was bevorzugt Ihr?

 

Das könnte dich auch interessieren