Restaurantkritik 22.März 2023

Boury – Schönschrift

Als das Restaurant Boury im belgischen Guide Michelin 2022 den dritten Stern erhielt, mussten wir erstmal bei GoogleMaps nachschauen, wo es sich überhaupt befindet. Immerhin gibt es im kleinen Belgien satte 21 Zweisterner, da fällt der Überblick nicht ganz leicht. Wie die meisten der Spitzenrestaurants befindet sich auch das Boury in Flandern, genauer in der westflämischen Kleinstadt Roeselare, nahe der französischen Grenze. Eine Nähe, die sich noch zeigen wird.

Allerdings findet man das Restaurant nicht in der City, sondern in einem Wohngebiet, in einer herrschaftlichen Backsteinvilla, die zwischen allerlei Einfamilienhäusern deutlich heraussticht. Später erfahren wir, dass Küchenchef Tim Boury mit seiner Familie in dem Gebäude tatsächlich auch wohnt. Überhaupt die Familie: eine kurze Netzrecherche im Vorfeld förderte zutage, dass das Restaurant ein echter Familienbetrieb ist. Die Küchenleitung hat Tim Boury, der sich seine Sporen als Souschef von Sergio Herman im Oud Sluis verdiente; das Management liegt bei seinem Bruder Ben. Den Service leitet Tims Ehefrau Inge, ebenfalls eine ausgebildete Köchin. Das klingt schonmal sympathisch.

Die Anreise aus Kruisem, wo wir das Hof van Cleve besuchten, war kurz. Wir sind an diesem Mittag guter Dinge, wie immer, wenn es ein spannendes Restaurant zu entdecken gibt. Der Empfang durch Inge Boury ist von einer authentischen Herzlichkeit, die ihresgleichen sucht. Die Gestaltung des Gastraums gefällt mit wohltuender Schlichtheit, eine große Fensterfront gibt den Blick auf den großzügigen Garten mit futuristisch designter Champagnerbar frei. Wir sind früh dran, doch im Lauf des Mittags werden sich sämtliche Tische füllen. Mit drei Wochen Vorlauf überhaupt noch einen Tisch zu bekommen war reine Glückssache.

Wie in Belgien noch oftmals üblich, wird neben dem Degustationsmenü auch eine Auswahl à la Carte angeboten. Und wie ebenfalls üblich, besteht das Menü aus Gerichten dieser à la Carte-Auswahl. Hier sind sie teilweise leicht abgespeckt, da Tim Boury offenbar stets ein Hauptprodukt auf mehreren Tellern inszeniert. So oder so, soll es für uns das »Menü Boury« sein. Auf eine #sidebottle verzichten wir angesichts einer kurzen Autofahrt nach dem Lunch, ausnahmsweise.

Die ersten Snacks kommen im Viererpack auf den Tisch. Kleine »Köpfchen« junger Puntarelle, garniert mit Knusperbröseln, schmecken anregend bitter und recht »grün«, was durch einen Hauch gereifter Sojsauce aufgefangen wird. Nett. Eine Tartelette aus Codium, Lauch und Forellenkaviar bringt ein frische Meeresbrise an den Gaumen, dürfte aber etwas nachdrücklicher abgeschmeckt sein; ähnliches gilt für die ländliche Entsprechung dazu, eine Quinoa-Tartelette mit Wachtelei, Vin jaune und dünnen Portobello-Scheiben, bei der sich ein angenehmer Mischgeschmack einstellt, das Wachtelei zwischen getreidigen und erdigen Aromen jedoch etwas ins Hintertreffen gerät. Ein krosser Sandwich aus Tamarillo und Sanddorn, schließt den Reigen fruchtig-säuerlich ab. Das ist alles sehr gut, aber nicht spektakulär.

Prägnanter fallen die nächsten Happen aus, die in typisch belgischer Snack-Manier etwas Frittiertes als Basis nehmen: Ein knuspriges Teigkissen gefällt durch präzises Frittierhandwerk und eine anregende Kombination von erfrischender Estragonwürze und intensiv-meeriger Nordseekrabbe. Ein fluffiger, warmer Krapfen mit nussigem Taro, Toban Dijan (eine chinesische Mischung aus Chili und fermentierten Bohnen) und belgischem Wostyn-Senf findet erstaunliche Gemeinsamkeiten von chinesischen und belgischen Gewürzwelten. Beides erneut sehr gut, aber noch immer nicht recht auf dem vom Michelin attestierten Niveau.

Das erfüllt der nächste Snack, annonciert als ein Klassiker des Hauses: Ein hauchdünner Taco, gefüllt mit saftigen Hummerstücken, etwas Gurke, ein paar Kräutern und einer kleinen Zucchiniblüte, schmeckt in seiner Klarheit, seinem eleganten Texturspiel und seinem souveränen Fokus auf die schiere Güte des Hummers nicht weniger als Weltklasse.

Das Niveau bleibt auf diesem Level. Es werden zwei Schalen aufgetragen. In einer findet sich eine Mischung aus warmer Rote Bete und Räucheraal, bedeckt von einem Austernblatt und einer luftigen Champagner-Sabayon, deren animierende Säure das Fett des Aals und die Erdigkeit der Rübe kontert. Ein süffiger Hochgenuss, der von exaktem Handwerk und präziser Feinabstimmung lebt.

Nicht weniger grandios ist der Inhalt des zweiten Schälchens, der nach einem ähnlichem Muster aufgebaut ist: Bonnotte-Kartoffel, eine geschmacksintensive Sorte von der Île de Noirmoutier, bildet mit samtiger Safran-Aioli und leicht aufgeschäumtem Krustentierjus ein betörendes Ensemble. Das hat Biss und Schmelz, Finesse und Kraft, ist salzig und buttrig. Zwei, drei Löffel zum Augenschließen

Jetzt sind wir angekommen, so gehen drei Sterne.

Der erste nominelle Menügang stellt Roten Thun in den Mittelpunkt. Röllchen von Akami, dem mageren Rücken, sind mit diversen Kürbiszubereitungen und einer Kürbis-Molke-Sauce angerichtet. Die hintergründige Süße des Gemüses schmeichelt dem delikaten Thunfisch, kleine Röschen von wildem Brokkoli steuern eine dunklere, leicht nussige Note bei. Ein zurückhaltendes Gericht, auf dessen Nuancen man sich einlassen muss. Vielleicht ein bisschen zu hübsch-verspielt.

Dazu gibt es eine Tartelette von Akamai und Otoro mit Kürbis und Enoki-Pilzen, ein köstlich-vollmundiger Happen, knuspernd und fettschmelzend. Nicht so gut gefällt ein Nigiri vom Otoro, dem fetten Thunfischbauch. Nicht etwa weil es vorbereitet wurde, denn wir wissen, dass dies auch in Japan nicht unüblich ist und hervorragende Qualität bieten kann. Hier aber entsprechen der Reis und das etwas brüchige Nigiri-Konstrukt nicht der Qualität bei einem exzellenten Japaner. Die schiere Güte des Otoro steht dennoch außer Frage.

Es folgt eine Variation vom bretonischen Kaisergranat: auf dem Hauptteller sind kleine, nur leicht gegarte Stücke des Krustentiers mit knackigem Wassermelonenrettich, fermentiertem Fenchel und sorgfältig gearbeiteten, füllig schmeckenden Buchweizennudeln kombiniert. Ein erneut etwas verspieltes, aber delikates Ensemble, das leider auf einer geschmacklich undefinierten Creme angerichtet ist, die mit ihrer mayonnaisigen Textur alles zu verkleben droht. Mit spitzer Gabel fischen wir die festen Komponenten heraus. So schmeckt das sehr gut, aber ein unbeschwerter Genuss wird die Sache dadurch nicht.

Der heimliche Star dieses Gangs findet sich ohnehin in einer separaten Schale: Ein seidiges, ungemein leichtes Chawanmushi ist mit hauchdünn aufgeschnittenem Kaisergranat und transluzenten Radieschenscheiben bedeckt, für zarten Biss und hintergründige Schärfe. Eine leichte, aber präsente Vinaigrette benetzt den Gaumen mit limettiger Frische, spitzt die Papillen für sämtliche aromatischen Details. Ein betörender kleiner Nebenteller – nein, mehr als das: ein kleines Meisterstück.

Allerdings stellt sich heraus, dass all das nur eine Art Intro für den wahren Hauptdarsteller war, den man kurz darauf serviert: einen prächtigen, gerösteten Kaisergranat, saftig und nussig, von aufgeschäumter Thymianbutter überzogen und mit etwas Zitronenverbene gewürzt. Sonst nichts. Ein exzellentes Produkt in herausragend schlichter Inszenierung. Ein Gänsehautmoment.

Und einmal mehr fragen wir uns, welcher deutsche Drei- oder Zweisterner wohl den Mut zu so etwas hätte.

In eine ähnliche Richtung geht es bei der bretonischen Jakobsmuschel, die sanft gegart wurde und in mundgerechten Stücken lediglich mit etwas knusperndem und knackendem Topinambur sowie ein paar nussig-säuerlichen Portulakbättern angerichtet ist; am Tisch wird noch eine leichte Beurre blanc angegossen. Das Geschmacksbild ist absolut klassisch, die Umsetzung makellos. Ein Genuss, nicht »aufregend«, dafür wunderschön.

Mittlerweile ist das Haus voll, das junge Serviceteam hat alle Hände voll zu tun. Es herrscht eine prächtige Genussstimmung, die Sonne zeigt sich inzwischen auch. Am besten gefällt uns ein Tisch, an dem eine gut gelaunte, sehr betagte Seniorin in Begleitung ihrer erwachsenen Enkel sich das volle Menü samt Wein gönnt. Unser Rollenmodell.

Es folgt etwas Tableside-Action: eine in Heu gegarte Bonnotte-Kartoffel wird aus ihrer Hülle befreit...

...und mit Schnittlauch, Creme fraiche und etwas Salz zu einem üppigen Püree verarbeitet. Als Topping gibt es einen großzügigen Löffel Royal Belgian Caviar 'Boury Selection'; er enthält wenig Salz und wurde nur kurz gereift, was in einem sehr klaren Geschmack resultiert. Auch hier bewegen wir uns in einer vollkommen klassischen Geschmackswelt, bei der beste Produkte und exakte Zubereitung zu träumerischem Hochgenuss führen.

Allerdings wird der Teller nicht solo serviert, sondern zusammen mit Steinbutt, der auf zartem, leicht süßlichem Spitzkohl ruht und ebenfalls mit einer schönen Nocke Kaviar vollendet wird. Wir essen wohlig zwischen beiden Tellern hin und her, zwischen saftigem Fisch und üppigem Pürre, nussigem Kaviar und einer tollen Sauce. Letztere vergessen wir im Genussrausch zu notieren – irgendein großartiges Beurre blanc-Elixier, von dem kein Tropfen übrig bleibt. Alles zusammen ist nicht weniger als eine Götterspeise.

Der nächste Gang präsentiert sich ebenfalls luxuriös. Ein Stück Schellfischfilet ist mit einer hauchzarten Schwarzwurzel-Fischfarce und schwarzem Trüffel zu einem Päckchen gerollt. Obenauf liegt eine dicke Scheibe eingelegter Trüffel, beim Zerbeißen hörbar knackig und von elegant-erdiger Aromatik. Am Tisch kommen noch frischer Wintertrüffel und ein appetitlich glänzender Trüffeljus hinzu. Verblüffenderweise geht das Filet dabei nicht unter, vielmehr scheint der Trüffel die zarte Aromatik des Fischs erst richtig zu beflügeln. Ein überraschend subtiles Gericht, auf magische Weise vom flüchtigen Duft des Edelpilzes getragen.

Kaviar, Trüffel und nun Foie gras – hier feiert man wirklich alle klassischen Luxuszutaten ab. Entenleber wird in einer Schale als butterzarte Terrine mit frischen, saftigen Morcheln und jungen, süßlichen Erbsen inszeniert. Das funktioniert naturgemäß hervorragend – auch deshalb, weil die Leber auf dem warmen Gemüse langsam schmilzt und sich aufs Schönste mit Erbsen und Morcheln vermischt.
Dazu gibt es eine exzellente Brioche-Feuilleté sowie ein gepudertes Gebilde, das nach Science-Fiction aussieht, sich jedoch als Leber-Mousse erweist, aromatisiert mit Quitte, geräucherter Dattel und Macadamia. So wolkenzart und gut gewürzt diese Zubereitung auch ist, geht sie uns einen Tick zu sehr in Richtung Dessert. In Summe dennoch hervorragend.

Damit sind wir beim Hauptgang angelangt, der das unvermeidliche Waguy A5 vorsieht. Es mag ein Ausdruck bräsiger Dekadenz sein, doch anderes Fleisch ist uns inzwischen meistens lieber. Aber gut. Tim Boury serviert das verführerisch krustige Wagyu mit einer Sauce aus Garum, die zum Genuss vollkommen ausreichen würde. Wir sind noch immer der Meinung, dass man solches Fleisch möglichst ablenkungsfrei servieren sollte. Auch hier wirken verschiedene Zwiebelgewächse zumindest überflüssig. Ausgezeichnet gefällt indes ein hauchdünner Steckrüben-Raviolo mit schmelzigem Wagyu-Tatar, welches durch kleine Lauchzwiebelstücke einen reizvollen Crunch bekommt. Alles in allem dann doch ein mehr als sehr guter Hauptgang.

Die Stimmung im Restaurant ist so gut, unsere Laune noch besser, sodass wir den Nachmittag gerne mit einer Käseauswahl verlängern – und welch schöner Zufall, als die charmante Kellnerin schmunzelnd offenbart, uns noch aus dem Geranium zu kennen, wo sie einige Jahre arbeitete. Kleine Gastro-Welt…

Das erste Dessert besteht aus einem wolkenzarten Jasmin-Schaum, unter dem sich ein süßes Ragout aus Mandarine und Kalamansi verbirgt, welches mit Poudre d´Or gewürzt ist, einer karibischen Gewürzmischung, die mit wärmenden Aromen von Kardamom, Koriander, Kurkuma und vielem mehr bezaubert. Fabelhaft.

Das Hauptdessert rankt um Kokosnuss. Auf einem Teller finden sich Mousse von Grünem Tee und Kokosnuss, die als Ringe einen süßsauren Coulis aus Fingerlimette umschließen. In der Mitte findet sich eine Eiskugel aus Mucilage, dem weißen Fruchtfleisch von Kakaobohnen – eigentlich ein Abfallprodukt, obwohl es einen frischen und fruchtigen Geschmack hat, wie eine Mischung aus Fruchtsäften. Hier rundet es die charmant tropische, nicht zu süße Aromenwelt ab. Klasse.

In einer separaten Schale ruht eine Nocke cremig-süßes Kokoseis auf einem intensiven Passionsfruchtragout, wobei Kerbelwurzel einen pfiffigen, nussig-herben Akzent setzt und die Kombi vor der Klischeehaftigkeit bewahrt. Sehr stark.

Für die Petits Fours und Kaffee wird man in eine Lounge gebeten. Wie so oft sind wir für die süßen Naschereien leider zu satt. Wir probieren die sehr guten Cannéles, das muss heute genügen, die Güte der Pâtisserie steht nach den Desserts ohnehin außer Zweifel.

Die Sonne geht langsam unter, als wir Richtung Brügge aufbrechen. Es war zweifellos ein starkes Essen, hier in dieser stilvollen Villa, in der flämischen Provinz. Trotz eines etwas verhaltenen Auftakts und ein paar weniger überzeugenden Details, als die allerersten Gerichte sich in einer Art mitteleuropäischem Mainstream zu verlieren drohten, mit kleinteiliger Anrichte und modischer Präsentation. Aber wir sind nicht die Drei-Sterne-Polizei, und dessen ungeachtet gewinnt man ohnehin den Eindruck, dass dieser charmante Familienbetrieb ganz bei sich ist.

Begeistert hat uns die Küche am Ende sowieso, mit klassischen Geschmacksbildern, die mit makelloser Präzision auf die Teller kommen und durch einnehmenden Wohlgeschmack bezaubern. Das klingt so einfach und ist doch so selten. So richtig stilistisch einordnen lässt sich das Menü zwar nicht, doch wollte man nach einer »Handschrift« Tim Bourys fragen, wäre sie am ehesten »französisch« zu nennen – die internationale Schönschrift köstlichster Küche, egal ob in Paris, London, New York… oder Roeselare.

Kai Mihm

Wein

Ostertag . L'Exutoire 2018, Alsace, France
Luneau Papin . L D'Or . 2020, Loire, France
Clos Venturi . Brama . 2021, Corsica . France
Frontonio , Telescopico . 2018, Valdejalon . Spanien
Emrich Schoenleber . Mineral . 2021, Nahe . Deutschland
Domaine Des Pothiers . Fou De Chene . 2020, Roannaise . France
Michelini | Mufatto . En El Camino . 2019, Bierzo . Spanien
Maderista . Tinta Negra, Madeira . Portugal
La Chenade . Denis Durantou . 2016, Lalande De Pomerol . France
Vincent CarÊMe , Tendre . 2019, Vouvray . France
Tokaj , Royal Tokaji . 2018, Late Harvest . Ungarn

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