Le Petit Nice, Teil 1: Im Rausch der Tiefe
Tag drei in Südfrankreich. Das Licht, die Gerüche, das quirlige Marseille… irgendwie ist das alles ziemlich traumhaft hier. Zwei Restaurantbesuche liegen hinter uns, das L'Oustau de Baumanière und AM par Alexandre Mazzia. Beides relativ neue Dreisterner, beide stilistisch sehr unterschiedlich, beide auf unterschiedliche Weise sehr erfreulich.
Mit dem Le Petit Nice steht heute das dienstälteste Drei-Sterne-Restaurant der Region auf dem Programm. Wie so viele hochdekorierte Häuser in Frankreich befindet es sich seit Generationen in Familienbesitz. 1917 als bodenständiges Restaurant eröffnet, erfolgte in den 1960er Jahren der Umbau in ein Luxushotel mit Gourmetrestaurant. Unter der Küchenleitung des Juniors Jean-Paul Passedat gab es 1979 den ersten Stern, zwei Jahre später den zweiten. 1985 übergab Jean-Paul das Zepter an seinen damals 25-jährigen Sohn Gérald. Unter dessen Ägide erhielt das ›Petit Nice‹ 2008 den dritten Stern.
Es ist ein sonniger, warmer Frühlingsdonnerstag, als wir gegen dreizehn Uhr eintreffen. Das ›Petit Nice‹ findet sich etwas versteckt unterhalb der Corniche Kennedy, der schönsten Panoramastraße Marseilles. Tatsächlich muss man erst eine schmale, leicht abgerockte Gasse passieren, um zum Eingang zu gelangen. Das Restaurant liegt quasi auf den Klippen. Das sanfte Rauschen der Brandung und der salzige Duft des Meeres stimmen uns ein.
Drinnen ein Empfang mit ungekünstelter Freundlichkeit, dann direkt zu Tisch. Zur Wahl stehen mehrere Menüs, sowie eine Selektion à la Carte. Für uns soll es das siebengängige »Menu Passedat« sein (370 €), dazu eine Flasche von der bemerkenswert gastfreundlich kalkulierten Weinkarte: unser Meursault »Desirée« 2014 der Domaine Comte Lafon liegt mit 300 € deutlich unter dem aktuellen deutschen Marktpreis. Die junge, so unprätentiöse wie humorvoll-schlagfertige Sommelière wird es sich trotzdem nicht nehmen lassen, uns mit dem einen oder anderen Glas zu überraschen.
Der große, helle Gastraum ermöglicht dank einer durchgehenden Fensterfront einen fantastischen Meerblick. Das komplett in weiß gehaltene Interieur und das Blau der See korrespondieren auf magische Weise; die Tischdekoration empfindet die am Horizont sichtbaren Felsformationen nach. Der Champagner im Glas bekommt da beinahe etwas vom Prickeln des Meeres. Die Schönheit dieses Moments ist fast irreal. Ganz gleich was jetzt noch kommt, hat sich der Besuch allein dafür fast schon gelohnt. Aber es kommt noch einiges, und es kommt ganz groß …
… Mit eleganter Nonchalance breitet der Service die »Avants-Gouts« auf dem schneeweißen Tischtuch vor uns aus. Auf einem Teller ist eine Artischockencreme unter einer hauchdünnen Scheibe aus zartem, mit Gemüse versetztem Fischgelee angerichtet. Die federleicht zwischen Erdigkeit und sanfter Meeresbrise oszillierende Kreation fügt sich wie ein Puzzleteil in die Stimmung des Moments.
Kräftiger, aber darin nicht weniger präzise kalibriert, sind eine Tartelette mit Seebrasse und Rote Bete, eine süffige Escabeche mit Seeigel sowie ein hauchdünner Fischcracker mit Thunfisch und milder Aioli. Jede dieser drei Petitessen ist in Sachen Handwerk und Produktqualität nicht weniger als herausragend.
Weiter geht es mit einer Degustation von gereiftem Thunfisch: Neun Tage gereifter, milder Rücken, mehrere Wochen gereifter, kernig-intensiver Coppa, sowie dünne Scheiben zartschmelzender Ventresca, der für einige Monate reifen durfte und an Pancetta erinnert – unser Favorit. Welch eine fantastische Präsentation exzellenter Produkte und bestem Charcuterie-Handwerk. Versonnen naschen wir von einem knusprigen Grissini mit intensiver Creme aus Auberginen, Anchovis und allerlei Gewürzen – nicht einmal dieses Knabbergebäck wird hier beiläufig behandelt.
Den Abschluss bildet eine klare Meeres-Bouillon, hergestellt aus Crevetten und Malvenblüte, die dem hochfeinen Elixier eine tiefblaue Farbe verleiht. Mit Blick auf das funkelnde Meer genossen, ist das ein weiterer magischer Moment.
Dieser maritime Reigen gehört zu den Stärksten Eröffnungen seit langem, mit klarer Linie, persönlicher Note und unerhörtem Wohlgeschmack.
Beim ersten Menügang startet man mit einer Schale mild geräucherter, kühler Fischbrühe mit frischem Bottarga, die einen tiefer in Passedats maritime Aromenwelt eintauchen lässt. Auf dem Hauptteller sind schmale Streifen von geräuchertem Adlerfisch und gereifter Zahnbrasse mit Bottarga und Kristal-Kaviar angerichtet. Am Tisch wird eine leichte Sauce aus Blumenkohlmilch und Extraktion von Streifenbrasse angegossen. Im ersten Moment schmeckt das Ganze durch die Räuchernoten recht streng und lässt eine gewisse Eintönigkeit befürchten. Dann geben wir kleine Stücke separat servierter Fischhaut-Chips dazu – und mit dieser knuspernden Ergänzung klickt es plötzlich. Als würde die Kreation sich »öffnen«, verwandelt sich jeder Bissen in einen Fächer maritimer Aromen, die ihr Geheimnis gleichwohl nie vollends preisgeben. Faszinierend.
Gérald Passedat ist dafür bekannt, über Jahrzehnte hinweg beste Beziehungen zu lokalen Fischern aufgebaut zu haben. Dieser direkte Kontakt führt nicht nur zur täglichen Lieferung bester Qualitäten, sondern auch zur Verwendung rarer Fischsorten, deren Bezeichnungen man kaum je gehört hat. Im nächsten Gang zum Beispiel Dunkler Gabeldorsch, ein schwierig zu fangender Höhlenfisch, dessen gedämpftes, dadurch sehr klar schmeckendes Filet mit knackigen Erbsen, geschmortem Salat und einer Sauce aus Erbsenschoten, Olivenöl und den Kiemenbacken des Fischs serviert wird – eine samtige, süchtig machende Variation der baskischen Kokotxas-Sauce. In einem Shot-Becher gibt es als königliches Aperçu einen kühlen, konzentrierten Erbsenfond.
Den Clou bildet allerdings eine Schale mit gemischtem Salat, den der Service am Ende mit eleganten Handgriffen in die üppigen Saucenreste löffelt – was trivial klingen mag, erweist sich als fantastische Melange aus saftiger, grüner Frische und samtiger, öliger Herzhaftigkeit. Man kann nicht genug hervorheben, mit welch simplen Mitteln hier aromatischer Zauber entfacht wird. Unwirklich gut, oder auch: eine Götterspeise.
Es folgt das Signaturgericht schlechthin, Wolfsbarsch »Lucie Passedat«, eine Hommage an Gérald Passedats Großmutter, eine Opernsängerin, deren Lieblingsfisch Wolfsbarsch war. Längst zählt diese Kreation zu den ewigen Klassikern der französischen Hochküche. Das über Fischfond gedämpfte Filet ist mit schmalen Streifen aus Zucchini und Gurken bedeckt, die auch geschmacklich einen Wechsel aus hellem und dunklem Grün bilden. Als geschmacksintensive Basis dient eine Sauce aus bestem Olivenöl mit winzigen Stücken roter und grüner Tomaten, wir schmecken auch Basilikum, Koriander, wilden Fenchel und Zitrone, dazu ein Hauch Trüffel.
Diese komplexe, herzhafte, fruchtige Emulsion ist von träumerischer Köstlichkeit, elegant und zugleich »großmütterlich« bodenständig. Zusammen mit dem bemerkenswert »rein« schmeckende Fisch entsteht eine Art Quintessenz mediterraner Aromen, ein Gericht, in dem man sich verlieren kann und in das man sich verlieben muss…
Lediglich eine dazu servierte Zucchinimousse, laut Service eine neuere Ergänzung, empfinden wir ob ihrer Mächtigkeit als überfüssig, wenn nicht störend. Das Gericht selbst bleibt eine Götterspeise, die jeder Essensverrückte einmal probiert haben sollte.
Das Niveau lässt nicht nach. Der nächste Gang präsentiert saftige Tranchen gegarter Mittelmeer-Languste, jeweils getoppt von sanftem Lorbeerschaum. Die schiere Qualität des Krustentiers ist, man muss es kaum mehr betonen, herausragend. Zunächst befremdlich erscheint die Kombination mit Karotten – welch ein Trugschluss! So köstlich haben wir dieses Gemüse selten gegessen, oszillierend zwischen Dunkelheit und Frische, zwischen leichter Süße, maritimen Akzenten und einem Hauch Bitterkeit.
Wir fragen nach der Zubereitung: Im Ofen geröstete Karotten wurden für drei Wochen in fermentierten Karottensaft konserviert. Dieser Einlegesaft bildet später die Saucengrundlage, welche man abschließend mit Langustenrogen bindet. Als entscheidend erweisen sich auch die unterschiedlichen Zuschnitte der Karottenstücke, wegen des Mundgefühls, aber auch wegen des Geschmacks. Zum Augenschließen gut. Trotzdem stiehlt diese wundervolle Zubereitung der Languste nie die Schau. Die Früchte des Feldes und des Meeres kommen ganz lässig zusammen. Wir wissen inzwischen gar nicht mehr, wie uns geschieht.
Der nächste Gang nennt sich »Le Jardin Marin«, Meeresgarten, und kommt vielgestaltig auf den Tisch. Auf dem Hauptteller sind verschiedene Muscheln und Meereskräuter mit maritimer Mayonnaise kranzförmig angerichtet, in der Mitte ein Kreis aus sehr intensivem Krustentiergelee. Die Vielfalt aus Muscheln und Kräutern bereitet Freude, doch trotz einer erfrischenden Petersiliensauce ist uns das Gelee zu viel, zu dominant und zu streng.
Ausgezeichnet gefallen dafür die Aperçus in Gestalt eines exzellenten, in der eigenen Schale servierten Muscheltatars, eines fluffigen Seeanemomen-Beignets, einer atemberaubend guten Auster (für mich eine Stabmuschel) sowie kleiner, knusprig frittierter Fische, deren Bezeichnung wir vergessen haben ... Man kann all diese köstlichen kleinen Schweinereien auch als charmante Referenz an die ausgeprägte Streetfood-Kultur Marseilles lesen.
In diesem Moment ziehen zwei Servicekräfte die bis dahin geschlossenen Fenster auf – eine erfrischende Brise weht in den lichtdurchfluteten Gastraum. Zum Blick aufs Meer gesellt sich das erhabene Rauschen der Brandung und der salzige Duft der Gischt… ein Gänsehautmoment. Wir wissen nicht, ob dieser scheinbar beiläufige Akt ein fester Bestandteil der Dramaturgie ist, aber hier und jetzt ist die Wirkung schlicht umwerfend.
Derart eingestimmt, sehen wir dem Hauptgang mit noch größerer Freude entgegen. Beim »Fang des Tages« handelt es sich um Roten Drachenkopf, auf der Hautseite kurz gegrillt, um ihm leichte Röstnoten zu verleihen, anschließend – wie alle Fische bei Passedat – sanft gegart, um die natürliche Textur und den Eigengeschmack zu bewahren. Serviert wird der außerordentliche Fisch mit einer Stange grünem Spargel exzellenter Güte sowie »Bratenjus nach Tanta Nia«. Wer auch immer diese Tante ist: Saucen kann sie. Der verführerisch dunkle, seidig glänzende Jus bezaubert mit unergründlichem Geschmack, der dem ausdrucksstarken Fisch keine Konkurrenz macht, sondern ihn famos komplimentiert.
Die Reduziertheit des Haupttellers wird von ultrafeinen Parmesan-Brotchips sowie zwei Extratellern ergänzt, auf denen sich Stücke delikater Leber und der imposante Kopf des Fischs finden, aus dem wir die zarten Bäckchen selbst herauslösen. Maritimes nose-to-tail. Erneut ein Hochgenuss.
Ob wir Lust auf den Käsegang hätten, fragt unsere Kellnerin – haben wir! »Brousse de Rove«, ein zarter Ziegenfrischkäse aus dem Bergdorf Le Rove bei Marseille, ist mit feinknusperndem Milchpuder bestreut und wird von einem Kompott aus grünen Tomaten mit Blütenblättern flankiert. Gebettet ist der Käse auf ein mildwürziges Gelee aus La-Crau-Heu, der europaweit einzigen Heusorte mit AOC-Siegel. Man kann die Franzosen um solche Feinheiten nur beneiden. Dazu ein paar Spritzer provençalisches Olivenöl, fertig ist ein feinsinniges Käsegericht, das wie ein Gruß aus dem duftenden Hinterland schmeckt.
Das Pre-Dessert kombiniert fabelhaftes Olivenöl-Eis mit einem kleinen »Obstsalat« aus marinierten Grapefruitfilets, Orangenfilets und Olivenstücken. Süße und Bitterkeit, Herzhaftes und Fruchtiges kommen hier aufs Harmonischste zusammen. Insbesondere das belebend Herbe der Oliven und der Grapefruit verbindet sich zu einem staunenswerten Hochgenuss. Fast sind wir versucht, eine dritte Götterspeise auszurufen.
Das Hauptdessert nennt sich »Souplesse de lait«, eine Art Milch-Mousse, die zu einer Rolle geformt und mit Erdbeerpüree gefüllt ist. Dazu gibt es Basilikumsorbet und ein paar hervorragende »weiße« Erdbeeren. Geschmacklich weckt das Dessert verblüffende Erinnerungen an den Eisklassiker »Ed von Schleck«, von dem wir allerdings nie die größten Fans waren. Hier empfinden wir die Erbeer-Milch-Kombination und das Mundgefühl als etwas artifiziell. Nach wenigen Löffeln ist Schluss. Das ist schade, doch angesichts des bisherigen Menüs nicht mehr als eine Fußnote.
Was für ein Erlebnis. Wir hatten durchaus hohe Erwartungen ans ›Petit Nice‹. Sie wurden weit übertroffen. Die schiere Produktqualität ist hier ebenso atemberaubend, wie das tiefe, über Jahrzehnte gewachsene Verständnis ebendieser Produkte. Man könnte sagen, dass Gérald Passedat für Fisch das ist, was Alain Passard für Gemüse darstellt. Der eine ein Magier des Feldes, der andere ein Poet der See.
Die finessenreiche Simplizität, mit der Passedat Meerestiere inszeniert, gehört zum Aufregendsten, was wir in dieser Hinsicht bislang erleben durften. Pur und sinnlich. Zugleich ist seine Küche in bester französischer Manier von beeindruckender Saucenkunst geprägt, die bei fast jedem Gang eine wesentliche Rolle spielte, dabei aber vollständig ohne Butter und Sahne auskommt. Passedats Küche ist eine der Leichtigkeit, der Frische und des unverstellten Wohlgeschmacks. Dazu ein Serviceteam, wie es in dieser bemerkenswerten Gutgelauntheit Seltenheitswert hat (möglicherweise wirkte unsere kindliche Freude ansteckend). Nur selten finden Ort, Menü und Service zu einer solchen Ganzheitlichkeit.
Am späten Nachmittag verabschiedet sich Gérald Passedat persönlich von den meisten Gästen. Mit manchen hält er einen kleinen Plausch, auch bei uns setzt er sich kurz an den Tisch auf der Terrasse, wo wir die Mignardises vernaschen. Wir bemühen unser französisch, und im anregenden Gespräch über Produkte, Traditionen und die gastronomische Szene von Marseille frage ich ihn beiläufig, wo es denn die beste Bouillabaisse der Stadt gebe. »Bei mir natürlich«, antwortet er mit schelmischem Lächeln. Okay, das hätte ich ahnen können, dem Mann steht ›Beste Bouillabaisse‹ ja förmlich ins Gesicht geschrieben. 'Na gut, aber...', setze ich an. »Wollen Sie sie probieren?«, unterbricht Passedat, »Dann kommen Sie am Samstagmittag wieder her.« Er meint es ernst. Wir zögern, nur kurz… denn – warum eigentlich nicht? Bouillabaisse bei Passedat also. Übermorgen. Das Meer rauscht, die Sonne lacht. Der Traum nimmt kein Ende.
Kai Mihm