Mezzaluna – One Night in Bangkok
Bangkoks Küche gibt sich kosmopolitisch: Der Guide Michelin bietet allein in den Zweisternebewertungen eine Vielfalt aus französischer Klassik, thailändischer Traditionsküche und japanisch-französischer Fusion. Letzterer verschreibt sich „Mezzaluna“-Chefkoch Ryuki Kawasaki im 65. Stock des Lebua-Hotels. Ausgewählte Produkte aus seiner Heimat kombiniert er mit französischem Handwerk, dazu gesellt sich ein ausufernder Blick über die nimmermüde Stadt. Ich war bereits 2018 zu Gast hier, und schon damals beeindruckte mich die Akribie und sensorische Balance der Gerichte; heute soll mir das Dinner etwas Abwechslung zu den sonst eher rachenverbrennenden Street-Food-Stalls bieten, deren Gerichte ich in den letzten Tagen in geradezu unvernünftigen Mengen vertilgt habe.
Der Aufzug öffnet sich und mein Blick fällt sofort auf die deckenhohen Fenster und das außerordentlich höfliche, adrette, fast ausschließlich aus jungen Damen bestehende Personal, das mich vorbei an mehreren exklusiven Bars (darunter die aus „Hangover 2“ bekannte „Sky Bar“) eine Etage hinauf ins Restaurant führt. Im Gegensatz zum eher konservativ-pittoresken Prunk des – zum Beispiel – „Le Normandie“ gibt sich die Einrichtung hier modern, reduziert, atmend. Die Räume wurden erst vor wenigen Monaten renoviert und mehr der Schnörkellosigkeit Nippons angepasst (mit französischem Touch). Dennoch: Der – wenngleich legere – Dresscode und die getragene Musikuntermalung eines Streichquartetts dürfte den einen oder anderen Gast direkt etwas aufrechter gehen lassen.
Der Japaner Ryuki Kawasaki lernte in den Küchen von Paul Bocuse in Frankreich, bevor es ihn zurück in seine Heimat zog. Dort arbeitete er fünf Jahre für einen Robuchon-Ableger in Tokyo, ging dann nach Paris und wurde schließlich von Pierre Gagnaire für seine Restaurants in London und Las Vegas engagiert. 2015 übernahm er die Küche des „Mezzaluna“ in Bangkok, die eine echte Talentschmiede für erfolgreiche Köche zu sein scheint: Vor ihm kochten hier die Sühring-Brüder, davor Gaggan Anand. Geblieben ist der Name „Mezzaluna“, italienisch für „Halbmond“, der angesichts der aktuellen kulinarischen Ausrichtung etwas, sagen wir: aus der Zeit gefallen wirkt.
Seit dem ersten Michelin-Guide für Bangkok im Jahre 2018 wird das Restaurant unter Kawasaki-san mit zwei Sternen ausgezeichnet. Damit gehört es zur kulinarischen wie auch im wahrsten Wortsinne vertikalen Spitze der Stadt. Mehr noch: Im gleichen Hotel darf sich seit 2019 ein weiteres Restaurant – das „Chef’s Table“ unter Vincent Thierry – mit zwei Macarons schmücken.
Ich durchschreite das gusseiserne Tor zum Restaurant und schaue in 200 Metern Höhe über Thailands Hauptstadt in den, etwas versmogten, Sonnenuntergang: ein betörender Ausblick! Doch meine Aufmerksamkeit soll ganz dem Degustationsmenü des Herbstes gelten, das mir Kawasaki-san und sein Küchenteam heute direkt aus der offenen Küche servieren werden. Aus letzterer hört man übrigens – ganz japanisch – kein Wort, kein Klimpern, kein Klirren. Und da geht’s auch schon los ...
Zum Apero der erste Happen: Das kleine Blutwurst-Tartelette mit gerösteter Ananas ist wunderbar fein gearbeitet, lauwarm und bricht jede blutige Derbheit gekonnt mit etwas Säure und Süße.
Die Amuse umreißen dann bereits Kawasaki-sans kulinarischen Ansatz: Nishin, ein leicht gebeizter Hering nach Saba-Art ist dünn geschnitten und um die punktuelle Säure von Weißwein-Essig und Kapern ergänzt. In einer weiteren Schale findet sich „Kuruma Ebi“, die japanische Tigergarnele, mit einer Chawanmushi-artigen Porcini-Sauce und Kastanie, deutlich intensiver, herbstlicher, während die präzise gewürzte Perlhuhn-Mousse mit Pilz-Duxelles und Sansho-Pfefferkornblättern zwischen zwei hauchdünn-knusprigen Scheiben Tramezzino wie eine aufs Wesentliche reduzierte Brotzeit wirkt. Das schmeckt alles trotz aller Akribie wunderbar unverkopft.
„Bafun Uni“ (Roter Seeigel) und Garnelengelee mit Avocado, Kaviar und Shiso eröffnen das eigentliche Menü. Das erinnert stark an die japanisch-peruanische „Nikkei“-Küche: Eine säuerlich angemachte, ungemein leichte Avocado-Creme gibt das Bett für den cremigen Seeigel, der hintenraus seine typische, süß-bittere Qualität ausspielt, bevor der Kaviar mit Salz, Textur und Jod abrundet. Ein toller, dank der Guacamole überraschend frischer Einstieg.
Beim nächsten Gang kann ich zwischen marinierter Garnele und gebratener Foie gras wählen. Die Entscheidung fällt mir leicht: Die „Shima Ebi“-Garnele mit Birne, Yuzu und Zitronengras klingt schon in ihrer Beschreibung nach einem Gang, den man so – eine außerordentliche Produktqualität vorausgesetzt – sonst nur in Japan auf den Tisch bekommt. Und ich liege goldrichtig: Die nur flüchtig marinierten Garnelen reihen sich mühelos in meine Top-Fünf der besten Krebstiere ein, die ich je verspeisen durfte. Ein zarter Biss, eine leichte Süße und viel späte Nussig- und Jodigkeit; noch dazu wurden die Tiere angewärmt: Allein diese paar Happen verdeutlichen mir wieder, wie sehr es sich lohnt, ein Produkt in seiner Gänze zu betrachten: die grundlegende Qualität, Verarbeitung, Größe, Würzung – und eben auch die Temperatur.
Die Begleiter geben cremigen Support, wobei sich Zitronengras und Yuzu nicht gegenseitig erschlagen, sondern zweifelsohne mit Bedacht süß-sauer dosiert wurden. Gerade der Geschmack von Yuzu wird in den letzten Jahren inflationär in nahezu jedes deutsche Menü verbaut – hier nun zeigt die Küche, wie man’s richtig macht.
Eine babyfaustgroße Jakobsmuschel aus dem japanischen Sanriku wird „Mi-Cuit“ – „halb gegart“ – serviert, dazu Yurine (Zwiebel der Lilie), gereifter Parmesan und „Karasumi“, gesalzene und getrocknete Meeräschenrogen, einer italienischen Bottarga ähnlich. Was für ein Apparat! Das erinnert mich direkt an Fischmärkte in Japan, bei denen man so manch Meer-Monster begutachten kann, darunter handtellergroße Austern.
Trotz ihrer Größe allerdings ist die Muschel enorm intensiv, außen knusprig und innen noch glasig schimmernd. Die leicht gesäuerte, einer Beurre-blanc ähnliche Jus, die alle Elemente miteinander verbindet, passt genau so gut wie knusprig-fettige Tempura-Bälle und die duftenden Alba-Trüffelscheiben. Für mich eine Blaupause für die geglückte Liaison zwischen Japan und Frankreich.
Mit Shio Koji marinierter Menuke (roter Drachenkopf), Matsutake (ein seltener japanischer Waldzpilz) und „Sakura Ebi“-Bouillon geht es weiter. Der Garnelen-Sud zu Boden schmeckt wie eine Bouillabaisse, die trotz ihrer Leichtfüßigkeit schnell den dezenten Eigengeschmack des gedämpften, nahezu ungewürzten Fischs übermannt. Ich konzentriere mich auf den Hauptprotagonisten und nehmen nur ab und zu einen Löffel Brühe – so richtig umhauen will mich der Teller dennoch nicht.
Das Rebhuhn in drei Varianten gefällt mir dann schon besser: Das Federtier zeigt sich hier als leicht geräucherte Brust, als feine Quenelle sowie als Krokette mit gezupftem Fleisch und Foie Gras, dazu gesellen sich Gobo (Klettenwurzel) und Sesam. A-part kann man sich nach eigenem Gusto eine frische Gelbwein-Zabaglione dazulöffeln. Wenngleich die Küche die japanischen Pfade hier gänzlich in Richtung Frankreich verlässt, überzeugen Filigranität, dezenter Rauch und die schiere Abwechslung; keine Gabel ist wie die vorherige. Die von mir skeptische beäugte Zabaglione bringt den Teller prompt auf eine erfrischend cremige, „schlotzige“ Spur, die mir sehr gut gefällt; und dank des geräucherten Sesamöls zu Boden schmecke ich immerhin noch eine Spur von Ost-Asien.
Ein Klassiker des Hauses, den meine Papillen bereits für fünf Jahren berühren durften: Auf Holzkohle gegrilltes Niigata-Murakami-A5-Wagyu (Sirloin) mit Tintenfisch, Kerbelwurzel und Steinpilzen. Eine Sensation aus bizarr kraftvollem Fleisch, stets präsenten Röstaromen und betörendem, an Otoro erinnernden Schmelz – da bleiben keine Fragen offen. Doch auch die Nebengewerke gehen auf: süßlich, heiß und erdig die geröstete Wurzel, dazu waldaromatische Porcini-Pilze und ein Tintenfisch-Tataki, das in Kombination mit dem schmelzigen Fleisch eine überraschende Rustikalität in das Gericht bringt, die ich auch schon vor fünf Jahren als „Surf & Turf“-Sensation in Erinnerung behielt. Ein echtes Brett.
So sehr das Pre-Dessert – Mochi-Pulver, Jasminreis-Schaum und in Rum marinierte Birne – auch erfrischt: Eigentlich möchte ich an diesem Punkt den herzhaften Nachklang der Hauptspeise nicht neutralisieren, nehme aber ein, zwei winzige Probierlöffelchen.
Mein persönliches „Cheat-Meal“ in Deutschland ist das Waffeleis „Cornetto Buttermilch“. Und wie schön, dass es offensichtlich auch in Japan ein Renner ist, denn die Zitrusfrüchte von „Hara Farms“ mit Kiku-Apfel, Sakura-Honig & Burrata erinnern aufs Köstlichste an die zitronig-süße Convenience-Sommerspeise. Da ist ein munter daherbröselnder Blätterteig-Crumble, darauf eine milchige, leicht gesalzene Creme sowie wechselnd intensive Zitrusakzente. Eine mehr als verführerische Kombination.
Die fein gearbeiteten Petits fours zum Kaffee: fluffige weiße Schokolade (unten), cremiger Granatapfel (links) ein leicht gesüßter Ball von der Kakipflaume.
Die Sonne ist schon lange untergegangen, als ich bei einem Drink an der imposanten Skybar hoch über dem funkelnden Bangkok die Notizen des Abends sortiere. Wie schon 2018 hat mir Ryuki Kawasaki heute genau das geboten, was ich auf meinen Reisen durch Japan zuhauf erlebte: akribischen Produktfetischismus und nahezu makelloses Handwerk. Über allem thront hier die göttliche Hokkai-Garnele im zweiten Gang, die ich so schnell nicht vergessen werde.
Der westliche Einfluss der Küche findet sich im Mut, Unorthodoxes zu kombinieren und damit überraschende Akzente im Aromengemenge zu setzen. Die Avocado zum Seeigel, oder der Tintenfisch in Verbindung mit einem schmelzigen Wagyu: Das sind spannende, weil gekonnt proportionierte Duos. Dabei wirkt der zurückhaltende Koch keineswegs bemüht oder überambitioniert – jedes Gericht, jede Kombi wirkt natürlich. Ein paar kleine Schwankungen, ich denke an die Bouillabaisse, tun dem ansonsten hervorragenden Menü keinen Abbruch. Jetzt aber deutet mir ein Kellner, dass 63 Stockwerke weiter unten das Flughafentaxi wartet – ein letzter Schluck, ein letzter Blick. Auf bald, Bangkok.
Chris Lippert