Marlene – unterm Radar
Nach einer erfreulichen Exkursion in die bodenständigen Gefilde der Lissaboner Gastroszene, steht am letzten Abend wieder ein »gehobeneres« Restaurant auf dem Plan. Es heißt Marlene, und ich wurde durch eine Empfehlung darauf aufmerksam. Eine Recherche ergab, dass das Restaurant vor einem Jahr eröffnete und Marlene Vieira gehört, einer umtriebigen Köchin und Gastro-Unternehmerin. Das Marlene ist ihr Gourmetrestaurant, Sterneambitionen inklusive. Die haben natürlich viele, insofern sagt das wenig. Doch die Mehrzahl der Lissaboner Spitzenrestaurants wirkt entweder etwas gestrig oder es handelt sich um Dependancen spanischer Starköche wie Martin Berasategui. Dann lieber eine heimische Newcomerin entdecken.
Das Marlene befindet sich knapp zehn Autominuten außerhalb der City, nahe des Kreuzfahrt-Terminals; genug Zeit für unseren gut gelaunten Uber-Fahrer, eine Kurzfassung seiner bewegten Lebensgeschichte zu erzählen. Als er uns dann auf dem dunklen Parkplatz eines freistehenden Neubaus absetzt, wähnen wir uns zunächst an der falschen Adresse – in dem Gebäude würde man eher Versicherungsbüros vermuten. Dann entdecke ich hinter den Jalousien im Erdgeschoss Anzeichen von Leben: Vieira unterhält in dem Gebäude auch das Bistro Zum Zum.
Nebenan findet sich das Marlene, wo an diesem Abend nicht viel los ist. Umso herzlicher fällt die Begrüßung aus. Der Raum selbst ist auf eigenwillige Weise reduziert gestaltet, mit grauem Betonboden und abgedunkelter Fensterfront, was den Effekt eines nachtschwarzen Himmels hat. Die braunen Holztische wirken vor diesem Hintergrund wie »Lichtinseln«. Alles zusammen ist ziemlich cool, aber nicht kühl.
Das Zentrum des Raums bildet eine komplett offene Küche, begrenzt von einem massiven Holztresen für etwa vierzehn Gäste. Hier nehmen auch wir Platz; am anderen Ende sitzt lediglich noch ein weiteres Paar. Der Blick auf das konzentrierte Treiben der Köche lässt die leeren Tische hinter uns schnell vergessen. In einem verglasten Separée jenseits der Küche findet eine private Dinnerparty statt, was für einen etwas lebendigeren Hintergrund sorgt. Erstaunlich ist das schwache Reservierungsaufkommen dennoch.
Das feste Menü besteht aus wahlweise sieben oder zwölf »Momenten«, so die Umschreibung auf der Karte; die Entscheidung für das volle Programm (130 €) steht für uns außer Frage. Die umfangreiche Weinkarte listet ausschließlich portugiesische Produzenten, was ich wesentlich konsequenter und sympathischer finde, als ein paar Alibi-Ausländer, wie in Frankreich oder Italien oft üblich. Da die Weinwelt Portugals für mich eine terra incognita ist, lasse ich mich gerne auf das Pairing der enthusiastischen Sommelière ein.
Zum Aperitif, einem Espumante von Luiz Costa, wird der erste »Moment« serviert, bestehend aus zwei Fingerfood-Kleinigkeiten: Ein Carpaccio von Violetter Garnele ist mit hauchdünnem Knusperteig in Schmetterlingsform angerichtet; den Körper bildet dabei ein kleiner, ausgelöster Garnelenschwanz, essbare Blütenblätter die Flügel. Die Form, so die Erläuterung, soll den nahenden Frühling symbolisieren. Tatsächlich schmeckt das filigrane Konstrukt so duftig und frisch, wie eine milde Brise, leicht jodig, kühl, knuspernd und mit einer hintergründigen Ingwerschärfe.
Der zweite Happen besteht aus einer winzigen Pimiento de Padrón, gefüllt mit Bacalhau und umhüllt von einer Kabeljau-Emulsion. Dieser elegant interpretierte Gruß aus der portugiesischen Hausmannsküche schmeckt vollmundig und angenehm intensiv. Ein sehr starkes Duo zum Auftakt.
Weiter geht es mit einem Snack-Trio, das optisch etwas unbeholfen daherkommt. Ein pummeliger Seestern aus knusprigem Teig sieht ein bisschen wie Kinderspielzeug aus; er ist mit Herzmuscheln á Bulhão pato gefüllt, wovon man aber nichts schmeckt, weil der Teig viel zu dick und dominant ist.
Daneben findet sich ein weiteres Gebilde wie von Kinderhand, das entweder eine kopflose Libelle oder eine Koralle darstellen könnte. Allerdings schmeckt das Teil wesentlich feiner, als es aussieht: es besteht aus einer herzhaften, ungemein zarten Gänselebercreme, umhüllt von einer hauchdünnen, verführerisch knackenden Schicht fruchtiger Ruby-Schokolade und säuerlichem Himbeerpulver. Texturell ist diese kleine Spielerei sehr reizvoll, auch die Mischung aus Herzhaftigkeit und Süße stimmt.
Am besten gefällt indes ein warmer, mit gezupftem Krabbenfleisch gefüllter Krapfen, der einerseits wohltuend deftig, durch seine wolkige Fluffigkeit aber auch filigran schmeckt.
Eine ordentliche Steigerung vollzieht die Küche mit dem nächsten Gang: In einer heißen, von appetitlichen Fettaugen gezierten Gemüsebrühe tummeln sich Dicken Bohnen und Seeigelgonaden – auf diese Kombination muss man erstmal kommen. Die zarten »Zungen« des Seeigels haben vor allem einen würzenden Effekt, sie lösen sich in der klaren, kräftigen Brühe etwas auf und bereichern sie mit ihrem jodig-süßlichem Aroma, welches sich am Gaumen wiederum mit der Erdigkeit der knackigen Bohnenkerne vermählt. Sehr clever und sehr köstlich. Eine Suppe, die die Seele wärmt und den Geist anregt. Es verfestigt sich das Gefühl, dass das heute hier in eine ziemlich interessante Richtung gehen könnte.
Zwischendurch beobachten wir das konzentrierte Treiben in der Küche, wo das Team nicht nur die letzten Handgriffe vollzieht, sondern wo wirklich gekocht und gebraten wird. Jetzt zum Beispiel ist einer der Köche mit dem Grillen von Jakobsmuscheln beschäftigt – denken wir ...
… Denn tatsächlich handelt es sich um ein rundes Stück gegrillter Bernsteinmakrele, das in einer Jakobsmuschelschale serviert wird. Der Sinn jenseits des trompe l'oeil-Gags erschließt sich uns nicht, doch dessen ungeachtet schmeckt der zarte Fisch ganz vorzüglich. Es ist wohltuend, Makrele einmal nicht als kalte, rohe Scheiben oder Tatar serviert zu bekommen, der Standardgang in jedem zweiten deutschen Sternemenü. Hier nun setzen eine Koji-Kräutersauce und eine große, saftige, mit Seeigel »glasierte« Miesmuschel kräftige Akzente, was der fettreiche, leicht rauchige Fisch gut verträgt. Ein Highlight.
Weiter geht es mit sanft gegartem Sepia, der in Ringe geschnitten wurde und in einem samtig-dichten Fond aus weißen Bohnen ruht. Das Geschmacksgefühl ist das eines ungeheuer feinen Eintopfs, cremig, mit knackiger Tintenfischeinlage. Obenauf findet sich noch ein ungleichmäßig geschrotetes, herzhaftes Pulver, das wir vergessen zu notieren, doch die knuspernde Textur rundet das Gericht genau richtig ab. Sehr schön.
Den nächsten Gang annonciert Souschef Mário Cruz, der uns in Aussehen und Habitus frappierend an den Schauspieler Paul Rudd erinnert, als Klassiker des jungen Restaurants. Ein Stück Seezunge wird von verschiedenen Zubereitungen aus weißem Spargel gerahmt. Hauchdünne Streifen, gebratene Köpfe und eine cremige Sauce fächern die Geschmacksnuancen des Gemüses zwischen Bitterkeit und Süße stimmig auf, wenngleich uns die Sauce etwas zu dicklich und plump ist. In Verbindung mit der sehr guten Fischqualität und etwas Kaviar ergibt sich dennoch ein harmonisches Geschmacksbild, dessen mehrheitsfähige Harmlosigkeit die Popularität des Gerichts erklären dürfte.
Ebenfalls mehrheitsfähig, aber erheblich pointierter ist der nächste Gang, bei dem frische Morcheln mit einer Pinienkernmischung farciert sind und in einer aufgeschäumten Sauce ruhen. Der typische Geschmack der Pilze, nach frischem Walboden und feuchtem Unterholz, wird vom eleganten Aroma der Pinienkerne trefflich ergänzt. Sie verleihen dem Gericht eine dezent mediterrane Note und verorten es dadurch klar im Hier und Jetzt. Die seidige Sauce macht das Ganze voll und rund. Ein, zwei Morcheln mehr dürften es sein, dessen ungeachtet haben wir hier ein Gericht von einnehmender Simplizität.
Explizit portugiesisch wird es beim folgenden Gang. In einer Schale mit aufgeschäumter Krustentiersauce verbergen sich dicke Stück von Carabinero, perfekt gegart, saftig, elastisch-knackig und mit dem typisch kraftvollen, klaren Geschmack bester Qualitäten. Zusammen mit der Sauce, bei der die Kopf-Innereien des Tieres eine wesentliche Rolle spielen, bildet das eine ultraintensive Verdichtung maritimer Geschmackswelten. Das ist aber nicht alles. Am Boden der Schale findet sich noch Xerém, ein portugiesischer Porridge aus Maismehl, der üppige Cremigkeit beisteuert und die Krustentier-Intensität mit leichter Süße abfedert. Ein Gericht zum Abtauchen. Souschef Mário Cruz merkt später an, dass dieser Gang vor allem ausländischen Gästen oftmals zu intensiv sei. Für uns ist er das Highlight des Menüs.
Doch es kommt ja noch etwas. Der letzte herzhafte Gang präsentiert ein Bruststück von Wildtaube, innen ansprechend rot, außen appetitanregend gebräunt, mit einer hauchdünnen Fettschicht unter der krossen Haut. Geschmacklich ist das Fleisch des Wildtiers von einer Kraft und Tiefe, die Zuchttauben leider oft vermissen lassen. Dazu gibt es lediglich eine Nocke Topinamburpüree, ein paar eingelegte Senfkörner für säuerliche Frische und einen Taubenjus, der eher wie die dicke Sauce eines tollen Schmorgerichts schmeckt.
Auf einem Extrateller findet sich noch eine Scheibe cremiger Gänseleberterrine, in die gezupftes Fleisch und Artischocken eingearbeitet sind – makelloses Küchenhandwerk. Auf der Terrine sind marinierte Salatblätter, Kräuter und Blüten drapiert, deren Bitterkeit und Frische das Ganze etwas leichter machen. Dennoch ist uns das zusammen mit der Taube zu mächtig portioniert.
Das erste Dessert kombiniert eine federleichte Mousse von Ziegenmilchjoghurt mit sanft gegarten und eingelegten Scheiben von Grünem Apfel. Ein wohltuend kühle und leichte Erfrischung, die auf stimmige Weise den feinherben Joghurt mit der Süßsäuerlichkeit des Apfels zusammenbringt. Nicht spektakulär, aber sehr gut.
Das zweite Dessert besteht aus einem Babá, auf dem eine sahnige Kugel thront, welche aus Schichten von Mandarinenmousse, Zitronensorbet und Creme Chantilly besteht. Das reine Weiß der luftigen Umhüllung und die Verzierung mit sattroten Blütenblättern geben der Kreation eine sommerlich anmutende Fröhlichkeit. Nimmt man nun von allem etwas auf den Löffel, ergibt sich ein nicht weniger als grandioser Genuss, bei dem erfrischende Kälte und üppige Cremigkeit, süßsaurer Schaum und saftiges Gebäck aufs Schönste zusammenspielen. Sehr stark.
Die abschließenden Petits Fours – ein Macaron, eine Praline und ein gezuckerter Krapfen – sind danach von der unauffälligen Sorte. Das spielt in diesem Moment jedoch keine bedeutsame Rolle mehr.
Welch eine schöne Entdeckung, eine Küche, die auf unprätentiöse Weise zwischen Frankreich und Portugal oszilliert. Gerne dürfte das Menü noch mehr in Richtung des Letzteren ausschlagen, mit mutigen Gerichten wie dem Carabinero. Oder anders gesagt: die Konsequenz der rein portugiesischen Weinkarte sollte sich auch stärker im Menü widerspiegeln. Das soll freilich nicht die Qualitäten einer Küche kleinreden, die ein Jahr nach der Eröffnung vermutlich noch in einer Findungsphase steckt. Hier wird in weltstädtischem Setting auf handwerklich hohem Niveau gekocht, stilistisch noch etwas gediegen, aber mit sehr guten bis hervorragenden Produkten. Nur geschieht das scheinbar noch etwas unter dem Radar. Erst beim Schreiben dieses Berichts sehe ich, dass der Guide Michelin das Restaurant zumindest schon listet. Das dürfte ein Anfang sein.
Für uns endet dieser letzte Abend im Red Frog, einer auf coole Weise distinguierten Cocktailbar im Speakeasy-Stil, die unter die »50 Best Bars« der Welt gewählt wurde, von wem auch auch immer, denn die Drinks schmecken eher bemüht kreativ, als souverän köstlich. Trotzdem passt das insofern, da wir morgen Mittag zum Abschluss ein Restaurant besuchen, welches seit Jahren zum Inventar der berühmt-berüchtigten »World's 50 Best«-Liste gehört. Auch das ist Lissabon. Wir sind gespannt.
Kai Mihm