Le Moissonnier – der Gourmet als Kneipier
»Wir sind eine Kneipe!«, warnte uns Vincent Moissonnier, als wir vor einigen Wochen einen Tisch im »neuen« ›Le Moissonnier‹ reservierten. Zur Erinnerung: Im Frühjahr 2023 gab er zusammen mit seiner Frau Liliane und seinem Küchenchef Eric Menchon eine Konzeptänderung des Restaurants bekannt – weg vom kräftezehrenden Zwei-Sterne-Betrieb, hin zu einem klassischen französischen Bistro mit kleiner Karte und »einfacher« Küche aus guten Produkten. Wir waren angesichts dieser Neuigkeit erst einmal fassungslos, dann betrübt, schließlich war das ›Le Moissonnier‹ immer eines unserer absoluten Lieblingsrestaurants in Deutschland.
Nach einer Schließungsphase im Sommer wurde zur Wiedereröffnung am 1. September zudem der Abendbetrieb eingestellt, das ›Le Moissonnier‹ ist seither ausschließlich ein Tageslokal. Dass wir uns das zeitnah anschauen würden, stand außer Frage.
An diesem Freitagmittag sind wir um Punkt zwölf die ersten Gäste. Schon bald wird das Lokal bis auf den letzten Platz gefüllt sein, die neuen Tresenplätze inklusive. Am Interieur wurde nichts Wesentliches verändert, ein »Bistro« im Sinne von Einrichtung und Atmosphäre war das ›Le Moissonnier‹ schon immer.
Die Speisenauswahl ist in der Tat überschaubar, mit diversen kalten Gerichten, zwei Suppen, Austern und Meeresfrüchten; dazu je ein Tages- und ein Wochengericht. Im Getränkebereich werden zahlreiche offene Weine zu sehr moderaten Preisen angeboten, dafür hat man die Selektion bei den Flaschen reduziert. Eine passende Wahl ist dennoch schnell getroffen, wir starten mit einem 2021er Chassagne-Montrachet von Michel Niellon.
Den Auftakt unseres Essens bildet eine kleine Meeresfrüchte-Auswahl. Auf einer Etagère finden sich drei verschiedenen Austern (Claire d'Isigny No. 3, La Royale No. 3, Krystale No. 2 – je fünf Euro), angesichts deren Güte man am besten auf jedwede Beigabe verzichtet – die natürliche Salzigkeit ist Würze genug. Auch die handgepflückten Palourdes aus Boulogne-sur-Mer genießen wir pur, die kleinen Teile sind vorzüglich. Fast noch mehr begeistern uns gekochte Crevettes rosé aus dem Atlantik, mit ihrem satten Biss und einer intensiven Nussigkeit; ein Tupfer Mayonnaise, ganz klassisch, verstärkt das Aroma noch. Das bereitet alles viel Freude.
Danach kommt eine Scheibe »Pâté en Croûte« (20 €) auf den Tisch, hergestellt mit Fleisch von Kaninchen und Schwein, dazu Foie gras und Morcheln. Der Klassiker schmeckt solide, die verschiedenen Fleischsorten sorgen für Abwechslung, die Foie bringt leichten Schmelz. Trotzdem wirkt das Ganze auf Dauer ein wenig trocken; etwas mehr Würze würde ebenfalls helfen. Eine gepickelte Kirschtomate und ein halbiertes (!) Cornichon spenden etwas Frische, aber das lässt sich sicher noch optimieren.
Ganz vorzüglich schmeckt die parallel servierte »Soupe de poissons de roche« (18 €) die »nach Art von Aix-en-Provence« mit Croutons, Aioli und geriebenem Emmentaler auf den Tisch kommt. Letzteren streut man auf die heiße Suppe, wo er appetitlich zerläuft und beim Essen skurrile Fäden zwischen Löffel und Mund zieht – vielleicht kein Gericht für Geschäftsessen oder ein erstes Date. Für uns heute also genau richtig, und an der Köstlichkeit ändert es sowieso nichts. Die Fischsuppe hat eine im besten Sinne rustikale Intensität, schmeckt voll und rund, die reine Freude. Genau solche Gerichte sind es, die man auch in Südfrankreich gar nicht so leicht in vergleichbarer Qualität findet.
Heiß und duftend präsentiert sich auch das Wochengericht. Eine gegrillte Tranche vom Wolfsbarsch (36 €) ist appetitlich glänzend mit Süßholz lackiert und ruht in einer Sauce Bouillabaisse. Nicht nur optisch könnte dieser Teller aus den Zwei-Sterne-Zeiten der Küche stammen. Ein exzellentes Produkt wird hier meisterhaft zwischen Finesse und Bodenständigkeit inszeniert, mit herzhafter »Lackierung«, leichtem Knusperrand und süffiger Sauce. Die Beilage, ein Risotto aus Carnaroli des renommierten Produzenten Acquerello zeugt nicht nur von sorgfältigem Handwerk, sondern zeigt auch, dass die Küche bei solchen Grundprodukten keine halben Sachen macht. Stark.
Die Sache mit der Produktqualität gilt noch mehr für die bretonischen Bouchot-Muscheln in Weißwein-Kräutersud. Die Prachtexemplare sind von einer saftigen Fleischigkeit, wie wir das bisher nicht kannten. Vincent Moissonnier erzählt, dass er die Muscheln tagesfrisch aus der Bucht des Mont-Saint-Michel bezieht, vom Hause Morisseau, welches auch französische Spitzenrestaurants beliefert. Hier nun stehen diese staunenswerten Meeresfrüchte für läppische elf Euro (kleine Portion) auf der Karte. Besser geht das nicht.
Der zweite Wein ist inzwischen ebenfalls in der Karaffe, ein 2011er Coume Gineste der Domaine Gauby (Côtes Catalanes), dessen Mineralik und kraftvolle Würze (Süßholz!) ganz hervorragend mit dem Wolfsbarsch und den Muscheln geht.
Mit leichter Verzögerung – das Restaurant ist längst proppenvoll – erreicht uns jetzt noch ein Caesar-Salat. Er besteht, ganz klassisch, aus saftigen Romana-Blättern mit Caesar-Dressing, Croutons, Pinienkernen sowie Tranchen einer Hähnchenbrust, die mit Rucola-Pesto gefüllt wurde. Da gibt es nicht viel zu sagen, das ist handwerklich einwandfrei und geschmacklich unaufgeregt. Die Pestofüllung im saftigen Hähnchen gibt dem Ganzen ein gewisses »Extra«. Ein solides Bistrogericht, nicht mehr, nicht weniger. Aber mehr, daran müssen wir uns in diesem Moment selbst erinnern, will diese neue Inkarnation des ›Le Moissonnier‹ ja auch gar nicht präsentieren. Ein bisschen wehmütig werden wir dann doch.
Bei den Desserts fällt meine Wahl auf Crème Catalane, hier als sehr freie Interpretation des spanischen Klassikers. Die Crème wurde nicht sehr stark gestockt, sondern hat eher die Konsistenz von Joghurt. Anstelle einer karamellisierten Zuckerschicht sorgen Pankobrösel für knuspernde Textur. Ein sehr guter Mürbeteigkeks mildert die etwas zu starken Zimt- und Orangennoten der Crème, aber das ist Geschmackssache. Eine klassische Crème brûlée hätte mir dann doch besser gefallen (Notabene: inzwischen steht Crème brûlée auf der festen Karte).
Très français geht es auf Christians Seite des Tischs zu, mit einem Eclair nach Art eines »Paris-Brest«, aus fluffigem Brandteig, üppiger Haselnussrèmefüllung und karamellisierten Nüssen. Ein Klassiker der französischen Pâtisserie, mit souveräner Handwerkskunst makellos umgesetzt.
Das hat Spaß gemacht. Die Küche des ›Le Moissonnier‹ ist eine andere, als früher, keine Frage. Doch das ›Le Moissonnier‹ als Ort des entspannten Genießens hat sich nicht verändert. Es geht lebendig, trubelig und vertraut zu. Ganz wie immer. Nach weniger Arbeit für den Service sah es im voll besetzten Lokal zwar nicht aus, trotzdem wirkt alles etwas geruhsamer. Geichwohl verlassen wir das Lokal mit einem lachenden und einem weinenden Auge. So gut es heute war, ein kleines bisschen vermissen wir die alten Zeiten schon.
Doch dass der französische Aromenzauberer Eric Menchon nicht so ganz aus seiner Haut kann, dafür spricht die Tatsache, dass die Speisenauswahl seit unserem Besuch noch etwas vergrößert wurde. Wir lesen da Dinge wie Rochenflügel, gefüllte Wachtel, Pithiviers von der Taube und andere Leckereien. Bürgerliche französische Klassiker. Vincent Moissonnier mag sein Restaurant eine »Kneipe« nennen, doch was genau das bedeutet, scheint uns noch nicht endgültig ausgemacht.
Kai Mihm