Restaurantkritik  5.September 2023

Horváth – Der erste Stich

Ähnlich wie das ›Restaurant Tim Raue‹ gehört das Horváth in der reichern Berliner Gastroszene für mehrere Sternefresser zu den favorisierten Adressen. Nur einer von uns war noch nie dort, und zwar ich. Gemeinsam mit Chris und Christian soll sich das heute Abend ändern. Die früheren Berichte über das Lokal sind in meiner Erinnerung kaum präsent, weshalb ich ein eher diffuses Bild davon habe, was mich erwartet. Vorwiegend regional und ziemlich anders sei die Küche des Österreichers Sebastian Frank. Seit 2016 gibt es dafür zwei Sterne. Nun denn. Der Restaurantname bezieht sich auf den Schriftsteller Ödön von Horváth, in Anspielung, so ergibt eine kurze Recherche am Mittag des Besuchs, auf die Räumlichkeiten als einstiger Treff internationaler Kunst- und Kulturgrößen.

Von außen wirkt das ›Horváth‹ mit seinem üppig begrünten Vorgarten, dem schmiedeeisernen Zaun und den großen Stoffschirmen eher wie eine gemütliche Stadtteilkneipe, als wie ein Zwei-Sterne-Restaurant. Berlin halt. Am Abend unseres Besuchs ist es sommerlich warm, sodass wir für den Aperitif draußen Platz nehmen. Eine Flasche Schaumwein ist flugs bestellt, der herausragende Blanc de Blanc 2019 von Johannes Aufricht (120 €), für uns eine der wenigen ernsthaften Champagner-Alternativen aus Deutschland, mit kaum 500 Flaschen im Jahrgang '19 allerdings auch äußerst rar. Dazu kommen die ersten Snacks auf den Tisch …

Eine Schale mit Gefrorenem vom Rhabarber und Stangensellerie erfrischt angesichts des Sommerwetters mit einer gut balancierten Mischung aus Bitterkeit und dezenter Süße, kühl und belebend. Sehr schön.

Auf die kühle Eröffnung folgt etwas Heißes aus der Heimat des Küchenchefs. Lángos, ein traditionelles ungarisches Gebäck aus Kartoffel-Hefeteig, wird in Österreich vor allem am Wiener Prater und auf Märkten feilgeboten. Für gewöhnlich hat es die Form eines Fladens, doch hier im ›Horváth‹ ist es zu tischtennisballgroßen Kugeln geformt und wird mit Knoblauchöl, Sauerrahm, Bergkäse und Frühlingszwiebel serviert. Die Teile sind heiß, fluffig, leicht kross und herrlich herzhaft, ohne grob zu wirken. Die seelenwärmende Verfeinerung eines rustikalen Klassikers.

Anschließend begeben wir uns in den Gastraum, der mit viel Holz, warmen Farben und einem Wandgemälde des deutschen Pop-Art-Künstlers Jim Avignon zwischen eleganter Behaglichkeit und urbaner Coolness changiert. Alles sehr entspannt jedenfalls. Wir nehmen im hinteren Restaurantbereich direkt vor der durch eine Glaswand einsehbaren Küche Platz.

Es folgt ein weiteres Amuse in Form einer kühlen Gemüsekremsuppe (ich übernehme bewusst die österreichischen Schreibweisen der gedruckten Menükarte). Die mit Zitronenöl aufgefrischte und mit reduziertem Schlagobers verfeinerte Gemüsekaltschale schmeckt überraschend delikat und zeugt davon, dass auch etwas so »simples« wie eine Gemüsesuppe sorgfältiges Handwerk erfordert. Ganz ausgezeichnet.

Das nächste Gericht nennt sich Pilzleber und soll eine Alternative zur klassischen Foie gras-Terrine darstellen. Rohe Kräuterseitlinge werden dafür zu einer glatten Paste verarbeitet, in Butter ausgebraten und texturell dahingehend verändert, dass das Mundgefühl und der Geschmack einer samtigen Foie Gras-Zubereitung gleicht. Es ist verblüffend, wie glänzend das funktioniert. Die »Terrine« schmeckt hervorragend und vollkommen authentisch.
Sebastian Frank überzieht die zu einer Art Mini-Törtchen geformte Creme mit reduziertem Apfelbalsam, dessen fruchtige Säure die durchaus gehaltvolle Speise etwas auflockert. Denn so brillant die Idee der falschen Lebercreme auch umgesetzt ist, wäre der Genussfaktor bei halber Portionierung doppelt so hoch. Dazu gibt es statt Brioche eine Scheibe exzellenten Butterstriezl mit Marillenkernölbutter, deren marzipaniger Geschmack uns aber zu intensiv ausfällt und die sättigende Mächtigkeit des Gerichts noch verstärkt.

Wohltuend leichtfüßig kommt der nächste Gang daher. Eine meisterhaft abgeschmeckte, leicht gekühlte Spargelsuppe ist mit etwas steirischem Kirschkernöl verfeinert. Fertig. Das elegante Zusammenspiel von belebender Bitterkeit und sommerlichem Kirschduft ist von beinahe japanisch anmutender Subtilität. In seiner  Reduziertheit schmeckt das nicht weniger als grandios.
Es folgt zudem noch ein Aperçu …

… In einem Schälchen finden sich drei Stücke geschnittener Spargel, gebeizt und appetitlich gegrillt, die in einem köstlichen Schinken-Gewürzauszug ruhen; das elegante Umami dieser Zubereitung wird von in Korn eingelegten Kirschblüten herbfruchtig abgerundet. Exzellent.

Der nächste Gang trägt in der Menükarte den Titel Bittersalate, weshalb die Präsentation einer schneeweißen Eisrolle zunächst überrascht. Beim Servieren, was hier meist durch das Küchenteam geschieht, erläutert Sebastian Frank die Zubereitung: Verschiedene Bittersalate wurden im Saft von kandierten Zitronenzesten mariniert und anschließend mit salzigem Sauerrahmeis zu einer Rolle geformt. Auf dem Teller findet sich nun eine ansprechend marmorierte Scheibe dieser Eisrolle, gebettet auf eine üppige Flusskrebs-Bisque mit Karamell.
Zugegebenermaßen sieht das nicht sehr verfeinert aus, was den Effekt des ersten Löffels umso bewegender macht: es schmeckt fantastisch, leicht, frisch und vielschichtig, wie ein Salat mit einem außergewöhnlich guten Joghurtdressing. Da ist Salzigkeit und Bitterkeit, Umami und hintergründige Süße, bei jedem Löffel ein bisschen anders gewichtet. Wir kommen aus dem Staunen gar nicht heraus. Für sich genommen ist dieser Teller eine lupenreine Götterspeise.

Doch da ist (leider) noch eine kleine Extraschale, in der sich ein allzu weiches, fast schwammiges Kartoffelbiskuit findet, dessen unschönes Mundgefühl von etwas grob geschmortem Radicchio nicht verbessert wird. Das ist bedauerlich, bleibt am Ende aber kaum mehr als eine Randnotiz.

Kurz darauf überrascht Sebastian Frank uns mit einem Zusatzgericht. Der Gartenspaziergang, mit Gewächsen vom eigenen Feld, ist natürlich von Michel Bras' legendärem »Gargouillou« inspiriert. Die Besonderheit liegt hier jedoch darin, dass Frank im Unterschied zum Original und den Varianten anderer Köche nicht auf eine unüberschaubare Anzahl an Produkten zurückgreift, sondern vergleichsweise wenige Kräuter, Blüten, Knospen, Zwiebeln und kleine Gemüsestücke verwendet. Es geht hier nicht um Überfluss, sondern um Konzentration. Wenn man sich darauf einlässt, beginnt man ungeahnte Feinheiten zu schmecken. Einen Clou bildet dabei eine Eigelb-Emulsion, gewonnen aus Eiern vom selben Tag, die harmonisierend und zugleich geschmacksverstärkend wirkt. Herausragend gut.

Das hohe Niveau wird auch beim nächsten Gang nicht verlassen. Der »Erste Stich«, so erläutert Sebastian Frank, spielt mit seiner Kindheitserinnerung, als erster die perfekte Oberfläche frischen Sauerrahms »zerstören« zu dürfen. Auf den Tisch kommt hier nun ein Becher mit Sahne, die mit Joghurtkulturen taufrisch gestockt wurde – der erste kleine Probierlöffel aus der makellos glatten Masse entfaltet einen Zauber, den wir nicht für möglich gehalten hätten. Der Rahm zergeht am Gaumen mit unglaublich seidiger Zartheit, federleicht und geschmacklich von reiner Eleganz und eigentümlicher Komplexität.
Nach diesem »ersten Stich« soll man den Rahm mit einer fruchtigen Paprikareduktion mit Minzinfusion aromatisieren (eine Referenz an den Sahnejoghurt »Fru Fru«), dazu gibt es einen Löffel mit fruchtig-herbem Sirup von Knoblauch-Kümmelessig. Im Zusammenspiel all dieser Zutaten eröffnen sich Geschmackswelten, die wir so noch nicht kannten. Bewegend.

Leider wird der Höhenflug vom nächsten Gang jäh ausgebremst. In einer Schale ist geräucherte Blumenkohlkrem mit gerösteter Hefe, roher Topinambur, Leindotteröl, gestocktem Eigelb mit Slivovic und Kräutern sowie kleinen Gebäckstücken angerichtet, die wie Amarettini aussehen, aber mit herb-alkoholischem Slivovic gefüllt sind. Das schmeckt alles genauso schräg, wie es sich liest. Von der texturell an Handcreme erinnernden Blumenkohlzubereitung bis zum viel zu strengen Obstbrand findet sich auf dem Teller nichts, was wir »köstlich« nennen würden, schon gar nicht in Kombination. Wir bedauern, aber dieser Gang ist nach einhelliger Meinung ein Totalausfall.

Glücklicherweise zieht das Niveau direkt wieder an. »Sellerie reif und jung« kombiniert gedämpfte Selleriescheiben und geröstete Selleriesaat mit dem Abrieb einer Sellerieknolle, die für zwölf Monate im Salzteig reifen durfte und dadurch erheblich an Intensität gewonnen hat. Eine Béchamelsauce auf Selleriebasis rundet dieses aus nur einem einzigen Produkt bestehende Gericht ab. Einmal mehr in diesem Menü ist es erstaunlich, welche Bandbreite die Küche einer scheinbar profanen Ausgangssituation entlockt, sowohl aromatisch als auch texturell. Man hat Salzigkeit und Süße, erdige und nussige Aromen, Biss und Geschmeidigkeit. Aus Sellerie, sonst nichts. Sehr stark.

Auch mit dem nächsten Gang bleibt die Küche in der Spur. Das Gericht Suppengrün »Seleskowitz« basiert auf einem Aspik-Rezept der legendären Wiener Kochbuchautorin Louise Seleskowitz. Der Kochprozess zieht sich über drei Tage. Aus Ochsenfleisch, Suppenhuhn, Wildknochen, Schinken und Kalbsfüßen wird eine intensive Brühe gekocht und abschließend mit Madeira, Sherry, Zitrone und Estragon verfeinert. In diesem Fond zieht Suppengemüse – Karotte, Sellerie, Lauch – langsam gar, sodass es sich mit der Umami-Essenz vollsaugt. Auf dem Teller wird das bissfeste Gemüse mit eingekochter Brühe und einer geschwärzten, mit Röstgemüsereduktion glasierten Zwiebel angerichtet. Ein handwerklich meisterhafter Hochgenuss von betörender Schlichtheit.

Beim Hauptgang spielt die Küche mit dem Thema Schweinebraten. Im Mittelpunkt steht allerdings kein Tier, sondern ein in Mandelöl getränkter und gedämpfter Kräuterseitling, dessen fleischiger Biss zusammen mit einer tiefbraun glänzenden Reduktion von geröstetem Knoblauch, Kümmel und Champignons den typischen österreichischen Schweinsbratengeschmack aufgreift, nur eben komplett vegetarisch. Etwas Frische steuern marinierte Triebe von Wurzelgemüse bei. Dieser brutal reduzierte, sämtliche Konventionen unterlaufende Hauptgang könnte manchen Gast provozieren, uns begeistert er, denn er schmeckt großartig.

Das erste Dessert mit den Titel »Omas Apotheke« geht erneut auf eine Kindheitserinnerung des Küchenchefs zurück. Sebastian Franks Oma verabreichte gegen Reizhusten gerne einen aus Fichtensprossen und Kandiszucker hergestellten Sirup (Maiwipferlsirup). Hier nun wird dieses lindernde Elixier mit gebräunter Butter sowie Zitronengranita mit Thymian und Kümmelauszug zu einem duftigen Dessert, das im ersten Moment angenehm erfrischend wirkt, auf Dauer aber vielleicht doch ein bisschen zu sehr nach großmütterlichen Hausmitteln schmeckt.

Erheblich besser funktioniert der zweite Teil des Dessertabschnitts, der die Aromenwelt des ersten Teils aufgreift. Diesmal kombiniert die Küche ein cremiges Baiser von Kümmel und Zitrone mit einem Eis aus Schafsrahmjoghurt und Wacholderöl. Dieses Doppel ruht in einem Auszug von Waldmeister und fruchtigem Chardonnayessig. Das Ätherische des Kümmels und die süßlich-harzigen Noten des Wacholders gehen in die sommerliche Frische von Zitrone und Waldmeister über – ein ganzer Strauß an Wald- und Wiesenaromen, intensiv und sommerlich.

Den Abschluss des Menüs bildet ein ›Horváth‹-Klassiker: die Blut-Praline, serviert in einer transparenten Membran. Zu den wenigen essbaren Dingen, deren Verzehr mich größte Überwindung kostet, gehört Blut (nicht zu verwechseln mit rotem Fleischsaft in fachgerecht gegartem Fleisch). Hier und heute ist der soziale Druck zu hoch, um Nein zu sagen. Die beiden Kollegen feuern an, der Service steht lächelnd im Hintergrund… Also rein damit: das Teil schmeckt schmeichelnd-süß, nur minmal blutig-metallisch und deutlich nach Nussbutter, die Textur erinnert an ein perfekt gearbeitetes Toffee. Das ist so gut, dass wir direkt eine Runde nachbestellen. Wer hätte gedacht, dass der Abend geradezu therapeutisch endet?

Auch (oder gerade?) ohne die Vergleichsmöglichkeit früherer Besuche war dies ein ebenso überraschendes wie beeindruckendes Menü. Sebastian Frank gelingt das Kunststück, persönliche und autobiographische Motive in seine Küche einfließen zu lassen, ohne in Klischees zu verfallen. Dazu sind die Interpretationen viel zu unkonventionell. Vielleicht findet man hier am Paul-Lincke-Ufer sogar die unkonventionellste Küche Berlins. Fraglos ist, dass hier ein Koch konsequent sein Ding macht. Die Kreationen sind zum Teil so speziell und so schlicht, dass sie die Toleranz geschmacksbürgerlicher Vorstellungen im ersten Moment herausfordern dürften. Betonung auf »erster Moment«, denn bis auf wenige Ausreißer schmeckte heute alles hervorragend, von der Gemüsesülze bis zum Ersten Stich. Letzteres war der Besuch heute im ›Horváth‹ sozusagen auch für mich – und bin direkt angefixt.

Kai Mihm

Wein

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